Donnerstag, 28. September 2017

Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit. Rezension zu "Building a bridge" von James Martin SJ

Wie Gruppen mit völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten (wieder) miteinander Fühlung aufnehmen können, stellt eine große Herausforderung gerade in Zeiten starker Polarisierung dar.
In den USA gibt es dieser Tage eine interessante Debatte über den Umgang der Katholischen Kirche mit Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten.

Ausgelöst wurde sie durch den bekannten Jesuiten James Martin, der mit "Building a bridge. How the Catholic Church and the LGBT Community can enter into a relationship of respect, compassion and sensitivity"1 ein sehr gutes und geistlich anregendes Buch über die Beziehung zwischen Katholischer Kirche und LGBT-Community vorgelegt hat.
Im Titel tritt bereits das hauptsächliche Anliegen des Autors zutage: Es braucht eine gegenseitige Annäherung im Geist von Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit.2

Eine Brücke, die hält?
Zementwerk, Rüdersdorf, 2015.
Ausgangspunkt für seine Gedanken war Martins Beobachtung, dass sich nach dem Massaker vom 12. Juni 2016 im Nachtclub Pulse in Orlando, Florida, nur eine sehr geringe Anzahl von Kirchenoberen in den USA eindeutig und mitfühlend zur Tatsache äußerte, dass die meisten Opfer aus der LGBT-Szene kamen. In einer solchen Tragödie blieben die Opfer in ihrer sexuellen Identität für viele Kirchenmänner merkwürdig unsichtbar.

Auch in seiner pastoralen Arbeit, schreibt Martin, wurde ihm die Kluft zwischen homosexuell, bisexuell, transgender etc. fühlenden Menschen und der Katholischen Kirche immer klarer, deshalb formuliert er zu Beginn des Buches als grundlegende theologische Einsicht und Herausforderung: "die Arbeit des Evangeliums kann nicht gelingen, wenn ein Teil der Kirche essentiell von einem andern Teil getrennt ist. Zwischen diesen beiden Gruppen, der LGBT-Community und der institutionellen Kirche, hat sich ein Abgrund aufgetan, eine Trennung, für die eine Brücke gebaut werden muss."3

"Zwischen diesen beiden Gruppen", schreibt Martin und betont im gleichen Atemzug, dass es ihm einerseits um alle Menschen geht, die unter den diversen Akronymen wie LGBTQA oder LGBT+ gefasst werden, und andererseits, dass jene aus der LGBT-Community (ich bleibe bei Martins Begrifflichkeit, die alle umfassen soll), die ihren Glauben in der katholischen Kirche bekennen und leben, natürlich immer schon Teil "der Kirche" sind und die Rede von zwei Seiten, die durch jene Brücke verbunden werden müssen, irreführend sein könnte.
Denn genau an dieser Stelle tut sich das Problem auf, dass nämlich viele "LGBT-Katholiken" sich "von der institutionellen Kirche verletzt fühlen – unwillkommen, ausgeschlossen und beschimpft."4

Angesichts dessen möchte das Buch die so notwendige Arbeit des Brückenbauens zwischen zwei Gruppen, die im Konflikt miteinander sind und keinen Zugang zur Lebenswelt der je anderen Seite haben, anstoßen (Martin differenziert an diesem Punkt noch länger, wer gemeint ist und dass es natürlich schon Anbahnungen gibt). Wichtig ist dem Jesuiten, dass seine Gedanken den Charakter eines Startes auf einem längeren Weg haben wollen.

Um das Buch gut zu verstehen, ist es sinnvoll, sich drei Eckpunkte klar zu machen:
Erstens geht es James Martin nicht um Moraltheologie oder die Frage, wie Homosexualität biblisch oder aus der kirchlichen Tradition heraus zu bewerten sei. Wer das in diesem Buch sucht, sucht das Falsche.5 Vielmehr kommt es aus der Praxis und führt in die Praxis, es möchte Einladung zum Gespräch sein. Diese Abgrenzung ist sehr wichtig, damit klar ist, wie wenig der Autor in eine dogmatische Diskussion einsteigen möchte und wie sehr es ihm um die Ermöglichung eines guten Dialogs geht.

