"Erinnerungen sind keine
Abschnitte in Handbüchern, es sind aber auch nicht nur
Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im
Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen
ist".1
So muss es vielen der Geflüchteten
gehen, die über das Mittelmeer oder die Türkei nach Europa und
Deutschland zu gelangen versuchen. Ihr früheres Leben ist zu Bruch gegangen und alles, was bleibt sind die Splitter, die immer noch Verletzungen verursachen. Als vor zwei Jahren die
Flüchtlingsfrage zwischen Ungarn und Deutschland und letztlich in
ganz Europa noch einmal völlig neu sortiert wurde, ahnte wohl
niemand, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln würden. Wir
wissen es ja immer noch nicht, sind nur einen Wegabschnitt weiter.
Aber die Erinnerung an diese Tage und
Wochen ist auch für manche Europäer wie ein Splitter, der im Fuß sitzt
und schmerzt. Was da zu Buch ging, war die immer noch stillschweigend
vorausgesetzte Übereinstimmung in Sachen europäischer
Menschlichkeit. War die Illusion mancher Deutscher, sich abschotten
zu können von den Zeitläuften der Welt. War die Hoffnung, mit all
dem, was an den Rändern Europas passierte, nichts zu tun haben zu
müssen.
Fußbodenheizung unter den Füßen? Umweltforum, Friedrichshain, Berlin, 2016. |
Das Eingangszitat findet sich in Bodo
Kirchhoffs 2016 mit dem Deutschen Buchpreis
ausgezeichneten Roman "Widerfahrnis", in dem sich
zwei Fremde miteinander auf den Weg ins Unbekannte machen. Jedoch
fliehen er, Reither, und sie, Leonie Palm, nicht vor irgendeiner Not,
vielmehr fahren sie auf einer Spritztour in gewisser Weise denen
entgegen, die aus dem Mittelmeer entkommen und in Italien angelangt
sind. Es ist eine Reise, in der die beiden näher zueinander und
mitten hinein in die Unlösbarkeiten der Flüchtlingspolitik kommen.
Kirchhoff schreibt seine Roadnovel aus der Perspektive des ehemaligen
Verlagsleiters Reither, was manchmal etwas anstrengend zu lesen ist,
wie der Sachen ausradiert oder anders formuliert hätte, aber nun
seien die Dinge einmal so, wie sie jetzt geschrieben stehen müssen.
Wie sich aus dem einsamen Mann ein Liebender und Streitender herausschält, ist dafür intensiv miterlebbar. Im Rückblick erlebt Reither sich als der Verhärtete, der er ist, wenn er sich an seine Opernbesuche erinnert: "Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hatte es immer gemieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten, jedes durch seinen Stift so verschlankt, so ausgedünnt, bis nichts mehr darin weich war, faulig, süß, nur noch Sätze wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches."2
Wie sich aus dem einsamen Mann ein Liebender und Streitender herausschält, ist dafür intensiv miterlebbar. Im Rückblick erlebt Reither sich als der Verhärtete, der er ist, wenn er sich an seine Opernbesuche erinnert: "Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hatte es immer gemieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten, jedes durch seinen Stift so verschlankt, so ausgedünnt, bis nichts mehr darin weich war, faulig, süß, nur noch Sätze wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches."2
Doch genau das erlebt er nun – das
Anhaften und Weichwerden durch die Nähe eines anderen Menschen.
Die Begegnung mit einem
Flüchtlingsmädchen wird zum Wendepunkt der sich anbahnenden
Liebesgeschichte zwischen Reither und "der Palm". Detailliert beschreibt Kirchhoff, wie sich die
beiden gut situierten Europäer und das Mädchen annähern und wieder
zurückziehen. Auf der Fähre zwischen Sizilien und dem italienischen
Festland spürt man das Zittern, das durch das anfahrende Schiff geht
– "unter den Schuhsohlen bebte der Stahlboden".3
Dort entgleist die spannungsgeladene Situation – und es wird klar, dass all die Freundlichkeit Einzelner gegen das politische Erdbeben nichts ausrichten kann.
Dort entgleist die spannungsgeladene Situation – und es wird klar, dass all die Freundlichkeit Einzelner gegen das politische Erdbeben nichts ausrichten kann.
Ähnliches erfährt der Held in dem
wunderbaren Roman "Gehen, ging, gegangen" von Jenny
Erpenbeck,4
das 2015 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises
stand.
