Wie Gruppen mit völlig
unterschiedlichen Lebensrealitäten (wieder) miteinander Fühlung
aufnehmen können, stellt eine große Herausforderung gerade in
Zeiten starker Polarisierung dar.
In den USA gibt es dieser Tage eine
interessante Debatte über den Umgang der Katholischen Kirche mit
Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten.
Ausgelöst wurde sie durch den
bekannten Jesuiten James Martin, der mit "Building a bridge.
How the Catholic Church and the LGBT Community can enter into a
relationship of respect, compassion and sensitivity"1
ein sehr gutes und geistlich anregendes Buch über die Beziehung
zwischen Katholischer Kirche und LGBT-Community vorgelegt hat.
Im Titel tritt bereits das
hauptsächliche Anliegen des Autors zutage: Es braucht eine
gegenseitige Annäherung im Geist von Respekt, Mitgefühl und
Achtsamkeit.2
Eine Brücke, die hält? Zementwerk, Rüdersdorf, 2015. |
Ausgangspunkt für seine Gedanken war
Martins Beobachtung, dass sich nach dem Massaker vom 12. Juni 2016 im
Nachtclub Pulse in Orlando, Florida, nur eine sehr geringe
Anzahl von Kirchenoberen in den USA eindeutig und mitfühlend zur
Tatsache äußerte, dass die meisten Opfer aus der LGBT-Szene kamen.
In einer solchen Tragödie blieben die Opfer in ihrer sexuellen
Identität für viele Kirchenmänner merkwürdig unsichtbar.
Auch in seiner pastoralen Arbeit,
schreibt Martin, wurde ihm die Kluft zwischen homosexuell, bisexuell,
transgender etc. fühlenden Menschen und der Katholischen Kirche
immer klarer, deshalb formuliert er zu Beginn des Buches als
grundlegende theologische Einsicht und Herausforderung: "die
Arbeit des Evangeliums kann nicht gelingen, wenn ein Teil der Kirche
essentiell von einem andern Teil getrennt ist. Zwischen diesen beiden
Gruppen, der LGBT-Community und der institutionellen Kirche, hat sich
ein Abgrund aufgetan, eine Trennung, für die eine Brücke gebaut
werden muss."3
"Zwischen diesen beiden
Gruppen", schreibt Martin und betont im gleichen Atemzug,
dass es ihm einerseits um alle Menschen geht, die unter den diversen
Akronymen wie LGBTQA oder LGBT+ gefasst werden, und andererseits,
dass jene aus der LGBT-Community (ich bleibe bei Martins
Begrifflichkeit, die alle umfassen soll), die ihren Glauben in der
katholischen Kirche bekennen und leben, natürlich immer schon Teil
"der Kirche" sind und die Rede von zwei Seiten, die durch
jene Brücke verbunden werden müssen, irreführend sein könnte.
Denn genau an dieser Stelle tut sich
das Problem auf, dass nämlich viele "LGBT-Katholiken"
sich "von der institutionellen Kirche verletzt fühlen –
unwillkommen, ausgeschlossen und beschimpft."4
Angesichts dessen möchte das Buch die
so notwendige Arbeit des Brückenbauens zwischen zwei Gruppen, die im
Konflikt miteinander sind und keinen Zugang zur Lebenswelt der je
anderen Seite haben, anstoßen (Martin differenziert an diesem Punkt
noch länger, wer gemeint ist und dass es natürlich schon
Anbahnungen gibt). Wichtig ist dem Jesuiten, dass seine Gedanken den
Charakter eines Startes auf einem längeren Weg haben wollen.
Um das Buch gut zu verstehen, ist es
sinnvoll, sich drei Eckpunkte klar zu machen:
Erstens geht es James Martin nicht um
Moraltheologie oder die Frage, wie Homosexualität biblisch oder aus
der kirchlichen Tradition heraus zu bewerten sei. Wer das in diesem
Buch sucht, sucht das Falsche.5
Vielmehr kommt es aus der Praxis und führt in die Praxis, es möchte
Einladung zum Gespräch sein. Diese Abgrenzung ist sehr wichtig,
damit klar ist, wie wenig der Autor in eine dogmatische Diskussion
einsteigen möchte und wie sehr es ihm um die Ermöglichung eines
guten Dialogs geht.
