Mittwoch, 9. September 2015

Heim-Suche in "Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck

Die Sehnsucht nach Heimat, die Suche nach einer Stelle, an der sich ein Leben bauen lässt, der Wunsch nach dem Ort für ein Heim treibt Menschen seit Jahrtausenden zur Sesshaftigkeit. Oder aber zur Flucht fort von den Orten, wo das nicht möglich ist, dorthin, wo ein solcher Ort ist.

In Jenny Erpenbecks "Heimsuchung" hat sich ein solches Stück Erde gefunden. Allerdings hieße der Roman nicht "Heimsuchung", wenn es nicht im wörtlichsten Sinne gerade um die mehrdimensionale Suche nach Heimat ginge – und natürlich darum, dass die Heimsuchenden dort auch von den peinigenden Ereignissen der jeweiligen Epochen heimgesucht werden.

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Im Durchgang durch die Zeitläufe entblößt sich die Geschichte der Protagonisten zeigt sich vor allem die Ambivalenz der Heimat, besonders im turbulenten 20. Jahrhundert. Der Architekt, der sowohl vor als auch nach dem Krieg in den Diensten der jeweiligen Machthaber tätig war und auch das Haus am Ufer des märkischen Sees baute, an dem sich das Geschehen des Romans verortet, sinniert: 

Heim am Hang. Herrsching am Ammersee, 2015.
"Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten. Ob all das – oder das und das nicht, umrechnen in Holz, Stein, Glas, Stroh und Eisen. Dem Leben Richtungen geben, den Gängen Boden unter den Füßen, den Augen einen Blick, der Stille Türen."1

Doch so leicht sollte es nicht sein – das der Luft Entrissene. Angesichts der russischen Besatzer "war nur zu bedauern, wem ein Stück Land gehörte, und kein fliegender Teppich." Denn: "Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde."2
Diesen Zwiespalt einer fest umrissenen bergenden Heimat, die das eigene Leben festmacht an einem Ort, der dann nicht mehr zu Heimat und Leben taugt, muss er nun selbst erleben. So schließlich hat er einigermaßen teilnahmslos das Heim seiner jüdischen Nachbarn zu seinem Grundstück hinzu erworben, als diese dringend Geld für die Flucht brauchten. Dieses sein maßgeschneidertes Haus bringt ihm kein Glück, denn sein Leben nimmt eine andere Richtung, auch wenn sich die Autorin moralischer Wertungen enthält.

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Mit vielen Anläufen werden die Schicksale der Heimsuchenden erzählt, bisweilen schon gar nicht mehr vor Ort, sondern im Warschauer Ghetto und allein mit der Erinnerung an das Heim mit all seiner persönlichen Einrichtung, die inzwischen zu Spottpreisen den Besitzer wechselt - "... an diesem hellen Abend, an dem sie, wie sie es sich hier angewöhnt hatte, in Schlangenlinien heimging, um nicht über die Leichen zu stolpern, ... an diesem Montagabend, an dem ihre Mutter ihr die für die Armbanduhr eingetauschten Kartoffeln vorsetzte, sehr wahrscheinlich die letzten, die sie in ihrem Leben gegessen haben würde, an diesem Abend schon ruhten die Bettlaken von Ernst, Elisabeth und Doris, je paarweise für Preise zwischen Mk. 8, Pf. 40 und Mk. 8, Pf. 70 ersteigert, laufende Nummern 177 bis 185, glattgestrichen in den Wäscheschränken der Familien Wittger, Schulz, Müller, Langmann und Brühl, Klemker, Fröhlich und Wulf."3
Eine verkaufte jüdische Existenz, an der sich die zurückgebliebenen ehrbaren Deutschen bereicherten. Während die einen sich dem Tod nähern, machen es sich die anderen auf deren Leben bequem.

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Ein neues Kapitel schlägt die aus der russischen Emigration heimgekehrte Kommunistin auf, deren Reflexionen zur alten Heimat Deutschland klar machen, dass es nach den Umbrüchen von völliger Entzivilisierung im Nationalsozialismus und seinen Verbrechen und der folgenden Umwertung aller Werte nicht mehr leicht ist, von einer deutschen Heimat zu reden.
Sogar einem NS-Funktionär musste klar sein, "daß daheim niemals mehr Bayern, niemals mehr Nordseestrand oder Berlin heißen würde, daheim hatte sich in die Zeit selbst verwandelt, die hinter ihm lag, Deutschland sich auf Nimmerwiedersehen in etwas Körperloses ... Nachdem er durch eine kurze Verzweiflung hindurchgeschwommen war, hatte sich der deutsche Beamte ums Bleiben auf seinem Posten beworben. Jene aber, die vor ihrer eigenen Verwandlung ins Ungeheure aus der Heimat geflohen waren, wurden durch das, was sie von zu Hause erfuhren, nicht nur für die Jahre der Emigration, sondern, wie es ihr inzwischen scheint, auf immer ins Unbehauste gestoßen, unabhängig davon, ob sie zurückkehrten oder nicht."4

Bunker mit Ausblick. Lutherhaus Wittenberg, 2015.
Wohin also kehren sie zurück? Vor dieser Frage standen viele der Rückkehrer, wie es sich exemplarisch eindrucksvoll auch in Ursula Krechels "Landgericht" präsentiert. Bei Jenny Erpenbeck wiederholt die Heimkehrerin auf ihrer Schreibmaschine stetig "I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m", wie um sich selbst zu überzeugen, dass dies nun ihre Heimat ist, dieser neue sozialistisch aufgebaute Staat, der sie viel zu schnell vor den Kopf stößt.

"Nein, sie und ihr Mann sind nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern sie wollten dies Land, und es war nur zufällig das, dessen Sprache sie sprachen, heimholen in ihre Gedanken."5

Wer jedoch sein Leben, seine Herkunft, seine Geschichte, seine Eigenarten in die eigenen Gedanken heimholen will, der weiß, wie die Gläubigen aller Zeiten, dass es nicht der Boden, nicht die Einrchtung und nicht die Architektur sind, die Heimat ausmachen.
Auch wenn vieles gerade daran zu hängen scheint.



1   J. Erpenbeck, Heisuchung. 6. Aufl. München 2010, 38.
2   Ebd., 42.
3   Ebd., 88f.
4   Ebd., 115f.
5   Ebd., 121.