"Ich krieche fast hinein, aus
solcher Nähe betrachte ich den am Kreuz hängenden Körper. Er ist
von Nägeln durchschlagen, das Handgelenk und der Fußrücken. Rote
Farbe ist aufgetragen, das ist das Blut. Auf dem Kopf eine
Dornenkrone, auf dem Gesicht Blutstropfen. Ich würde sie abkratzen,
doch ich habe Angst, ihn anzufassen. Gottes Sohn, das ist
gefährlich."1
Solch eine emotionale Nähe zu
Darstellungen des Gekreuzigten, wie sie Peter Esterhazy in seinem
letzten Buch beschreibt, wirkt heute nahezu unverständlich – und
doch können solche für den religiösen Gebrauch bestimmten Werke
sogar im musealen Kontext eine erschreckend-berührende Kraft
entfalten, wenn man beispielsweise die Skulptur des gekreuzigten
Leichnams Jesu von Gregorio Fernández
in der Ausstellung "El Siglo de Oro" in der Gemäldegalerie
Berlin betrachtet und umschreitet. Und es gibt gleich eine ganze
Reihe solcher Werke in dieser Ausstellung zu sehen.
Kataloge und Absperrungen. Museumsshop, Gemäldegalerie Berlin, 2016. |
Unter der Schirmherrschaft des
deutschen Bundespräsidenten und des spanischen Königs stehend,
widmet sich die Ausstellung einer Blütezeit der schönen Künste im
spanischen Königreich – dem "goldenen Zeitalter" im 17.
Jahrhundert.
Gezeigt werden große Namen der Malerei
– El Greco, Murillo, Velázquez, Zurbarán – und ihnen wird eine
Sammlung beeindruckender Skulpturen zur Seite gestellt, die sich
neben den weltbekannten Malern nicht verstecken müssen.
1
Was ich zunächst äußerst spannend
finde, ist die Frage nach dem Ursprungskontext vieler Werke mit
religiösen Bildinhalten, die nun als Kunst angeschaut werden. Sicher
waren sie das auch zur Entstehungszeit: herausragende Zeugnisse eines
handwerklichen und kreativen Schaffensprozesses, Ausdruck der
Genialität Einzelner und ihrer phantasiereichen Verarbeitung
religiöser Stoffe.
Dabei dienten die meisten dieser Bilder
und Skulpturen ursprünglich religiösen Zwecken. Wer zum Beispiel
sieht, wie innig der heilige Franziskus auf einem Bild von Francisco Ribalta
sein Gesicht an die Seitenwunde des gekreuzigten Jesus presst, der
kann die Sehnsucht nach körperlicher Nähe förmlich spüren – sei
es mit Ekel oder mit Bewunderung oder mit einer Mischung aus beidem.
Auch die Statue des Heiligen Ignatius von Loyola, die von Juan Montanez lebensecht und lebensgroß gearbeitet über
den BetrachterInnen steht, erweckt mit ihren Glastränen und ihrem
intensiven Blick auf das in der Hand gehaltene Kreuz (jedenfalls in
mir) die drängende Frage, wie solche Inbrunst und Heftigkeit einen
Menschen derart erfassen kann – und wie es mit mir darum steht.
Das war schließlich auch das Ziel der
Künstler und ihrer Auftraggeber – persönliches Angesprochensein
in eigenen Glaubensfragen und vorbildhafte Wirkung der Heiligen
selbst. Gerade die Statue des Ignatius macht das deutlich, denn sie
steht auch heute noch in einer Kirche in Sevilla – und ist Teil der
künstlerischen Ausstattung.
Gleiches gilt für die überwältigende
Kreuztragungsgruppe von Gregorio Fernández, deren Aufbewahrungsort zwar das Museum von Valladolid ist, die
zugleich aber auch heute noch an den Karfreitagsprozessionen durch
die Stadt getragen wird .
