Montag, 4. September 2017

Bebender Boden voller Splitter. Die Flüchtlingsfrage in der Literatur

"Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind aber auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist".1
So muss es vielen der Geflüchteten gehen, die über das Mittelmeer oder die Türkei nach Europa und Deutschland zu gelangen versuchen. Ihr früheres Leben ist zu Bruch gegangen und alles, was bleibt sind die Splitter, die immer noch Verletzungen verursachen. Als vor zwei Jahren die Flüchtlingsfrage zwischen Ungarn und Deutschland und letztlich in ganz Europa noch einmal völlig neu sortiert wurde, ahnte wohl niemand, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln würden. Wir wissen es ja immer noch nicht, sind nur einen Wegabschnitt weiter.
Aber die Erinnerung an diese Tage und Wochen ist auch für manche Europäer wie ein Splitter, der im Fuß sitzt und schmerzt. Was da zu Buch ging, war die immer noch stillschweigend vorausgesetzte Übereinstimmung in Sachen europäischer Menschlichkeit. War die Illusion mancher Deutscher, sich abschotten zu können von den Zeitläuften der Welt. War die Hoffnung, mit all dem, was an den Rändern Europas passierte, nichts zu tun haben zu müssen.

Fußbodenheizung unter den Füßen?
Umweltforum, Friedrichshain, Berlin, 2016.
Das Eingangszitat findet sich in Bodo Kirchhoffs 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Widerfahrnis", in dem sich zwei Fremde miteinander auf den Weg ins Unbekannte machen. Jedoch fliehen er, Reither, und sie, Leonie Palm, nicht vor irgendeiner Not, vielmehr fahren sie auf einer Spritztour in gewisser Weise denen entgegen, die aus dem Mittelmeer entkommen und in Italien angelangt sind. Es ist eine Reise, in der die beiden näher zueinander und mitten hinein in die Unlösbarkeiten der Flüchtlingspolitik kommen. Kirchhoff schreibt seine Roadnovel aus der Perspektive des ehemaligen Verlagsleiters Reither, was manchmal etwas anstrengend zu lesen ist, wie der Sachen ausradiert oder anders formuliert hätte, aber nun seien die Dinge einmal so, wie sie jetzt geschrieben stehen müssen.
Wie sich aus dem einsamen Mann ein Liebender und Streitender herausschält, ist dafür intensiv miterlebbar. Im Rückblick erlebt Reither sich als der Verhärtete, der er ist, wenn er sich an seine Opernbesuche erinnert: "Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hatte es immer gemieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten, jedes durch seinen Stift so verschlankt, so ausgedünnt, bis nichts mehr darin weich war, faulig, süß, nur noch Sätze wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches."2
Doch genau das erlebt er nun – das Anhaften und Weichwerden durch die Nähe eines anderen Menschen.
Die Begegnung mit einem Flüchtlingsmädchen wird zum Wendepunkt der sich anbahnenden Liebesgeschichte zwischen Reither und "der Palm". Detailliert beschreibt Kirchhoff, wie sich die beiden gut situierten Europäer und das Mädchen annähern und wieder zurückziehen. Auf der Fähre zwischen Sizilien und dem italienischen Festland spürt man das Zittern, das durch das anfahrende Schiff geht – "unter den Schuhsohlen bebte der Stahlboden".3
Dort entgleist die spannungsgeladene Situation – und es wird klar, dass all die Freundlichkeit Einzelner gegen das politische Erdbeben nichts ausrichten kann.