Daraus resultiert ein Zweites, nämlich
dass es ein interaktives Buch ist. Nahezu die Hälfte besteht aus
biblischen Meditationen und Fragen, die sich die Leserschaft im
Spiegel ihres Alltags beim Durchbeten der vorgeschlagenen biblischen
Passagen stellen kann. In einem Interview mit der BBC6
wundert sich Martin, dass die Rezensionen nahezu ausschließlich den
ersten Teil betreffen, denn die praktische Seite, den Weg auch
tatsächlich betend und meditierend zu gehen, liege ihm besonders am
Herzen. Der Dialog ist in der Kirche schließlich immer auch ein
Dialog mit Gott.
Gängige Muster unterlaufen. Richardstraße, Neukölln, Berlin, 2016. |
Drittens muss betont werden, dass James
Martin die oft gebräuchlichen kirchlichen Fraktionierungen von
liberal und konservativ unterläuft. Es geht ihm nicht um das
Wegwischen des christlichen Glaubens oder um pauschale Kritik an der
Hierarchie, aber ebensowenig liegt ihm am immergleichen Herunterbeten
der kirchlichen Lehre. Dementsprechend bezieht er sich zwar auf den
Katechismus (s. Fußnote 2), aber nicht als autoritatives Instrument
der Lehrverkündigung, sondern als Ratgeber für einen guten
christlichen Umgang miteinander. Im Kern halten sich seine
Ausführungen, wie gleich zu sehen sein wird, strikt an das
Evangelium – das Barmherzigkeit verspricht und zugleich zur Umkehr
mahnt.
Die dahinterstehende theologische
Vision macht James Martin an verschiedenen Stellen deutlich: "Mit
Jesus gibt es kein 'wir' und 'sie'. Es gibt nur das 'wir'."
(Im Englischen klingt das natürlich flüssiger: "For with
Jesus, there's no us and them. There's only us.")7
Den Autor treibt die große Vision
einer alle umfassenden Gemeinschaft im einen Volk Gottes an, er will
einen Schritt hin auf die von Gott her kommende Vollendung tun.
Im Fall der Beziehung zwischen
LGBT-Community und Hierarchie der Kirche sieht er die Notwendigkeit
eines ersten Schrittes bei der Institution – "Warum? Weil
es die institutionelle Kirche ist die LGBT-Katholiken dazu bringt,
sich marginalisiert zu fühlen, nicht andersherum."8
Doch er formuliert auch die
Herausforderung, dass jene, die sich zurückgestoßen und ausgegrenzt
fühlen, erneut Schritte auf die Kirche zu tun, selbst wenn es weh
tut. Gerade hier zeige sich wahrer christlicher Geist aufseiten jener
aus der LGBT-Community, die sich voll Schmerz von der Kirche
abgewandt haben.
Und die Brücke, von der Martin
spricht, ist eben eine Brücke, die von beiden Seiten gebaut werden
muss. Dieses Prinzip radikaler Gegenseitigkeit durchzieht das ganze
Buch. Anhand der drei Begriffe Respekt, Mitgfühl und Achtsamkeit
werden konkrete Herausforderungen nachgezeichnet. Einige möchte ich
im Folgenden benennen.
"Katholiken haben eine
Verantwortung, dass sich jedermann sichtbar und wertvoll fühlen
kann."9
So lautet die Konsequenz aus der peinlichen Tatsache, dass die
meisten Kirchenoberen es nach dem Attentat in Orlando nicht
schafften, das Wort LGBT oder schwul in den Mund zu nehmen. Respekt
im Sinne des Katechismus würde nach James Martin bedeuten, dass
immerhin die Existenz der vom Anschlag hauptsächlich betroffenen
Gruppe anerkannt wird. Bei Jesus selbst wird immer klar, mit wem er
es zu tun hat – gerade wenn die Person nicht gesellschaftlich
wertgeschätzt wird. respekt heißt nach Martin außerdem, die
"einzigartigen Gaben anzuerkennen, die LGBT-Menschen als
Individuen und als Gemeinschaft in die Kirche einbringen".10
Unter Hinweis auf das paulinische Bild vom Körper (1Kor 12,12-27)
weist Martin darauf hin, dass gerade jene Teile des Ganzen, die
weniger angesehen sind, größere Wertschätzung verdienen. "Viele
LGBT-Menschen haben sich in der Tat als in der Kirche 'weniger
angesehen' empfunden. Wenn man Paulus folgt, muss also gerade diesen
Gliedern der Kirche und ihren Gaben größerer Respekt
entgegengebracht werden."11
Darum müsse die Kirche gerade sie als
geliebte Gotteskinder akzeptieren – und es ihnen auch zeigen. Denn
viel mehr noch als nur ihre Gaben sind zu feiern und wertzuschätzen:
"Wir können sie selbst
feiern und wertschätzen."12
Mitgefühl, das zweite große Wort,
lässt sich nach James Martin zuerst durch Hören erlernen. Wenn
Mitgefühl bedeutet, mit jemandes Erfahrungen mitzugehen und
mitzuleiden, dann ist Hören das erste und wichtigste Erfordernis.
