Der Mann spricht mir aus dem Herzen!
Dass Kardinal Wölki sich in seinem
heutigen "Wort des Bischofs"
so eindeutig zur Religionsfreiheit geäußert, zur Gleichberechtigung
der verschiedenen Religionen vor dem Recht bekannt und von den
Diffamierungen der AfD distanziert hat, ist ihm hoch anzurechnen:
"Wer 'Ja' zu Kirchtürmen sagt, der muss auch 'Ja' sagen zum
Minarett."
Man muss den Islam noch nicht einmal
mögen, um das zu sagen, man muss einfach nur dem Grundgesetz folgen.
Wenn man sich mit der durch die AfD nun
einmal herbeigepöbelten Debatte ernsthafter und tiefer
auseinandersetzen will, lohnt ein Blick in das 2009 erstmals
erschienene wunderbare Buch "Wer ist wir"1
von Navid Kermani über "Deutschland und seine Muslime".
Als in Deutschland geborener Sohn iranischer Einwanderer hat der
Autor aus eigenem Erleben mit den Fragen von Identität,
Fremdzuschreibungen und Minderheitenstatus zu tun – und reflektiert
dies als gläubiger Muslim, Korankenner und Einheimischer in der
deutschen Hochkultur.
Im genannten Buch benennt er eine Reihe
heute hochaktueller Punkte, die ein sachlich-differenziertes
Gegengewicht zu sonst oft zu hörenden Allgemeinplätzen bieten –
und von denen ich einige aus genau diesem Grund hier referieren will.
1
Typischer Kirchbau? Königsmünster, 2015. |
Ein erster wichtiger Punkt ist, dass
nicht jegliches Verhalten und Denken eines Menschen mit seiner
Religion zu tun hat und eine gläubige Person darum nicht auf ihre
Religion reduziert werden kann. Kermani schreibt: "Ich bin
Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz 'Ich bin
Muslim' wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch,
wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert
werde. Deshalb stört es mich auch, daß die gesamte
Integrationsdebatte sich häufig auf ein Für und Wider des Islam
reduziert – als ob die Einwanderer nichts anderes seien als
Muslime."2
Die Schematisierung und Reduzierung
einer Person auf einzelne Aspekte ihrer Identität verkennt viele
andere gewichtige Persönlichkeitsbausteine.
Ähnlich äußert sich übrigens die
Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor bei ihrer Bewertung der Gründe
für sexuelle Übergriffe junger Männer aus patriarchalisch
geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens oder Nordafrikas. Differenzierend stellt sie fest, dass
Religion natürlich einen Einfluss auf Erziehung und Wertegenerierung
hat: "Also beziehen wir die Religion mit ein in die
Problemanalyse, aber erklären wir sie nicht einfach als allein
ausschlaggebend für das Verhalten von Männern."
Genauso weist Kermani darauf hin, dass
Bildung und soziale Herkunft eine mindestens ebenso große Rolle für
die Verhaltensweisen muslimischer Einwanderer spielen wie ihre
Religion: "Ich behaupte nicht, dass es keine kulturellen
Konflikte gibt, aber ich meine, daß die größere Bruchstelle ...
weiterhin die ökonomische ist".3
Diese These kann man für falsch halten
– aber die Tatsache mehrerer prägender Einflüsse auf einen
Menschen abzustreiten, wie es (mindestens implizit) bisweilen
geschieht, ist naiv bis verantwortungslos.
2
Zweitens wehrt Kermani sich gegen die
mentale Ausgrenzung der Muslime aus dem Diskurs der westlichen Welt –
mit der rhetorischen Gegenüberstellung von Europa und Islam wird ja
suggeriert, dass beides nicht zusammenginge. Dabei sind Muslime ja
sowieso schon Teil unserer Gesellschaften und verteten auch als
gläubige Menschen durchaus die Werte des "Westens".
