Freitag, 15. April 2016

Amoris Laetitia 2 – Selbstkritik und Selbstbeschränkung der Kirche

Der Blick in das zweite Kapitel des päpstlichen Schreibens bietet einen Rundumschlag über die "Wirklichkeit und die Herausforderungen" (Kapitelüberschrift, AL 311) der Familie. [Hier Gedanken zum ersten Kapitel] Die Welt, in der Familien heute leben, soll wahrgenommen und reflektiert werden – nicht nur gesellschaftliche, sondern auch kirchliche Lichtblicke und Dunkelheiten kommen dabei in den Fokus und bieten spannende Verschiebungen zu bisherigen Äußerungen der Päpste zu diesen Themen.

Die richtigen Perspektiven auf die richtigen Schrauben.
Sportplatz, Grünheide, 2016.
1 Kritik
Wie in kirchlichen Dokumenten der letzten Jahre und Jahrzehnte gewohnt, übt der Papst zunächst Kritik an diversen gesellschaftlichen Symptomen wie Individualismus und Hedonismus. Er nennt aber auch "den heutigen Lebensrhythmus, den Stress, die Gesellschaftsstruktur und die Arbeitsorganisation" (AL 33) sowie einen teilweise anzutreffenden "Narzissmus". (AL 39) Unter häufigem Rückgriff auf die synodalen (Abschluss)Dokumente2 weist er zudem auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen der Abwertung und Geringschätzung von Ehe und Familie hin, ohne allerdings genauere Beispiele zu nennen. Später kommen als konkrete Gefährdungsräume der familiären Wirklichkeit u.a. Gewalt gegen Kinder (AL 45), Behinderung (AL 46), Migration und Flucht (AL 47), Alter (AL 48), Armut (AL 49) und Süchte (AL 51) hinzu.

2 Mehrdeutigkeiten
Bemerkenswert finde ich die differenzierte Herangehensweise des Papstes bei zwei Grundworten der Moderne: Authentizität und Freiheit. Die Ambivalenz des Strebens nach diesen zumeist als Individualwerten empfundenen Größen hebt er deutlich hervor, indem er auf ihr je persönliches Ziel als zentrales Kriterium hinweist und klarmacht, dass authentisches bzw. freies Leben keinen absoluten Wert in sich hat, sondern in Relation zu anderen Werten und eben zum jeweils angestrebten Ziel steht.
Zur Authentizität heißt es: "Das ist ein Wert, der die unterschiedlichen Fähigkeiten und die Spontaneität fördern kann, aber wenn er schlecht ausgerichtet ist, auch Haltungen ständigen Argwohns, der Flucht vor Verbindlichkeiten, des Sich-Verschließens in die Bequemlichkeit und der Arroganz hervorbringen kann." (AL 33)
Die Freiheit dagegen ist es, die "erlaubt, das eigene Leben zu planen und die persönlichen Stärken zu entfalten, doch wenn dieser Freiheit die edlen Ziele fehlen und sie nicht mit persönlicher Disziplin verbunden ist, verkommt sie zu einer Unfähigkeit, sich großherzig hinzugeben." (AL 33)

Authentizitätsstreben und Freiheitsdrang sollen im Familienleben gefördert werden, damit sich gerade die "Stärken" und "Fähigkeiten" entwickeln können.
Zugleich aber können beide enggeführt im Blick auf Ehe und Familie fatale Wirkungen haben und deren Fundamente zerstören:
"In diesem Kontext wird das Ideal der Ehe mit ihrer durch Ausschließlichkeit und Beständigkeit charakterisierten Verbindlichkeit schließlich ausgelöscht durch die umstandsbedingten Zweckmäßigkeiten oder durch die Launen der inneren Regungen." (AL 34)
Klar benennt der Papst das oft empfundene Dilemma, zwischen drohender Einsamkeit ohne familäre Bindungen und ungewollter Enge in einer Familie eingeklemmt zu sein und als
Hauptwunsch nur ja nicht "das Erreichen der persönlichen Bestrebungen zurückstellen" (AL 34) zu müssen.