Daraus resultiert ein Zweites, nämlich dass es ein interaktives Buch ist. Nahezu die Hälfte besteht aus biblischen Meditationen und Fragen, die sich die Leserschaft im Spiegel ihres Alltags beim Durchbeten der vorgeschlagenen biblischen Passagen stellen kann. In einem Interview mit der BBC6 wundert sich Martin, dass die Rezensionen nahezu ausschließlich den ersten Teil betreffen, denn die praktische Seite, den Weg auch tatsächlich betend und meditierend zu gehen, liege ihm besonders am Herzen. Der Dialog ist in der Kirche schließlich immer auch ein Dialog mit Gott.

Gängige Muster unterlaufen.
Richardstraße, Neukölln, Berlin, 2016.
Drittens muss betont werden, dass James Martin die oft gebräuchlichen kirchlichen Fraktionierungen von liberal und konservativ unterläuft. Es geht ihm nicht um das Wegwischen des christlichen Glaubens oder um pauschale Kritik an der Hierarchie, aber ebensowenig liegt ihm am immergleichen Herunterbeten der kirchlichen Lehre. Dementsprechend bezieht er sich zwar auf den Katechismus (s. Fußnote 2), aber nicht als autoritatives Instrument der Lehrverkündigung, sondern als Ratgeber für einen guten christlichen Umgang miteinander. Im Kern halten sich seine Ausführungen, wie gleich zu sehen sein wird, strikt an das Evangelium – das Barmherzigkeit verspricht und zugleich zur Umkehr mahnt.

Die dahinterstehende theologische Vision macht James Martin an verschiedenen Stellen deutlich: "Mit Jesus gibt es kein 'wir' und 'sie'. Es gibt nur das 'wir'." (Im Englischen klingt das natürlich flüssiger: "For with Jesus, there's no us and them. There's only us.")7
Den Autor treibt die große Vision einer alle umfassenden Gemeinschaft im einen Volk Gottes an, er will einen Schritt hin auf die von Gott her kommende Vollendung tun.

Im Fall der Beziehung zwischen LGBT-Community und Hierarchie der Kirche sieht er die Notwendigkeit eines ersten Schrittes bei der Institution – "Warum? Weil es die institutionelle Kirche ist die LGBT-Katholiken dazu bringt, sich marginalisiert zu fühlen, nicht andersherum."8
Doch er formuliert auch die Herausforderung, dass jene, die sich zurückgestoßen und ausgegrenzt fühlen, erneut Schritte auf die Kirche zu tun, selbst wenn es weh tut. Gerade hier zeige sich wahrer christlicher Geist aufseiten jener aus der LGBT-Community, die sich voll Schmerz von der Kirche abgewandt haben.
Und die Brücke, von der Martin spricht, ist eben eine Brücke, die von beiden Seiten gebaut werden muss. Dieses Prinzip radikaler Gegenseitigkeit durchzieht das ganze Buch. Anhand der drei Begriffe Respekt, Mitgfühl und Achtsamkeit werden konkrete Herausforderungen nachgezeichnet. Einige möchte ich im Folgenden benennen.

"Katholiken haben eine Verantwortung, dass sich jedermann sichtbar und wertvoll fühlen kann."9 So lautet die Konsequenz aus der peinlichen Tatsache, dass die meisten Kirchenoberen es nach dem Attentat in Orlando nicht schafften, das Wort LGBT oder schwul in den Mund zu nehmen. Respekt im Sinne des Katechismus würde nach James Martin bedeuten, dass immerhin die Existenz der vom Anschlag hauptsächlich betroffenen Gruppe anerkannt wird. Bei Jesus selbst wird immer klar, mit wem er es zu tun hat – gerade wenn die Person nicht gesellschaftlich wertgeschätzt wird. respekt heißt nach Martin außerdem, die "einzigartigen Gaben anzuerkennen, die LGBT-Menschen als Individuen und als Gemeinschaft in die Kirche einbringen".10 Unter Hinweis auf das paulinische Bild vom Körper (1Kor 12,12-27) weist Martin darauf hin, dass gerade jene Teile des Ganzen, die weniger angesehen sind, größere Wertschätzung verdienen. "Viele LGBT-Menschen haben sich in der Tat als in der Kirche 'weniger angesehen' empfunden. Wenn man Paulus folgt, muss also gerade diesen Gliedern der Kirche und ihren Gaben größerer Respekt entgegengebracht werden."11
Darum müsse die Kirche gerade sie als geliebte Gotteskinder akzeptieren – und es ihnen auch zeigen. Denn viel mehr noch als nur ihre Gaben sind zu feiern und wertzuschätzen: "Wir können sie selbst feiern und wertschätzen."12