Strukturell parallel schildert auch Erpenbeck die Begegnung
eines einsamen älteren Mannes (hier eines emeritierten Professors für Alte
Sprachen) mit der Lebensrealität der Geflüchteten und seine Wandlung. Die langsame
Einfühlung in das Schicksal einiger der Afrikaner, die auf dem
Oranienplatz in Berlin versuchten, sich ihr Recht zu erstreiten, beginnt dieser Richard,
indem er Aussehen und Haltung der Geflüchteten in seine Denkmuster
zieht, da wird einer zu Apoll, ein anderer zum aus Trauer geborenen
Tristan, wieder ein anderer ist ein Blitzeschleuderer. Die
Begegnungen ziehen ihn immer weiter hinein in zarte Freundschaften
und die daraus erwachsende Handlungsmacht. Zugleich erfährt der
Emeritus seine Ohnmacht als politischer Akteur – ganz ähnlich wie
bei Reither in "Widerfahrnis" sind die großen
politischen Kräfte, die wirken, gewaltiger als die perönliche
Anstrengung. Doch deshalb ist diese nicht vergebens.
Zusätzlich zu einigen asylrechtlichen
Hintergründen flicht Erpenbeck in angenehmer Weise moralische
Fragestellungen in die Erzählung ein. Immer wieder taucht die
deutsche Geschichte auf, aber nicht nur Fluchtschicksale, auch die
Unbehaustheit und Naivität im Nachwendeerleben ehemaliger DDR-Bürger
in "ihrem" neuen Land werden thematisiert.
Bei einem gemeinsamen Abendessen mit
Freunden steht plötzlich unausgesprochen ein Gedanke im Raum:
"Wenn es aber nicht ihr eigenes
Verdienst war, dass es ihnen so gut ging, war es andererseits auch
nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass es denen so schlecht ging.
Ebensogut könnte es umgekehrt sein. Einen Moment lang reißt dieser
Gedanke sein Maul weit auf und zeigt seine gräßlichen Zähne."5
Was einerseits wie eine etwas
unbeholfene Gewissensprüfung der Autorin wirkt, stellt andererseits
doch ein Bild dar, das es ganz gut trifft, wenn wir uns die in
Deutschland derzeit vorhandenen Einstellungen zu Flüchtlingen
anschauen.
Auch wenn die moralische Perspektive
Erpenbecks manchmal sehr stark spürbar ist, übertönt sie doch die
Geschichte in den meisten Fällen nicht. Oft stellt sie kluge
Reflexionen an den Rand einer Szene und macht den Roman auf diese
Weise immer wieder zu einem Aha-Erlebnis für Leser. So gipfelt die
Beschreibung von Richards Grabpflege im Herbst in dem Satz:
"Einen Grabplatz zu haben, in
dem drei Generationen ruhen, ist, wenn man so will, auch ein Luxus,
aber der Gedanke ist Richard erst in den letzten Wochen gekommen."6
Die Gegenüberstellung der
grundverschiedenen Lebenswelten und Sorgen von Einheimischen und Flüchtlingen machen Richard zunehmend nachdenklich; seine
Möglichkeiten zu helfen, scheinen gering. Den Flüchtlingen müssen
ihre Telefone als Anker zu anderen Schicksalsgenossen, Überlebenden
und Angehörigen zu Haus dienen. Das Netz der Funkwellen "ersetzt
ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern
auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen
gehört, ist unsichtbar und aus Luft."7
So weit, so ernüchternd.
Dabei hat sich die rechtliche Situation der Geflüchteten nicht verbessert und in Libyen und Italien sind die Wartepositionen eher noch bedrängender als vor zwei Jahren.
Dabei hat sich die rechtliche Situation der Geflüchteten nicht verbessert und in Libyen und Italien sind die Wartepositionen eher noch bedrängender als vor zwei Jahren.
Diese traurigen Lebensumstände können
wir nicht mitfühlen, aber vielleicht sind der Jahrestag der so
genannten Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin und die anstehende
Bundestagswahl gute Gelegenheiten, sich immerhin manchen ehrlichen
Gedanken selbst wieder zu stellen und politisch konsequent zu wählen.
Wie kommt man nicht nur übers Meer, sondern an? Binz auf Rügen, 2016. |
1 B.
Kirchhoff, Widerfahrnis. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2016, 84.
2 Ebd.,
194.
3 Ebd.,
116.
4 J.
Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen. 2. Aufl. München 2015.
5 Ebd.,
120.
6 Ebd.,
209.
7 Ebd.,
220.