Die Einladung zur Identifizierung des
eigenen Leidens mit dem Leiden Jesu und das Abgeben eigener Trauer an
den Gott, der selbst gelitten hat, steht im Museum nicht im Zentrum,
doch bleibt die Intention, Gottes Zeugen oder seinem Leiden für die
Menschen zu begegnen, durchaus greifbar.
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Doch religiös inspirierte Kunst in
einem Museum zu erleben ist das eine – in eine kunstwerkferne
Enthüllungsmaschinerie hineingedrängt zu werden, das andere.
Dunkel und Licht. Cervantes in "El siglo de Oro". Gemäldegalerie Berlin, 2016. |
In den Begleittexten und dem von Daniel
Brühl gesprochenen Audioguide wird nämlich ständig auf diverse
Probleme der Zeit, wie beispielsweise Pest und Inzest, Hunger und
Krieg und natürlich auch auf kirchliche Missstände hingewiesen –
ohne dass dies in den Bildern zwangsläufig zum Ausdruck kommt. Es
mag ja sein, dass die spanische Krone von der Vergangenheit zehrte
und sich das spanische Zeitalter dem Ende neigte – aber die Kunst
blühte eben wie selten in der europäischen Geschichte.
Weder wird in den Bildwerken ständig
die real existierende Herrschaftsgestalt glamourös überhöht, noch
zeigen die Werke die erlebbare Gebrochenheit in einer tristen
Wirklichkeit (oder deuten sie nachvollziehbar an).
Mein Eindruck war, dass mit der
Ausstellung eine kritische Gegendarstellung zur gängigen bzw.
früheren spanischen Geschichtsschreibung präsentiert werden soll,
die die Bilder eher als Kontrastfolie gebraucht.
Und da steckt meiner Ansicht nach ein
markantes Problem der Ausstellungskonzeption – die Kunst wird zu
etwas anderem "gebraucht". Der Wunsch nach Dekonstruktion
von Mythen und bildgewaltiger Vertuschungsarbeit ist einerseits
legitim, weil nötig, um falsche Perspektiven zu entlarven,
andererseits aber auch langweilig – denn Kunst wird zuvörderst als
Vehikel zu politischer Belehrung und historischer Neubewertung
begriffen.
Damit geht einher, dass nicht die Kunst
im Mittelpunkt steht, sondern lediglich ein pädagogischer
Aufklärungswunsch.
Ich frage mich allerdings: Wie steht
diese Motivation der Ausstellungsmacher zur Mehrzahl der
ausgestellten Werke – und vor allem: wie steht sie zur Motivation
der AusstellungsbesucherInnen?
Denn diese sehen – und ich
unterstelle, sie wollen in erster Linie sehen – einige einzigartige
Werke von Malerei und Bildhauerei, ein überwältigendes Panorama
großer Kunst. Das aber scheinen die Ausstellungsmacher irgendwie
auch wieder nicht zu wollen, selbst wenn die Werbeprospekte dies
verheißen – die bei den BesucherInnen geweckte Vorfreude, das
"goldene Zeitalter" glänzen zu sehen, wird durchkreuzt von
möglichst viel Informationen zu Intrigen und Abgründen, die mit den
Bildern schrecklich wenig zu tun haben.
Ich war also einigermaßen ernüchtert,
dass ich in den Begleittexten und dem Kommentar immer wieder
weggerissen werden sollte vom Genuss der Kunstwerke und hin in eine
distanzierte Haltung, die einem Ausstellungsmacher vielleicht
ansteht, die ich mir aber nicht ständig aneignen möchte.
Es bleibt darum ein zwiespältiger
Eindruck – einerseits die penetrante Präsentation der Kunst als
letzte "Sumpfblüte" einer verrotteten Gesellschaft,
andererseits glänzende Werke, auch religiöser Kunst, die mehr
verdient hätten als das.
Nur Vanitas? Apfelrest auf dem Forum der Kultur, Kulturforum Berlin, 2016. |
1 P.
Esterházy, Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma hundert
Seiten. München 2016, 37.