Mitgefühl, das zweite große Wort, lässt sich nach James Martin zuerst durch Hören erlernen. Wenn Mitgefühl bedeutet, mit jemandes Erfahrungen mitzugehen und mitzuleiden, dann ist Hören das erste und wichtigste Erfordernis.
Auch die Achtsamkeit fußt darauf, LGBT-Menschen zu kennen. Das bedeutet, auf sie zuzugehen und mit ihnen zu leben. Martin verweist hier auf die Praxis Jesus und einen Einwurf, den viele zumeist konservative Christen hier zu machen pflegen, dass nämlich Jesus Umkehr und Bekehrung gepredigt habe. Unter Hinweis auf den römischen Hauptmann (Mt 8,5ff) und auf den Zöllner Zachäus (Lk 19,1ff) unterstreicht der Jesuit, dass Jesus nicht zuerst "Heide!" und "Sünder!" gerufen hat, sondern dass Jesus in den meisten Fällen zuerst in den Kontakt geht und dann erst zur Bekehrung aufruft: "Gemeinschaft zuerst – Bekehrung danach" (wiederum schöner im Englischen: "community first ... and conversion second."13)

Brücke.
Comeniusgarten, Rixdorf, Berlin, 2015.
Bekehrung haben alle Christen nötig, nicht in erster Linie jenen, die anders leben als die Sexualmoral vorsieht, sondern ganz klar auch für uns alle, die wir nicht nach der Liebe leben – diese Pointe muss angesichts mancher innerkirchlicher Debatten besonders hervorgehoben werden. Martin verweist auch auf das übliche zweifache Maß im kirchlichen Bereich – dass Menschen in offen homosexueller Lebensgemeinschaft von kirchlichen Arbeitgebern eher gefeuert werden als jene, die auf andere Weise nicht der biblischen Botschaft folgen. "Um konsequent zu sein, sollten wir nicht Menschen feuern, weil sie den Armen nicht helfen, nicht vergeben oder nicht liebevoll sind?"14 fragt er provokant.
Aber nein, wir sind eben selektiv – und genau das prangert James Martin immer wieder an.

Schließlich dreht er aber auch den Spieß um und stellt die Katholiken aus der LGBT-Community vor die Auseinandersetzung mit Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit gegenüber den kirchlichen Oberen. Gleich zu Beginn schickt er voraus, dass das schmerzhaft sein kann und eine wirkliche Selbstüberwindung, aber er sieht genau hier die spezifisch christliche Herausforderung. Jenen zu vergeben, die einen verfolgt haben, das ist der Kern gelebten Christentums.15
Darüber hinaus stellt Martin klar, dass ein Dialog nicht durch gegenseitige Anklage und das ungefilterte Ausleben der eigenen angestauten Verbitterung beginnen kann, ganz realistisch also ein Umdenken auch bei denen beginnen muss, die unter Ausgrenzung und Beschimpfung leiden mussten.
Auch der verständliche Frust angesichts der vertuschten klerikalen Missbrauchsfälle bei gleichzeitiger moralischer Selbstüberschätzung böte Steilvorlagen, um die Kirche nicht mehr für satisfaktionsfähig zu halten. James Martin kann hier eine Reihe von Episoden aus persönlichen Gesprächen vortragen. Doch auch hier fordert er heraus – bittet um das "Geschenk der Zeit",16 Zeit einander mehr kennen zu lernen, und bittet um das Gebet für die kirchliche Hierarchie.
Diese Brücke und dieser Weg sind ein Weg, der beiden Seiten viel abverlangt, das weiß der Autor.

