Samstag, 9. Juli 2016

Begegnungen mit einem blutenden Gott oder nur Dekonstruktion? "El Siglo de Oro" in der Gemäldegalerie Berlin

"Ich krieche fast hinein, aus solcher Nähe betrachte ich den am Kreuz hängenden Körper. Er ist von Nägeln durchschlagen, das Handgelenk und der Fußrücken. Rote Farbe ist aufgetragen, das ist das Blut. Auf dem Kopf eine Dornenkrone, auf dem Gesicht Blutstropfen. Ich würde sie abkratzen, doch ich habe Angst, ihn anzufassen. Gottes Sohn, das ist gefährlich."1

Solch eine emotionale Nähe zu Darstellungen des Gekreuzigten, wie sie Peter Esterhazy in seinem letzten Buch beschreibt, wirkt heute nahezu unverständlich – und doch können solche für den religiösen Gebrauch bestimmten Werke sogar im musealen Kontext eine erschreckend-berührende Kraft entfalten, wenn man beispielsweise die Skulptur des gekreuzigten Leichnams Jesu von Gregorio Fernández in der Ausstellung "El Siglo de Oro" in der Gemäldegalerie Berlin betrachtet und umschreitet. Und es gibt gleich eine ganze Reihe solcher Werke in dieser Ausstellung zu sehen.

Kataloge und Absperrungen.
Museumsshop, Gemäldegalerie Berlin, 2016.
Unter der Schirmherrschaft des deutschen Bundespräsidenten und des spanischen Königs stehend, widmet sich die Ausstellung einer Blütezeit der schönen Künste im spanischen Königreich – dem "goldenen Zeitalter" im 17. Jahrhundert.
Gezeigt werden große Namen der Malerei – El Greco, Murillo, Velázquez, Zurbarán – und ihnen wird eine Sammlung beeindruckender Skulpturen zur Seite gestellt, die sich neben den weltbekannten Malern nicht verstecken müssen.

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Was ich zunächst äußerst spannend finde, ist die Frage nach dem Ursprungskontext vieler Werke mit religiösen Bildinhalten, die nun als Kunst angeschaut werden. Sicher waren sie das auch zur Entstehungszeit: herausragende Zeugnisse eines handwerklichen und kreativen Schaffensprozesses, Ausdruck der Genialität Einzelner und ihrer phantasiereichen Verarbeitung religiöser Stoffe.
Dabei dienten die meisten dieser Bilder und Skulpturen ursprünglich religiösen Zwecken. Wer zum Beispiel sieht, wie innig der heilige Franziskus auf einem Bild von Francisco Ribalta sein Gesicht an die Seitenwunde des gekreuzigten Jesus presst, der kann die Sehnsucht nach körperlicher Nähe förmlich spüren – sei es mit Ekel oder mit Bewunderung oder mit einer Mischung aus beidem.
Auch die Statue des Heiligen Ignatius von Loyola, die von Juan Montanez lebensecht und lebensgroß gearbeitet über den BetrachterInnen steht, erweckt mit ihren Glastränen und ihrem intensiven Blick auf das in der Hand gehaltene Kreuz (jedenfalls in mir) die drängende Frage, wie solche Inbrunst und Heftigkeit einen Menschen derart erfassen kann – und wie es mit mir darum steht.
Das war schließlich auch das Ziel der Künstler und ihrer Auftraggeber – persönliches Angesprochensein in eigenen Glaubensfragen und vorbildhafte Wirkung der Heiligen selbst. Gerade die Statue des Ignatius macht das deutlich, denn sie steht auch heute noch in einer Kirche in Sevilla – und ist Teil der künstlerischen Ausstattung.
Gleiches gilt für die überwältigende Kreuztragungsgruppe von Gregorio Fernández, deren Aufbewahrungsort zwar das Museum von Valladolid ist, die zugleich aber auch heute noch an den Karfreitagsprozessionen durch die Stadt getragen wird .
Die Einladung zur Identifizierung des eigenen Leidens mit dem Leiden Jesu und das Abgeben eigener Trauer an den Gott, der selbst gelitten hat, steht im Museum nicht im Zentrum, doch bleibt die Intention, Gottes Zeugen oder seinem Leiden für die Menschen zu begegnen, durchaus greifbar.

