Sonntag, 24. April 2016

Treue gegenüber Koran und Grundgesetz – Gedanken über den Islam in Deutschland

Der Mann spricht mir aus dem Herzen!
Dass Kardinal Wölki sich in seinem heutigen "Wort des Bischofs" so eindeutig zur Religionsfreiheit geäußert, zur Gleichberechtigung der verschiedenen Religionen vor dem Recht bekannt und von den Diffamierungen der AfD distanziert hat, ist ihm hoch anzurechnen: "Wer 'Ja' zu Kirchtürmen sagt, der muss auch 'Ja' sagen zum Minarett."
Man muss den Islam noch nicht einmal mögen, um das zu sagen, man muss einfach nur dem Grundgesetz folgen.

Wenn man sich mit der durch die AfD nun einmal herbeigepöbelten Debatte ernsthafter und tiefer auseinandersetzen will, lohnt ein Blick in das 2009 erstmals erschienene wunderbare Buch "Wer ist wir"1 von Navid Kermani über "Deutschland und seine Muslime". Als in Deutschland geborener Sohn iranischer Einwanderer hat der Autor aus eigenem Erleben mit den Fragen von Identität, Fremdzuschreibungen und Minderheitenstatus zu tun – und reflektiert dies als gläubiger Muslim, Korankenner und Einheimischer in der deutschen Hochkultur.
Im genannten Buch benennt er eine Reihe heute hochaktueller Punkte, die ein sachlich-differenziertes Gegengewicht zu sonst oft zu hörenden Allgemeinplätzen bieten – und von denen ich einige aus genau diesem Grund hier referieren will.

1
Typischer Kirchbau? Königsmünster, 2015.
Ein erster wichtiger Punkt ist, dass nicht jegliches Verhalten und Denken eines Menschen mit seiner Religion zu tun hat und eine gläubige Person darum nicht auf ihre Religion reduziert werden kann. Kermani schreibt: "Ich bin Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz 'Ich bin Muslim' wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert werde. Deshalb stört es mich auch, daß die gesamte Integrationsdebatte sich häufig auf ein Für und Wider des Islam reduziert – als ob die Einwanderer nichts anderes seien als Muslime."2
Die Schematisierung und Reduzierung einer Person auf einzelne Aspekte ihrer Identität verkennt viele andere gewichtige Persönlichkeitsbausteine.
Ähnlich äußert sich übrigens die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor bei ihrer Bewertung der Gründe für sexuelle Übergriffe junger Männer aus patriarchalisch geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens oder Nordafrikas. Differenzierend stellt sie fest, dass Religion natürlich einen Einfluss auf Erziehung und Wertegenerierung hat: "Also beziehen wir die Religion mit ein in die Problemanalyse, aber erklären wir sie nicht einfach als allein ausschlaggebend für das Verhalten von Männern."
Genauso weist Kermani darauf hin, dass Bildung und soziale Herkunft eine mindestens ebenso große Rolle für die Verhaltensweisen muslimischer Einwanderer spielen wie ihre Religion: "Ich behaupte nicht, dass es keine kulturellen Konflikte gibt, aber ich meine, daß die größere Bruchstelle ... weiterhin die ökonomische ist".3
Diese These kann man für falsch halten – aber die Tatsache mehrerer prägender Einflüsse auf einen Menschen abzustreiten, wie es (mindestens implizit) bisweilen geschieht, ist naiv bis verantwortungslos.


