Die Sehnsucht nach Heimat, die Suche
nach einer Stelle, an der sich ein Leben bauen lässt, der Wunsch
nach dem Ort für ein Heim treibt Menschen seit Jahrtausenden zur
Sesshaftigkeit. Oder aber zur Flucht fort von den Orten, wo das nicht
möglich ist, dorthin, wo ein solcher Ort ist.
In Jenny Erpenbecks "Heimsuchung"
hat sich ein solches Stück Erde gefunden. Allerdings hieße der
Roman nicht "Heimsuchung", wenn es nicht im wörtlichsten
Sinne gerade um die mehrdimensionale Suche nach Heimat ginge – und
natürlich darum, dass die Heimsuchenden dort auch von den
peinigenden Ereignissen der jeweiligen Epochen heimgesucht werden.
1
Im Durchgang durch die Zeitläufe
entblößt sich die Geschichte der Protagonisten zeigt sich vor allem
die Ambivalenz der Heimat, besonders im turbulenten 20. Jahrhundert.
Der Architekt, der sowohl vor als auch nach dem Krieg in den Diensten
der jeweiligen Machthaber tätig war und auch das Haus am Ufer des
märkischen Sees baute, an dem sich das Geschehen des Romans
verortet, sinniert:
Heim am Hang. Herrsching am Ammersee, 2015. |
"Heimat planen, das ist sein
Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft mit steinerner
Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest
machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch
und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den
Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen,
Kinder, Gäste, Auto, Garten. Ob all das – oder das und das nicht,
umrechnen in Holz, Stein, Glas, Stroh und Eisen. Dem Leben Richtungen
geben, den Gängen Boden unter den Füßen, den Augen einen Blick,
der Stille Türen."1
Doch so leicht sollte es nicht sein –
das der Luft Entrissene. Angesichts der russischen Besatzer "war
nur zu bedauern, wem ein Stück Land gehörte, und kein
fliegender Teppich." Denn: "Wer baut, klebt nun
einmal sein Leben an die Erde."2
Diesen Zwiespalt einer fest umrissenen
bergenden Heimat, die das eigene Leben festmacht an einem Ort, der
dann nicht mehr zu Heimat und Leben taugt, muss er nun selbst
erleben. So schließlich hat er einigermaßen teilnahmslos das Heim
seiner jüdischen Nachbarn zu seinem Grundstück hinzu erworben, als
diese dringend Geld für die Flucht brauchten. Dieses sein
maßgeschneidertes Haus bringt ihm kein Glück, denn sein Leben nimmt
eine andere Richtung, auch wenn sich die Autorin moralischer
Wertungen enthält.
2
Mit vielen Anläufen werden die
Schicksale der Heimsuchenden erzählt, bisweilen schon gar nicht mehr
vor Ort, sondern im Warschauer Ghetto und allein mit der Erinnerung
an das Heim mit all seiner persönlichen Einrichtung, die inzwischen
zu Spottpreisen den Besitzer wechselt - "... an diesem hellen
Abend, an dem sie, wie sie es sich hier angewöhnt hatte, in
Schlangenlinien heimging, um nicht über die Leichen zu stolpern, ...
an diesem Montagabend, an dem ihre Mutter ihr die für die Armbanduhr
eingetauschten Kartoffeln vorsetzte, sehr wahrscheinlich die letzten,
die sie in ihrem Leben gegessen haben würde, an diesem Abend schon
ruhten die Bettlaken von Ernst, Elisabeth und Doris, je paarweise für
Preise zwischen Mk. 8, Pf. 40 und Mk. 8, Pf. 70 ersteigert, laufende
Nummern 177 bis 185, glattgestrichen in den Wäscheschränken der
Familien Wittger, Schulz, Müller, Langmann und Brühl, Klemker,
Fröhlich und Wulf."3
Eine verkaufte jüdische Existenz, an
der sich die zurückgebliebenen ehrbaren Deutschen bereicherten.
Während die einen sich dem Tod nähern, machen es sich die anderen
auf deren Leben bequem.
3
Ein neues Kapitel schlägt die aus der
russischen Emigration heimgekehrte Kommunistin auf, deren Reflexionen
zur alten Heimat Deutschland klar machen, dass es nach den Umbrüchen
von völliger Entzivilisierung im Nationalsozialismus und seinen
Verbrechen und der folgenden Umwertung aller Werte nicht mehr leicht
ist, von einer deutschen Heimat zu reden.
Sogar einem NS-Funktionär musste klar
sein, "daß daheim niemals
mehr Bayern, niemals mehr Nordseestrand oder Berlin heißen würde,
daheim hatte sich in die Zeit selbst verwandelt, die hinter ihm lag,
Deutschland sich auf Nimmerwiedersehen in etwas Körperloses ...
Nachdem er durch eine kurze Verzweiflung hindurchgeschwommen war,
hatte sich der deutsche Beamte ums Bleiben auf seinem Posten
beworben. Jene aber, die vor ihrer eigenen Verwandlung ins Ungeheure
aus der Heimat geflohen waren, wurden durch das, was sie von zu Hause
erfuhren, nicht nur für die Jahre der Emigration, sondern, wie es
ihr inzwischen scheint, auf immer ins Unbehauste gestoßen,
unabhängig davon, ob sie zurückkehrten oder nicht."4
Bunker mit Ausblick. Lutherhaus Wittenberg, 2015. |
Wohin also kehren sie zurück? Vor
dieser Frage standen viele der Rückkehrer, wie es sich exemplarisch
eindrucksvoll auch in Ursula Krechels "Landgericht"
präsentiert. Bei Jenny Erpenbeck wiederholt die Heimkehrerin auf
ihrer Schreibmaschine stetig "I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m",
wie um sich selbst zu überzeugen, dass dies nun ihre Heimat ist,
dieser neue sozialistisch aufgebaute Staat, der sie viel zu schnell
vor den Kopf stößt.
"Nein, sie und ihr Mann sind
nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern sie wollten dies Land,
und es war nur zufällig das, dessen Sprache sie sprachen, heimholen
in ihre Gedanken."5
Wer jedoch sein Leben, seine Herkunft,
seine Geschichte, seine Eigenarten in die eigenen Gedanken heimholen
will, der weiß, wie die Gläubigen aller Zeiten, dass es nicht der
Boden, nicht die Einrchtung und nicht die Architektur sind, die
Heimat ausmachen.
Auch wenn vieles gerade daran zu hängen
scheint.
1 J.
Erpenbeck, Heisuchung. 6. Aufl. München 2010, 38.
2 Ebd.,
42.
3 Ebd.,
88f.
4 Ebd.,
115f.
5 Ebd.,
121.