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Doch religiös inspirierte Kunst in einem Museum zu erleben ist das eine – in eine kunstwerkferne Enthüllungsmaschinerie hineingedrängt zu werden, das andere.

Dunkel und Licht. Cervantes in "El siglo de Oro".
Gemäldegalerie Berlin, 2016.
In den Begleittexten und dem von Daniel Brühl gesprochenen Audioguide wird nämlich ständig auf diverse Probleme der Zeit, wie beispielsweise Pest und Inzest, Hunger und Krieg und natürlich auch auf kirchliche Missstände hingewiesen – ohne dass dies in den Bildern zwangsläufig zum Ausdruck kommt. Es mag ja sein, dass die spanische Krone von der Vergangenheit zehrte und sich das spanische Zeitalter dem Ende neigte – aber die Kunst blühte eben wie selten in der europäischen Geschichte.
Weder wird in den Bildwerken ständig die real existierende Herrschaftsgestalt glamourös überhöht, noch zeigen die Werke die erlebbare Gebrochenheit in einer tristen Wirklichkeit (oder deuten sie nachvollziehbar an).
Mein Eindruck war, dass mit der Ausstellung eine kritische Gegendarstellung zur gängigen bzw. früheren spanischen Geschichtsschreibung präsentiert werden soll, die die Bilder eher als Kontrastfolie gebraucht.
Und da steckt meiner Ansicht nach ein markantes Problem der Ausstellungskonzeption – die Kunst wird zu etwas anderem "gebraucht". Der Wunsch nach Dekonstruktion von Mythen und bildgewaltiger Vertuschungsarbeit ist einerseits legitim, weil nötig, um falsche Perspektiven zu entlarven, andererseits aber auch langweilig – denn Kunst wird zuvörderst als Vehikel zu politischer Belehrung und historischer Neubewertung begriffen.
Damit geht einher, dass nicht die Kunst im Mittelpunkt steht, sondern lediglich ein pädagogischer Aufklärungswunsch.
Ich frage mich allerdings: Wie steht diese Motivation der Ausstellungsmacher zur Mehrzahl der ausgestellten Werke – und vor allem: wie steht sie zur Motivation der AusstellungsbesucherInnen?

Denn diese sehen – und ich unterstelle, sie wollen in erster Linie sehen – einige einzigartige Werke von Malerei und Bildhauerei, ein überwältigendes Panorama großer Kunst. Das aber scheinen die Ausstellungsmacher irgendwie auch wieder nicht zu wollen, selbst wenn die Werbeprospekte dies verheißen – die bei den BesucherInnen geweckte Vorfreude, das "goldene Zeitalter" glänzen zu sehen, wird durchkreuzt von möglichst viel Informationen zu Intrigen und Abgründen, die mit den Bildern schrecklich wenig zu tun haben.

Ich war also einigermaßen ernüchtert, dass ich in den Begleittexten und dem Kommentar immer wieder weggerissen werden sollte vom Genuss der Kunstwerke und hin in eine distanzierte Haltung, die einem Ausstellungsmacher vielleicht ansteht, die ich mir aber nicht ständig aneignen möchte.
Es bleibt darum ein zwiespältiger Eindruck – einerseits die penetrante Präsentation der Kunst als letzte "Sumpfblüte" einer verrotteten Gesellschaft, andererseits glänzende Werke, auch religiöser Kunst, die mehr verdient hätten als das.

Nur Vanitas? Apfelrest auf dem Forum der Kultur, Kulturforum Berlin, 2016.

1   P. Esterházy, Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten. München 2016, 37.