2
Zweitens wehrt Kermani sich gegen die mentale Ausgrenzung der Muslime aus dem Diskurs der westlichen Welt – mit der rhetorischen Gegenüberstellung von Europa und Islam wird ja suggeriert, dass beides nicht zusammenginge. Dabei sind Muslime ja sowieso schon Teil unserer Gesellschaften und verteten auch als gläubige Menschen durchaus die Werte des "Westens".
Der in der öffentlichen Debatte aufgebaute Druck, dass Migranten sich vemeintlicherweise entscheiden müssten, ob sie nun fromme Muslime oder gesetzeskonforme europäische Staatsbürger sein wollen, ist schon ein falscher Denkansatz in der aufpeitschenden Debatte: "Jetzt sind sie gezwungen, darüber nachzudenken, zu welchem 'Wir' sie gehören. Sie sind in eine Entscheidung gezwungen: Gehörst du zu uns, kannst du nicht zu denen gehören. Die wenigsten Migranten der zweiten oder dritten Generation scheinen diesen Schritt mitzumachen. Sie sehen kritisch, was im Namen des Islams geschieht. Aber sie können nicht einfach die Seiten wechseln. Zur Entscheidung gezwungen, entscheiden sich immer mehr Muslime – aus meiner Sicht – falsch: allein dadurch, daß sie sich für eine Seite entscheiden."4
An der Tatsache, dass es nicht nur Parallelgesellschaften und arabische Clans gibt, sondern auch eine Menge gebildeter und "deutsch" kulturierter Muslime, die selbstverständlich beides – fromm und grundgesetztreu – sind, scheinen rechte Krawallmacher nur vorbeischauen zu können.

3
Damit hängt elementar zusammen, dass – und jetzt kommt ein entscheidender Punkt – die Religion, um die es geht, nicht das ist, für das sie uns oft genug verkauft wird. Denn was ist der Islam denn? Kermani pointiert: "Der Islam lebt wie jede andere Religion gerade in dem Spannungverhältnis zwischen den Texten und ihren Lesern."5

Orientalische Einflüsse? Berlin-Mitte, 2016.
Zu glauben, dass wir anhand einzelner Koranzitate eine wirkliche Kenntnis des Korans und damit des Islams erlangen könnten, ist eigentlich eine lächerliche Vorstellung. Allerdings gibt es immer wieder Menschen, die augenscheinlich glauben, mit dem wortwörtlichen Verständnis von aus dem Zusammenhang gerissenen Passagen des Korans dessen Lächerlichkeit oder Gewalttätigkeit beweisen zu können. Mit Recht schreibt Mouhanad Khorchide, Münsteraner Professor für Islamische Religionspädagogik, im aktuellen Cicero-Magazin den derart argumentierenden Islamkritikern den gleichen Zugang zum Koran und zum Verständnis des Islams zu wie islamistischen Fundamentalisten. Aus einem jeweils ähnlich verengten Gottesbild heraus wollen sie begründen "dass jede Abweichung vom Wortlaut des Korans eine Verfälschung des Korans und somit einen Akt der Häresie darstellt. Daher erlauben sie sich, einzelne Koranstellen herauszunehmen, um damit die eine oder andere Behauptung über den Islam zu begründen."

Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der eine Mehrzahl von Muslimen in einem säkularen Staat ihren Glauben leben kann und angesichts der Anziehungskraft, die Europa und Deutschland auf Menschen mit muslimischem Glauben entfaltet, sind diese ideologisierenden Verzerrungen bei den einen wie den anderen zum Glück nur eine Randerscheinung.

Als christlicher Theologe wehre ich mich ja genauso dagegen, wenn aus den Basistexten meiner Religion einzelne Sätze herausgegriffen und kontextlos als Inbegriff meines Glaubens präsentiert werden. Zugleich muss ich mich abgrenzen von Menschen, die im Namen ihres christlichen Glaubens Ärzte aus Abtreibungskliniken bedrohen, andere Religionen beschimpfen oder sich sonstwie daneben benehmen.
Es gibt in der Realität eine oftmals heilsame Pluralität von Deutungen jeder Religion, die legitim sind – oder auch nicht. Das Christentum hat in seiner wechselvollen Geschichte leidvoll erfahren, dass der Schritt von Verfolgten zum Verfolger, vom Leidenden zum Aggressor oft nur ein sehr kleiner war.

Wir sollten Muslime in Europa darum ermutigen, den barmherzigen und toleranten Seiten ihrer Religion den Vorzug zu geben und als Bereicherung in unsere Gesellschaften einzubringen, anstatt sie durch Anfeindungen in die Enge zu treiben in der sie eher auf die konstruierte Idealreligion der Extremisten zurückgreifen, die sie womöglich zu Hass und Gewalt verführen.

Woran erkennt man den christlichen Inhalt? Christuskirche, Rostock, 2015.

1   N. Kermani, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime. München 4. Aufl. 2015.
2   Ebd., 19.
3   Ebd., 25.
4   Ebd., 93.
5
   Ebd., 115.