Auch die Achtsamkeit fußt darauf,
LGBT-Menschen zu kennen. Das bedeutet, auf sie zuzugehen und mit
ihnen zu leben. Martin verweist hier auf die Praxis Jesus und einen
Einwurf, den viele zumeist konservative Christen hier zu machen
pflegen, dass nämlich Jesus Umkehr und Bekehrung gepredigt habe.
Unter Hinweis auf den römischen Hauptmann (Mt 8,5ff) und auf den
Zöllner Zachäus (Lk 19,1ff) unterstreicht der Jesuit, dass Jesus
nicht zuerst "Heide!" und "Sünder!"
gerufen hat, sondern dass Jesus in den meisten Fällen zuerst in den
Kontakt geht und dann erst zur Bekehrung aufruft: "Gemeinschaft
zuerst – Bekehrung danach" (wiederum schöner im
Englischen: "community first ... and conversion second."13)
Brücke. Comeniusgarten, Rixdorf, Berlin, 2015. |
Bekehrung haben alle Christen nötig,
nicht in erster Linie jenen, die anders leben als die Sexualmoral
vorsieht, sondern ganz klar auch für uns alle, die wir nicht nach
der Liebe leben – diese Pointe muss angesichts mancher
innerkirchlicher Debatten besonders hervorgehoben werden. Martin
verweist auch auf das übliche zweifache Maß im kirchlichen Bereich
– dass Menschen in offen homosexueller Lebensgemeinschaft von
kirchlichen Arbeitgebern eher gefeuert werden als jene, die auf
andere Weise nicht der biblischen Botschaft folgen. "Um
konsequent zu sein, sollten wir nicht Menschen feuern, weil sie den
Armen nicht helfen, nicht vergeben oder nicht liebevoll sind?"14
fragt er provokant.
Aber nein, wir sind eben selektiv –
und genau das prangert James Martin immer wieder an.
Schließlich dreht er aber auch den
Spieß um und stellt die Katholiken aus der LGBT-Community vor die
Auseinandersetzung mit Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber
den kirchlichen Oberen. Gleich zu Beginn schickt er voraus, dass das
schmerzhaft sein kann und eine wirkliche Selbstüberwindung, aber er
sieht genau hier die spezifisch christliche Herausforderung. Jenen zu
vergeben, die einen verfolgt haben, das ist der Kern gelebten
Christentums.15
Darüber hinaus stellt Martin klar,
dass ein Dialog nicht durch gegenseitige Anklage und das ungefilterte
Ausleben der eigenen angestauten Verbitterung beginnen kann, ganz
realistisch also ein Umdenken auch bei denen beginnen muss, die unter
Ausgrenzung und Beschimpfung leiden mussten.
Auch der verständliche Frust
angesichts der vertuschten klerikalen Missbrauchsfälle bei
gleichzeitiger moralischer Selbstüberschätzung böte Steilvorlagen,
um die Kirche nicht mehr für satisfaktionsfähig zu halten. James
Martin kann hier eine Reihe von Episoden aus persönlichen Gesprächen
vortragen. Doch auch hier fordert er heraus – bittet um das
"Geschenk der Zeit",16
Zeit einander mehr kennen zu lernen, und bittet um das Gebet für die
kirchliche Hierarchie.
Diese Brücke und dieser Weg sind ein
Weg, der beiden Seiten viel abverlangt, das weiß der Autor.
Und darum will er ins Gebet führen:
Über verschiedene biblische Texte möchte er seine Leserschaft dazu
führen, das, was er vorher theoretisch ausgeführt und gefordert
hat, selbst zu praktizieren. Mit den biblischen Geschichten von
Zachäus und vom römischen Hauptmann, mit der Berufung des bis zur
Verzweiflung immer wieder versagenden Petrus, mit dem Gleichnis vom
Barmherzigen Samariter, der einen Feind versorgt und vielen anderen
Texten hilft er, durch persönliche Fragen und ein ignatianisches
Hineinsteigen in den Text auszudeklinieren, was jeweils konkret
Gottes Wort für eine Person ist.