Wie seine Vorgänger sieht er die Kirche darum in der Pflicht, gerade jene Werte zu fördern, die gesellschaftlich vielleicht nicht allgemein anerkannt werden, und mehr noch als bisher in positiver Weise "Gründe und Motivationen aufzuzeigen" (AL 35), die für die Familie sprechen.

Blickverdunkelungen fordern Selbstkritik.
Kleinbrembach, 2015.
3 Selbstkritik
An diesem positiv-gewinnend formulierten Punkt schließt sich überraschender- und gerade deshalb sinnvollerweise eine kirchliche Selbstkritik an. Der oftmals autoritär auftretenden Kirche ist es nach Franziskus nicht immer gelungen, zentrale Werte der Ehe und Familie zum Leuchten zu bringen – und hat so selbst "manchmal dazu beigetragen ..., das zu provozieren, was wir heute beklagen." (AL 36)
Das ist ein erstaunlicher Gegensatz zu gängiger kirchlicher Rede, die die Schuld am eigenen Niedergang in vielen säkularisierten westlichen Ländern eher bei anderen sieht. Ich rechne es Papst Franziskus hoch an, dass er hier klar und selbstkritisch spricht.
Doch er geht noch weiter, wenn er beklagt, dass das eigentliche Ziel der Ehe "– nämlich die Berufung, in der Liebe zu wachsen, und das Ideal der gegenseitigen Hilfe – überlagert wurde durch eine fast ausschließliche Betonung der Aufgabe der Fortpflanzung." (36)

Daran anschließend setzt er nach und betont den unterbetonten positiven Prozesscharakter der Ehe:
"Wir haben Schwierigkeiten, die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist." (AL 37)
Mit einem Rückblick auf das oben zum Streben nach Authentizität Gesagte kann klarer werden, was gemeint ist, da die Ehe an dieser Stelle als Möglichkeit, sich selbst (als PartnerIn und Elternteil) zu verwirklichen, angesehen wird.

Zuletzt bietet der Papst eine eindeutige Selbstbeschränkung kirchlichen Handelns gegenüber den Menschen in den Familien:
"Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen.
Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen." (AL 37)

Dieser inzwischen schon viel zitierte letzte Satz möchte Entscheidungsräume für die Gläubigen eröffnen – gerade in außergewöhnlichen Situationen. Er soll ein stärker selbstbestimmtes Handeln in familiären Grenzsituationen nach einem gebildeten Gewissen ermöglichen und hat damit, ebenso wie der gesamte Duktus dieser Passage, eher die Ressourcen, weniger die Defizite im Blick.
Auf diese Weise wird das Gewissen der Einzelnen nicht übersprungen, sondern gerade gefördert, indem die Kirche sich in demütiger Zurückhaltung übt.

Demgemäß fasst der Papst zusammen, dass die Kirche berufen ist, "Wege des Glücks aufzuzeigen" (AL 38) und "die innersten Fasern der jungen Menschen zum Schwingen zu bringen, dort, wo sie am fähigsten sind zu Großherzigkeit, Engagement, Liebe und sogar zu Heldentum, um sie einzuladen, mit Begeisterung und Mut die Herausforderung der Ehe anzunehmen." (AL 40)

Mit diesem positiven Pathos möchte ich hier enden – auch wenn das Kapitel mit den Themen Gender (AL 56), Frauenrechten (AL 54) und Fragen homosexueller Partnerschaften (52) noch einiges mehr an Gesprächs- und Konfliktstoff bietet.
Aber bevor ich dazu eventuell äußere, möchte ich doch erst das gesamte Dokument gelesen haben...

Blick nach oben. Ehemalige Kindl-Brauerei, Neukölln, Berlin, 2016.


1   Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris Laetitia, Vatikan 2016. Zu finden unter: http://w2.vatican.va/content/dam/francesco/pdf/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia_ge.pdf.
2   III. Ausserordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, Relatio Synodi (18. Oktober 2014) und XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, Relatio finalis (24. Oktober 2015). Zu finden unter: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2014/2014-10-18_Relatio-Synodi-deutsch.pdf und http://www.dbk-shop.de/media/files_public/eyedvdscyty/DBK_5276.pdf