Der Blick in das zweite Kapitel des
päpstlichen Schreibens bietet einen Rundumschlag über die
"Wirklichkeit und die Herausforderungen"
(Kapitelüberschrift, AL 311)
der Familie. [Hier Gedanken zum ersten Kapitel] Die Welt, in der Familien heute leben, soll
wahrgenommen und reflektiert werden – nicht nur gesellschaftliche,
sondern auch kirchliche Lichtblicke und Dunkelheiten kommen dabei in
den Fokus und bieten spannende Verschiebungen zu bisherigen Äußerungen der Päpste zu diesen Themen.
Wie in kirchlichen Dokumenten der
letzten Jahre und Jahrzehnte gewohnt, übt der Papst zunächst Kritik
an diversen gesellschaftlichen Symptomen wie Individualismus und
Hedonismus. Er nennt aber auch "den heutigen Lebensrhythmus,
den Stress, die Gesellschaftsstruktur und die Arbeitsorganisation"
(AL 33) sowie einen teilweise anzutreffenden "Narzissmus".
(AL 39) Unter häufigem Rückgriff auf die synodalen
(Abschluss)Dokumente2
weist er zudem auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Formen der Abwertung und Geringschätzung von Ehe und Familie hin,
ohne allerdings genauere Beispiele zu nennen. Später kommen als
konkrete Gefährdungsräume der familiären Wirklichkeit u.a. Gewalt
gegen Kinder (AL 45), Behinderung (AL 46), Migration und Flucht (AL
47), Alter (AL 48), Armut (AL 49) und Süchte (AL 51) hinzu.
2 Mehrdeutigkeiten
Bemerkenswert finde ich die
differenzierte Herangehensweise des Papstes bei zwei Grundworten der
Moderne: Authentizität und Freiheit. Die Ambivalenz des Strebens
nach diesen zumeist als Individualwerten empfundenen Größen hebt er
deutlich hervor, indem er auf ihr je persönliches Ziel als zentrales
Kriterium hinweist und klarmacht, dass authentisches bzw. freies
Leben keinen absoluten Wert in sich hat, sondern in Relation zu
anderen Werten und eben zum jeweils angestrebten Ziel steht.
Zur Authentizität heißt es: "Das
ist ein Wert, der die unterschiedlichen Fähigkeiten und die
Spontaneität fördern kann, aber wenn er schlecht ausgerichtet ist,
auch Haltungen ständigen Argwohns, der Flucht vor Verbindlichkeiten,
des Sich-Verschließens in die Bequemlichkeit und der Arroganz
hervorbringen kann." (AL 33)
Die Freiheit dagegen ist es, die
"erlaubt, das eigene Leben zu planen und die persönlichen
Stärken zu entfalten, doch wenn dieser Freiheit die edlen Ziele
fehlen und sie nicht mit persönlicher Disziplin verbunden ist,
verkommt sie zu einer Unfähigkeit, sich großherzig hinzugeben."
(AL 33)
Authentizitätsstreben und
Freiheitsdrang sollen im Familienleben gefördert werden, damit sich
gerade die "Stärken" und "Fähigkeiten"
entwickeln können.
Zugleich aber können beide enggeführt
im Blick auf Ehe und Familie fatale Wirkungen haben und deren
Fundamente zerstören:
"In diesem Kontext wird das
Ideal der Ehe mit ihrer durch Ausschließlichkeit und Beständigkeit
charakterisierten Verbindlichkeit schließlich ausgelöscht durch die
umstandsbedingten Zweckmäßigkeiten oder durch die Launen der
inneren Regungen." (AL 34)
Klar benennt der Papst das oft
empfundene Dilemma, zwischen drohender Einsamkeit ohne familäre
Bindungen und ungewollter Enge in einer Familie eingeklemmt zu sein
und als
Hauptwunsch nur ja nicht "das
Erreichen der persönlichen Bestrebungen zurückstellen" (AL 34) zu
müssen.
Wie seine Vorgänger sieht er die
Kirche darum in der Pflicht, gerade jene Werte zu fördern, die
gesellschaftlich vielleicht nicht allgemein anerkannt werden, und
mehr noch als bisher in positiver Weise "Gründe und
Motivationen aufzuzeigen" (AL 35), die für die Familie
sprechen.