Der in der öffentlichen Debatte
aufgebaute Druck, dass Migranten sich vemeintlicherweise entscheiden
müssten, ob sie nun fromme Muslime oder gesetzeskonforme europäische
Staatsbürger sein wollen, ist schon ein falscher Denkansatz in der
aufpeitschenden Debatte: "Jetzt sind sie gezwungen, darüber
nachzudenken, zu welchem 'Wir' sie gehören. Sie sind in eine
Entscheidung gezwungen: Gehörst du zu uns, kannst du nicht zu denen
gehören. Die wenigsten Migranten der zweiten oder dritten Generation
scheinen diesen Schritt mitzumachen. Sie sehen kritisch, was im Namen
des Islams geschieht. Aber sie können nicht einfach die Seiten
wechseln. Zur Entscheidung gezwungen, entscheiden sich immer mehr
Muslime – aus meiner Sicht – falsch: allein dadurch, daß sie
sich für eine Seite entscheiden."4
An der Tatsache, dass es nicht nur
Parallelgesellschaften und arabische Clans gibt, sondern auch eine
Menge gebildeter und "deutsch" kulturierter Muslime, die
selbstverständlich beides – fromm und grundgesetztreu – sind,
scheinen rechte Krawallmacher nur vorbeischauen zu können.
3
Damit hängt elementar zusammen, dass –
und jetzt kommt ein entscheidender Punkt – die Religion, um die es
geht, nicht das ist, für das sie uns oft genug verkauft wird. Denn
was ist der Islam denn? Kermani pointiert: "Der Islam lebt
wie jede andere Religion gerade in dem Spannungverhältnis zwischen
den Texten und ihren Lesern."5
Orientalische Einflüsse? Berlin-Mitte, 2016. |
Zu glauben, dass wir anhand einzelner
Koranzitate eine wirkliche Kenntnis des Korans und damit des Islams
erlangen könnten, ist eigentlich eine lächerliche Vorstellung.
Allerdings gibt es immer wieder Menschen, die augenscheinlich
glauben, mit dem wortwörtlichen Verständnis von aus dem
Zusammenhang gerissenen Passagen des Korans dessen Lächerlichkeit
oder Gewalttätigkeit beweisen zu können. Mit Recht schreibt
Mouhanad Khorchide, Münsteraner Professor für Islamische
Religionspädagogik, im aktuellen Cicero-Magazin
den derart argumentierenden Islamkritikern den gleichen Zugang zum
Koran und zum Verständnis des Islams zu wie islamistischen
Fundamentalisten. Aus einem jeweils ähnlich verengten Gottesbild
heraus wollen sie begründen "dass jede Abweichung vom
Wortlaut des Korans eine Verfälschung des Korans und somit einen Akt
der Häresie darstellt. Daher erlauben sie sich, einzelne
Koranstellen herauszunehmen, um damit die eine oder andere Behauptung
über den Islam zu begründen."
Angesichts der Selbstverständlichkeit,
mit der eine Mehrzahl von Muslimen in einem säkularen Staat ihren
Glauben leben kann und angesichts der Anziehungskraft, die Europa und
Deutschland auf Menschen mit muslimischem Glauben entfaltet, sind
diese ideologisierenden Verzerrungen bei den einen wie den anderen
zum Glück nur eine Randerscheinung.
Als christlicher Theologe wehre ich
mich ja genauso dagegen, wenn aus den Basistexten meiner Religion
einzelne Sätze herausgegriffen und kontextlos als Inbegriff meines
Glaubens präsentiert werden. Zugleich muss ich mich abgrenzen von
Menschen, die im Namen ihres christlichen Glaubens Ärzte aus
Abtreibungskliniken bedrohen, andere Religionen beschimpfen oder sich
sonstwie daneben benehmen.
Es gibt in der Realität eine oftmals
heilsame Pluralität von Deutungen jeder Religion, die legitim sind – oder auch nicht. Das Christentum
hat in seiner wechselvollen Geschichte leidvoll erfahren, dass der
Schritt von Verfolgten zum Verfolger, vom Leidenden zum Aggressor oft
nur ein sehr kleiner war.
Wir sollten Muslime in Europa darum
ermutigen, den barmherzigen und toleranten Seiten ihrer Religion den
Vorzug zu geben und als Bereicherung in unsere Gesellschaften
einzubringen, anstatt sie durch Anfeindungen in die Enge zu treiben in der sie eher auf die konstruierte
Idealreligion der Extremisten zurückgreifen, die sie
womöglich zu Hass und Gewalt verführen.
Woran erkennt man den christlichen Inhalt? Christuskirche, Rostock, 2015. |
1 N.
Kermani, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime. München 4.
Aufl. 2015.
2 Ebd.,
19.
3 Ebd.,
25.