Donnerstag, 21. September 2017

Zwischen Resignation und Hybris. Zwei Reflexionen vor der Bundestagswahl.

Da meine Kinder nun einmal unumgänglich zu meinem Nahumfeld gehören, fallen mir anhand ihrer Verhaltensweisen, Möglichkeiten und Grenzen auch eine Reihe von Dingen auf, die sich in meine Assoziationsketten vor der Bundestagswahl 2017 einfügen.

Die Kleine ist noch keine drei Monate alt und wahltypologisch steht sie für mich auf dem Posten der Resignation.
Langsam nimmt das Baby immer mehr wahr, was um sie herum geschieht; von Tag zu Tag beobachtet sie genauer. Der über ihr sich bewegenden Hand folgt sie mit den Augen oder gar dem Kopf, die Wärmelampe lächelt sie an, auf elterntypische Kosegeräusche reagiert sie mal mit Lachen, mal gar nicht.
Und dann ist da ein über ihr baumelndes Spielzeug, von mir angestoßen und wegen seiner Bewegung von ihr angestaunt. Aber die Möglichkeit, es selbst auch zu berühren und in Bewegung zu bringen, scheint sie nicht zu haben. Oder doch?

Mitten ins Schwarze getroffen?
Basketballkorb in Rixdorf, Berlin, 2017.
Von Zeit zu Zeit, wenn der Hunger kommt, sucht die Hand zur Beruhigung schon allein den Weg in den Mund. Manchmal mit Erfolg, oft aber landet sie auch an der Stirn oder am Kinn. Das Koordinierungsvermögen wächst erst langsam, vielleicht könnte sie auch das Spielzeug allein schon zum Pendeln bringen. Vielleicht ist sie in ihrer Entwicklung schon weiter und nur die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten fehlt noch. Sie schaut vorerst nur zu.
Politisch gewendet:
Nichtwähler oder Wähler von Satiretruppen mögen es sein, die diesem Typus entsprechen, Menschen, die an der politischen Gestaltbarkeit der Umstände zweifeln oder auch glauben, dass keine vertretbaren politischen Alternativen vorgeschlagen werden.
Denn auch nur auf den Gedanken kommen, dass man selbst etwas bewegen könnte, erfordert schon ein gerüttelt Maß an visionärer Kraft – und etwas Vertrauen in das gesellschaftlich-politische System.

Die Ältere ist drei und lebt ihrerseits das Gegenstück dazu, die Hybris. Schlagwort "Ich kann das allein!" Ich löse meine Probleme selbst. Hier und jetzt. Natürlich mit der fast sofortigen Anschlussforderung "Hilf mir!" – und zwar sofort.
Vieles klappt ja auch einigermaßen – das Balancieren auf dem Mäuerchen, das Vorrennen und "Erster!" sein, das Brotschmieren...
Natürlich schlägt die Hybris auch in ihr passives Extrem um und fordert ohne eigenes Probieren die Lösung jeglichen Kleinstproblems: Müslischüssel holen, was letzte Woche problemlos klappte? Fehlanzeige. Schuhanziehen wie in der Kita? Geht gar nicht! Laufradfahren und Richtung und Tempo selbst vorgeben? Ich kann nicht mehr!
Papa muss alles machen, ich verweigere mich – aber ich bestimme, welche Müslischüssel, wo die Schuhe angezogen werden und auf welchem Arm oder ob ich doch lieber auf der Schulter getragen werde. Geschieht das nicht, gibt es Geschrei. Und was für welches.
Der politische Typus dazu:
Alles kaputt oder was?
St. Michael, Berlin-Mitte, 2016.
Die Dinge müssen so und nicht anders umgekrempelt werden, strikte Lösungen für komplexe Probleme sind die Antwort. Und die haben wir – für alles. Und was nicht klappt, wird niedergeschrien. Die Extremisten vom rechten Rand, die sich inzwischen in der AfD gesammelt haben und ihre Enttäuschung, ihre Unsicherheit und ihren Haß dort rauslassen, gewinnen hoffentlich mehr Gleichgewicht und wirklichen Selbststand. Das ist einer, der nicht schreit, wenn man unzufrieden ist, sondern sich konstruktiv einbringt. Nicht durch Hassmails und Drohbotschaften, sondern im Realismuslernen und Weltgestalten.

Kinder entwickeln sich zum Glück weiter! Den Resignierten und Aufgeputschten wünsche ich das auch!

Denn eine reife Herangehensweise an demokratische Wahlen dürfte wohl weder der Resignation noch der Hybris Vorschub leisten. Die Grenzen des Wählens ebenso in den Blick zu nehmen wie die sich bietenden Möglichkeiten, erfordert mehr Unterscheidungsvermögen als die Alles-oder-Nichts-Variante.

Ich wünsche allen, die die Möglichkeit haben, zur Wahl zu gehen, dies auch verantwortlich zu tun.

Den Resignierten: Schwerpunkte setzen, Toleranz bei Randunschärfen zeigen, nicht auf Absolutheiten beharren. Die Welt wird nie hundertprozentig gerettet durch Wahlen. Ich stimme auch mit keiner Partei wirklich überein. Als aufgeklärter Christ mit einer liberalen Grundeinstellung und menschenrechtlich angeschärften Vorstellungen hat man nicht überall viele Schnittmengen. Nichtsdestotrotz gehe ich wählen. Und nicht nur, weil ich manche für ein "kleineres Übel" halte, sondern weil ich trotz der erkannten Grenzen meine Meinung einbringen will. Am Wahltag und darüber hinaus.
Den Radikalisierten: das vernünftig-menschliche Differerenzierungsvermögen schärfen, genau hinschauen und sich nicht monothematisch auf enge Feindbilder festzurren lassen. Ich wünsche mir auch mehr Schärfe und Klarheit in mancher politischen Äußerung, weniger Schlingern im Grau-grau. Aber ich akzeptiere die Grenzen der parlamentarischen Demokratie gern, wenn ich mir weltweit anschaue, was die Alternativen wären.

Sich verweigern hilft der Gesellschaft, in der wir leben, ebensowenig, wie fanatisch auf einen Reiz hin auszurasten.
Differenzieren und verantwortlich wahrnehmen, was geht und was nicht geht, führt nicht zum Einerlei und auch nicht zur einen wahren Lösung. Sondern im besten Fall zu einer verantwortlichen Wahl und zu gesellschaftlichem Engagement. 

Alles, was bleibt? Grab auf dem St-Hedwigs-Kirchhof, Reinickendorf, Berlin, 2017.