Und darum will er ins Gebet führen: Über verschiedene biblische Texte möchte er seine Leserschaft dazu führen, das, was er vorher theoretisch ausgeführt und gefordert hat, selbst zu praktizieren. Mit den biblischen Geschichten von Zachäus und vom römischen Hauptmann, mit der Berufung des bis zur Verzweiflung immer wieder versagenden Petrus, mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, der einen Feind versorgt und vielen anderen Texten hilft er, durch persönliche Fragen und ein ignatianisches Hineinsteigen in den Text auszudeklinieren, was jeweils konkret Gottes Wort für eine Person ist.
Beim betenden Durchgehen durch einige der Passagen war ich sehr davon angetan, was auch mir als einem nicht Betroffenen, die Anregungen für eine Wohltat waren.
Besonderes Augenmerk legt Martin auf Ps 139, der auch das Motto des Buches liefert. Denn Vers 14 ist ein besonders trostvoller Zuspruch:
"Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast."
Jeder darf sich diesen Satz auf der Zunge und im Herzen zergehen lassen, niemand wird ausgeschlossen davon, sich selbst (bei aller Notwendigkeit der Bekehrung) als dieses biblische Ich zu setzen und Gott dankbar zu sein.

Das fordert natürlich die Gegner heraus. Und da ich zu Beginn angedeutet habe, dass es eine Debatte gibt, hier noch ein kurzes Wort zu einigen Reaktionen.
Besonders konservative Homepages betreiben eine bösartige Hetze gegenüber dem Autor, die unter anderem dazu geführt hat, dass das Theological College der Catholic University of America in Washington (DC) (aber auch einige andere Hochschulen) ihn aus Angst vor dem Abspringen konservativer Spender oder öffentlichem Ärgernis von einem Vortrag (übrigens zu einem völlig anderen Thema!) wieder ausgeladen hat.
Dagegen stehen die ausdrückliche Unterstützung sowohl seitens seiner Ordensoberen17 als auch verschiedener Bischöfe und explizite neue Einladungen als Schulterschluss, beispielsweise seitens des Erzbischofs von Chicago Blase Cupich.18
Trotzdem stellt sich die Frage, ob Internethetze die Hoheit über den Diskurs behält und ob auf diese Weise eine Art neuer kirchlich-medialer Zensur abseits des Lehramts entsteht.19
Es handelt sich nämlich gar nicht in erster Linie um eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern um die Machtfrage – leider typisch in dieser Art von Diskussion.

Trotz aller Hindernisse und Angriffe ist James Martin überzeugt, dass die Brücke gebaut und gegangen werden kann. Denn diesen Weg zu gehen, bedeutet Gottes Weg zu gehen und darauf zu vertrauen, dass alles bei Gott anfängt und er alles unterfängt: "Es bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Vergebung ersehnt. Es bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Versöhnung ersehnt. Es bedeutet, zu vertrauen, dass Gott Einheit ersehnt."20
Vertrauen, dass Gott alte Mauern neu macht.
Rostock, 2015.
1   J. Martin, Building a bridge. How the Catholic Church and the LGBT Community can enter into a relationship of respect, compassion and sensitivity. San Francisco (Harper One), 2017.

2   So übersetze ich die Begriffe "respect, compassion and sensitivity", die der Autor ebd., 5 als Zitat aus dem Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) ausweist. Die deutsche Ausgabe des KKK übersetzt anders, dort heißt es unter Nr. 2358: "Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen." Ich halte mich im weiteren Verlauf an die mir näher scheinende Übersetzung aus dem Englischen.

3   J. Martin, Building, a.a.O., 2. Alle wörtlichen Zitate sind von mir übersetzt.

4   Ebd., 4.

5   Der Autor äußert sich dazu in Interviews sehr klar: "the book is not a book about sexual morality, or a book about moral theology or a book about how LGBT people are supposed to lead their sexual lives." (http://religionnews.com/2017/09/13/qa-rev-james-martin-contemplates-reaction-to-his-book-on-lgbt-catholics/)


7   J. Martin, Building, a.a.O., 44.

8   Ebd., 11.

9   Ebd., 21.

10   Ebd., 24.

11   Ebd., 25.

12   Ebd., 39.

13   Ebd., 45. Vgl. 104, wo James Martin den Exegeten Ben Meyer als Urheber dieser Einsicht benennt.

14   Ebd., 30.

15   Vgl. ebd., 54.

16   Ebd., 65.





20   J. Martin, Building, a.a.O., 75.