An diesem positiv-gewinnend
formulierten Punkt schließt sich überraschender- und gerade deshalb
sinnvollerweise eine kirchliche Selbstkritik an. Der oftmals
autoritär auftretenden Kirche ist es nach Franziskus nicht immer
gelungen, zentrale Werte der Ehe und Familie zum Leuchten zu bringen
– und hat so selbst "manchmal dazu
beigetragen ..., das zu provozieren, was wir heute beklagen."
(AL 36)
Das ist ein erstaunlicher Gegensatz zu
gängiger kirchlicher Rede, die die Schuld am eigenen Niedergang in
vielen säkularisierten westlichen Ländern eher bei anderen sieht.
Ich rechne es Papst Franziskus hoch an, dass er hier klar und
selbstkritisch spricht.
Doch er geht noch weiter, wenn er
beklagt, dass das eigentliche Ziel der Ehe "– nämlich die
Berufung, in der Liebe zu wachsen, und das Ideal der gegenseitigen
Hilfe – überlagert wurde durch eine fast ausschließliche Betonung
der Aufgabe der Fortpflanzung." (36)
Daran anschließend setzt er nach und
betont den unterbetonten positiven Prozesscharakter der Ehe:
"Wir haben Schwierigkeiten, die
Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und
Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das
ganze Leben lang zu tragen ist." (AL 37)
Mit einem Rückblick auf das oben zum
Streben nach Authentizität Gesagte kann klarer werden, was gemeint
ist, da die Ehe an dieser Stelle als Möglichkeit, sich selbst (als
PartnerIn und Elternteil) zu verwirklichen, angesehen wird.
Zuletzt bietet der Papst eine
eindeutige Selbstbeschränkung kirchlichen Handelns gegenüber den
Menschen in den Familien:
"Wir tun uns ebenfalls schwer,
dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer
Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium
entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts
von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata
auseinanderbrechen.
Wir sind berufen, die Gewissen zu
bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen."
(AL 37)
Dieser inzwischen schon viel zitierte
letzte Satz möchte Entscheidungsräume für die Gläubigen eröffnen
– gerade in außergewöhnlichen Situationen. Er soll ein stärker
selbstbestimmtes Handeln in familiären Grenzsituationen nach einem
gebildeten Gewissen ermöglichen und hat damit, ebenso wie der
gesamte Duktus dieser Passage, eher die Ressourcen, weniger die
Defizite im Blick.
Auf diese Weise wird das Gewissen der
Einzelnen nicht übersprungen, sondern gerade gefördert, indem die
Kirche sich in demütiger Zurückhaltung übt.
Demgemäß fasst der Papst zusammen,
dass die Kirche berufen ist, "Wege des Glücks aufzuzeigen"
(AL 38) und "die innersten Fasern der jungen Menschen zum
Schwingen zu bringen, dort, wo sie am fähigsten sind zu
Großherzigkeit, Engagement, Liebe und sogar zu Heldentum, um sie
einzuladen, mit Begeisterung und Mut die Herausforderung der Ehe
anzunehmen." (AL 40)
Mit diesem positiven Pathos möchte ich
hier enden – auch wenn das Kapitel mit den Themen Gender (AL 56),
Frauenrechten (AL 54) und Fragen homosexueller Partnerschaften (52)
noch einiges mehr an Gesprächs- und Konfliktstoff bietet.
Aber bevor ich dazu eventuell äußere,
möchte ich doch erst das gesamte Dokument gelesen haben...
Blick nach oben. Ehemalige Kindl-Brauerei, Neukölln, Berlin, 2016. |
1 Papst
Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris Laetitia,
Vatikan 2016. Zu finden unter:
http://w2.vatican.va/content/dam/francesco/pdf/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia_ge.pdf.
2 III.
Ausserordentliche
Generalversammlung der Bischofssynode,
Relatio Synodi (18.
Oktober 2014) und XIV. Ordentliche
Generalversammlung der Bischofssynode,
Relatio finalis (24.
Oktober 2015). Zu finden unter:
http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2014/2014-10-18_Relatio-Synodi-deutsch.pdf
und
http://www.dbk-shop.de/media/files_public/eyedvdscyty/DBK_5276.pdf