Ähnliches erfährt der Held in dem wunderbaren Roman "Gehen, ging, gegangen" von Jenny Erpenbeck,4 das 2015 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.
Strukturell parallel schildert auch Erpenbeck die Begegnung eines einsamen älteren Mannes (hier eines emeritierten Professors für Alte Sprachen) mit der Lebensrealität der Geflüchteten und seine Wandlung. Die langsame Einfühlung in das Schicksal einiger der Afrikaner, die auf dem Oranienplatz in Berlin versuchten, sich ihr Recht zu erstreiten, beginnt dieser Richard, indem er Aussehen und Haltung der Geflüchteten in seine Denkmuster zieht, da wird einer zu Apoll, ein anderer zum aus Trauer geborenen Tristan, wieder ein anderer ist ein Blitzeschleuderer. Die Begegnungen ziehen ihn immer weiter hinein in zarte Freundschaften und die daraus erwachsende Handlungsmacht. Zugleich erfährt der Emeritus seine Ohnmacht als politischer Akteur – ganz ähnlich wie bei Reither in "Widerfahrnis" sind die großen politischen Kräfte, die wirken, gewaltiger als die perönliche Anstrengung. Doch deshalb ist diese nicht vergebens.
Zusätzlich zu einigen asylrechtlichen Hintergründen flicht Erpenbeck in angenehmer Weise moralische Fragestellungen in die Erzählung ein. Immer wieder taucht die deutsche Geschichte auf, aber nicht nur Fluchtschicksale, auch die Unbehaustheit und Naivität im Nachwendeerleben ehemaliger DDR-Bürger in "ihrem" neuen Land werden thematisiert.
Bei einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden steht plötzlich unausgesprochen ein Gedanke im Raum:
"Wenn es aber nicht ihr eigenes Verdienst war, dass es ihnen so gut ging, war es andererseits auch nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass es denen so schlecht ging. Ebensogut könnte es umgekehrt sein. Einen Moment lang reißt dieser Gedanke sein Maul weit auf und zeigt seine gräßlichen Zähne."5
Was einerseits wie eine etwas unbeholfene Gewissensprüfung der Autorin wirkt, stellt andererseits doch ein Bild dar, das es ganz gut trifft, wenn wir uns die in Deutschland derzeit vorhandenen Einstellungen zu Flüchtlingen anschauen.
Auch wenn die moralische Perspektive Erpenbecks manchmal sehr stark spürbar ist, übertönt sie doch die Geschichte in den meisten Fällen nicht. Oft stellt sie kluge Reflexionen an den Rand einer Szene und macht den Roman auf diese Weise immer wieder zu einem Aha-Erlebnis für Leser. So gipfelt die Beschreibung von Richards Grabpflege im Herbst in dem Satz:
"Einen Grabplatz zu haben, in dem drei Generationen ruhen, ist, wenn man so will, auch ein Luxus, aber der Gedanke ist Richard erst in den letzten Wochen gekommen."6
Die Gegenüberstellung der grundverschiedenen Lebenswelten und Sorgen von Einheimischen und Flüchtlingen machen Richard zunehmend nachdenklich; seine Möglichkeiten zu helfen, scheinen gering. Den Flüchtlingen müssen ihre Telefone als Anker zu anderen Schicksalsgenossen, Überlebenden und Angehörigen zu Haus dienen. Das Netz der Funkwellen "ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und aus Luft."7
So weit, so ernüchternd.
Dabei hat sich die rechtliche Situation der Geflüchteten nicht verbessert und in Libyen und Italien sind die Wartepositionen eher noch bedrängender als vor zwei Jahren.
Diese traurigen Lebensumstände können wir nicht mitfühlen, aber vielleicht sind der Jahrestag der so genannten Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin und die anstehende Bundestagswahl gute Gelegenheiten, sich immerhin manchen ehrlichen Gedanken selbst wieder zu stellen und politisch konsequent zu wählen.

Wie kommt man nicht nur übers Meer, sondern an? Binz auf Rügen, 2016.

1   B. Kirchhoff, Widerfahrnis. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2016, 84.
2   Ebd., 194.
3   Ebd., 116.
4   J. Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen. 2. Aufl. München 2015.
5   Ebd., 120.
6   Ebd., 209.
7   Ebd., 220.