Beim betenden Durchgehen durch einige
der Passagen war ich sehr davon angetan, was auch mir als einem nicht
Betroffenen, die Anregungen für eine Wohltat waren.
Besonderes Augenmerk legt Martin auf Ps
139, der auch das Motto des Buches liefert. Denn Vers 14 ist ein
besonders trostvoller Zuspruch:
"Ich danke dir, dass du mich so
wunderbar gestaltet hast."
Jeder darf sich diesen Satz auf der
Zunge und im Herzen zergehen lassen, niemand wird ausgeschlossen
davon, sich selbst (bei aller Notwendigkeit der Bekehrung) als dieses
biblische Ich zu setzen und Gott dankbar zu sein.
Das fordert natürlich die Gegner
heraus. Und da ich zu Beginn angedeutet habe, dass es eine Debatte
gibt, hier noch ein kurzes Wort zu einigen Reaktionen.
Besonders konservative Homepages
betreiben eine bösartige Hetze gegenüber dem Autor, die unter
anderem dazu geführt hat, dass das Theological College der Catholic
University of America in Washington (DC) (aber auch einige andere
Hochschulen) ihn aus Angst vor dem Abspringen konservativer Spender
oder öffentlichem Ärgernis von einem Vortrag (übrigens zu einem
völlig anderen Thema!) wieder ausgeladen hat.
Dagegen stehen die ausdrückliche
Unterstützung sowohl seitens seiner Ordensoberen17
als auch verschiedener Bischöfe und explizite neue Einladungen als
Schulterschluss, beispielsweise seitens des Erzbischofs von Chicago
Blase Cupich.18
Trotzdem stellt sich die Frage, ob Internethetze die Hoheit über den Diskurs behält und ob auf diese Weise eine Art neuer
kirchlich-medialer Zensur abseits des
Lehramts entsteht.19
Es handelt sich nämlich gar nicht in
erster Linie um eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern um die
Machtfrage – leider typisch in dieser Art von Diskussion.
Trotz aller Hindernisse und Angriffe
ist James Martin überzeugt, dass die Brücke gebaut und gegangen
werden kann. Denn diesen Weg zu gehen, bedeutet Gottes Weg zu gehen
und darauf zu vertrauen, dass alles bei Gott anfängt und er alles
unterfängt: "Es bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Vergebung
ersehnt. Es bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Versöhnung ersehnt. Es
bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Einheit ersehnt."20
Vertrauen, dass Gott alte Mauern neu macht. Rostock, 2015. |
1 J.
Martin, Building a bridge. How the Catholic Church and the LGBT
Community can enter into a relationship of respect, compassion and
sensitivity. San Francisco (Harper One), 2017.
2 So
übersetze ich die Begriffe "respect, compassion and
sensitivity", die der Autor ebd., 5 als Zitat aus dem
Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) ausweist. Die deutsche
Ausgabe des KKK übersetzt anders, dort heißt es unter Nr. 2358:
"Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen."
Ich halte mich im weiteren Verlauf an die mir näher scheinende
Übersetzung aus dem Englischen.
3 J.
Martin, Building, a.a.O., 2. Alle wörtlichen Zitate sind von mir
übersetzt.
4 Ebd.,
4.
5 Der
Autor äußert sich dazu in Interviews sehr klar: "the book is
not a book about sexual morality, or a book about moral theology or
a book about how LGBT people are supposed to lead their sexual
lives."
(http://religionnews.com/2017/09/13/qa-rev-james-martin-contemplates-reaction-to-his-book-on-lgbt-catholics/)
7 J.
Martin, Building, a.a.O., 44.
8 Ebd.,
11.
9 Ebd.,
21.
10 Ebd.,
24.
11 Ebd.,
25.
12 Ebd.,
39.
13 Ebd.,
45. Vgl. 104, wo James Martin den Exegeten Ben Meyer als Urheber
dieser Einsicht benennt.
14 Ebd.,
30.
15 Vgl.
ebd., 54.
16 Ebd.,
65.
19 Vgl.
z.B. den Artikel:
https://international.la-croix.com/news/catholic-cyber-militias-and-the-new-censorship/5923