Samstag, 2. April 2016

Zwischen Erfahrung und Vertrauen: Mit William James und Charles Taylor zum Apostel Thomas

Dem Apostel Thomas geht es im Evangelium nach dem Osterfest so wie uns – auch wir haben Jesus nicht selbst gesehen und müssen uns darauf verlassen, dass trotzdem wahr ist, was uns da erzählt wird über seine Auferstehung.
Und doch gibt es oftmals den Wunsch,religiöse Wahrheiten selber tief und existenziell zu erfahren. Religiöse Erfahrung als Bestätigung des Überlieferten, die Wirkung des göttlichen Geistes oder die Gnade Gottes spürbar erleben und sich nicht nur auf das trockene Wort verlassen müssen. 
Da spiegelt sich der Titel des Blogs – hartes Brot des Vertrauens und Glanz des eigenen Erlebens stehen neben- und manchmal auch gegeneinander.

Dabei ist gegen ursprüngliches religiöses Erleben nichts zu sagen – auch die Erstzeugen hatten schließlich ihre ganz persönlichen eigenen Erfahrungen, aus denen heraus sie dann erzählen und bezeugen konnten. Nur ist diese Erfahrung eben nicht jedermann gegeben.
Der Psychologe und Philosoph William James beispielsweise "sieht Religion in erster Linie als etwas, was Individuen erfahren. Er macht eine Unterscheidung zwischen lebendiger religiöser Erfahrung, die eine individuelle Erfahrung ist, und dem religiösen Leben, das davon abgeleitet ist, weil es unter der Regie einer Religionsgemeinschaft oder Kirche stattfindet."1

Selbst hinein. Waren / Müritz, 2016.
 Für alle in solchen Gemeinschaften Religion ausübenden Menschen bedeutet dies nach James, "aus zweiter Hand zu leben. Bei der Weitervermittlung geht die Kraft und Intensität der Ursprungserfahrung meistenteils verloren, bis alles, was übrig bleibt, 'dumpfe Gewohnheit' ist."2
Es scheint, als ginge es Thomas genau so. Er will die religiöse Erfahrung aus erster Hand haben und dann eben glaubwürdig und erfahrungsgesättigt vom göttlichen Glanz sein.

Doch was bedeutet das für die Religionsausübung? In der westlichen Geistesgeschichte, so beschreibt es der kanadische Philosoph Charles Taylor, führt die Konzentration auf individuelle Erfahrung als eigentliche religiöse Praxis schließlich auch zur "Ansicht, daß man mit einer Religion brechen sollte, wenn man Schwierigkeiten mit einigen ihrer Glaubenssätze hat."3
Sicher eine Vorstellung, die nicht wenigen Menschen vertraut ist: Wovon ich nicht (mehr) überzeugt bin und womit ich mich nicht (mehr) vollkommen identifizieren kann, das lehne ich ab. Auf Thomas zurückgewendet: Wo ich mich aber persönlich identifizieren will, dort muss ich auch persönlich erfahren sein und auf relevante persönliche Erlebnisse zurückgreifen können.

Dem jedoch steht gegenüber eine andere Form religiösen Lebens, eines Lebens, das schon im Ursprung ein religiös vermitteltes ist. Charles Taylor kommentiert James: "Was hier nicht vorkommt, ist die Art und Weise, in der das, was man die religiöse Beziehung nennen könnte, die Verbindung zwischen dem Gläubigen und dem Göttlichen (oder was auch immer), ganz wesentlich von dem körperschaftlichen, kirchlichen Leben vermittelt sein könnte. ... Wir sind beispielsweise dazu aufgefordert, in brüderlicher Liebe zusammenzuleben und solche Liebe als eine Gemeinschaft nach außen wirken zu lassen. Dann ist der Ort der Beziehung zu Gott (auch) durch die Gemeinschaft gegeben und nicht einfach bloß im Individuum."4

Dann wäre für Menschen wie Thomas, also für jene, die keine originale eigene Gotteserfahrung haben (und vielleicht ist das der Großteil der heute lebenden Christen, wenigstens in unseren Breiten), der Ort ihres Bei-Gott-Seins die Gemeinschaft derer, die das lebendige Zeugnis leben oder es durch Verkündigung in Gottesdiensten oder sonstwo hören. Wenn es keine umwerfende religiöse Erfahrung gibt, dann wird das Vertrauen in jene, die aus dieser Erfahrung leben und (bildlich gesprochen) die Flammen des Gottesfeuers an alle anderen weitergeben, ihr Ort sein.
Die Schrift und die Tradition nennen dieses Vertrauen in die Zeugen: Glauben. 
Und der ist keine abgeleitete Gottesbegegnung aus zweiter Hand, sondern unser Weg mit Ihm.

Zugleich aber, und dies darf am Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit im Jahr der Barmherzigkeit nicht unerwähnt bleiben, sollte man sich vor Augen führen, dass sich Jesus dem Thomas eben auch zu erfahren gibt und Thomas nicht "ungläubig" mit dem Zeugnis der anderen Apostel leben muss.

Brot und Glanz – Vertrauenmüssen und Erfahrendürfen – kommen immer wieder zusammen, denn der barmherzige Gott überlässt seine Menschen nicht nur anderen Menschen, die aus ihrer Erfahrung heraus recht und schlecht auf ihn hinweisen mögen, sondern er schenkt auch heute immer wieder die Erfahrung seiner selbst.

So müssen wir einerseits nicht unter dem Druck leben, alles (und so auch Gott) immer selbst erfahren zu müssen, wir stehen aber andererseits auch nicht unter dem Urteil, dass Gott uns mit unserem vielleicht allzu kleinen Vertrauen auf die Gemeinschaft der Kirche allein lässt.
In der sonntäglichen Liturgie jedenfalls bietet sich beides: Das Zeugnis, dem wir vertrauen können und die Möglichkeit der leibhaftgen Begegnung in Brot und Wein, wenngleich ebenfalls unter dem Maß unseres Glaubens an Gottes lebendige Gegenwart in diesen Zeichen.

Blüte aus erster Hand. Rixdorf, Berlin, 2015.

1   C. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2002, 11.
2   Ebd.
3   Ebd., 19.
4   Ebd., 27.