Wie vor einiger Zeit hier
schon zu lesen war, beschäftigt mich gerade u.a. die
Frömmigkeit der Kreuzabnahme.
Ein von Volker Stelzmann nach einer
Vorlage von Hans Baldung Grien angefertigter Stich
weist hin auf die liebevolle Weitergabe des Leibes Christi, der in
der Kirche als "lebendiger Leib Christi" ebenso wie in der
Eucharistie als "sakramentaler Leib Christi" verehrt wird.
Die Innigkeit und Behutsamkeit der
Darstellung, die bei Stelzmann einer freundschaftlichen Umarmung
nahekommt, korrespondiert mit einem Gedicht von Jan Twardowski, das
ich neulich fand und hier vorstellen möchte.
Kruzifix. Kloster Andechs, 2015. |
Kreuzabnahme1
Ich beginne mit dem Kopf
frage nicht ob er schmerzt
der Tod verträgt solche Fragen
nicht wozu auch
ich streiche jetzt die Haare zurück
unter der zu schweren Krone
die sich wie schwarze Schafe drängen
danach entferne ich die Dornen
küsse sie der Reihe nach
zähle laut erster zweiter dritter
bedrohliche bissige traurige spaßige
wie rote Wachsmalkreide für Kinder
jetzt nehme ich Ihm die Träne vom
Gesicht
diese letzte die erkaltet brennt
schließlich reiße ich die Beine
die Hände von den Nägeln
weiter weiß ich nicht was weiter
und wenn die Welt einstürzte ich
bete zum Herzen um ein Herz
Die Sprache rückt einem auf den Leib,
es ist dem Leser wenig emotionale Distanz zum Geschehenden möglich.
Dahinter steht eine aus dem Mittelalter
herkommende mystische Frömmigkeit, in der die Bilder zeigen, "wie
in der Christusgestalt das Leiden einen den Gläubigen einbeziehenden
Ausdruck fand."2
Wie im mittelalterlichen Andachtsbild so erhält auch hier "die
individuelle Frömmigkeit abseits des Kults eine
Identifikationsmöglichkeit."3
Der Mensch und der Gottmensch Jesus
Christus kommen einander im Leiden und Mitleiden so nah, dass es fast
schon schmerzt, die Zeilen lesen zu müssen. Der Kopf, die schwarzen
Haare, die Dornen, die Träne, die "erkaltet brennt",
die Beine und Hände, alles wird vor Augen geführt und mit Worten
liebkost.
Kreuz mit Feueröscher. Krypta des Berliner Domes, 2015. |
Denn aus dem beschriebenen Tun spricht
eine ungeheure Zärtlichkeit, die streicht und küsst und genau
zählt. Nur wirkt sie auf die meisten von uns mindestens ungewohnt,
wenn nicht gar abschreckend.
In drei Vierteln des Gedichtes spielt
sich all die Nähe im Kopfbereich des vom Kreuz Genommenen ab, die
erste Zeile lässt ja auch verlauten, dass der Verehrer mit dem Kopf
"beginnen" will.
Als endlich einigermaßen brutal (aus
Hektik, ungestümer innerer Bewegtheit, ratloser
Unrast?) die Extremitäten von den Nägeln gerissen sind,
"weiß ich nicht was weiter" – eine Schwelle ist
erreicht.
Denn womit eigentlich will er beginnen?
Da sich mit Zeile zwei und drei die Frage nach Schmerzen erübrigt,
wäre zu vermuten, dass auch die folgenden liebkosenden Handlungen
eigentlich überflüssig sind.
Doch ebenso wie bei den traditionellen
Pietá-Darstellungen oder dem Motiv der Johannesminne sucht sich hier
die gläubige Liebe einen quasi-körperlichen Ausdruck. Mittelbar,
durch Worte und die sinnliche Vorstellung der Verehrung des
gestorbenen Herrn, sucht die Liebe sich einen Weg.
Am Ende, wenn Verstehen und Wissen
nicht mehr weiterkommen, steht diese klare innere Einsicht: selbst
wenn gar nichts mehr existieren würde, ist ein Herz, ein liebendes
und bewegtes Herz vom Herzen Gottes, das, was die Höhe des
Menschseins ausmacht.
Das Entscheidende in einem menschlichen
Leben, so scheint Twardowski zu sagen, besteht, jenseits von
Nützlichkeit und Lächerlichkeit, fern von Gleichgültigkeit und
Distanz, darin, ein fühlendes Herz aus Fleisch, kein Herz aus Stein
zu besitzen (vgl. Ez 36,26 und hier).
Das ist wohl auch die Antwort auf meine
bleibende Frage, was der Sinn des Motivs der Kreuzabnahme sei: Liebe
zu zeigen.
Liebe körperlich zu zeigen als Höhe
des Menschseins – das gilt auch dann, wenn man mit dem konkreten
Ausdruck der Herz-Jesu-Verehrung oder der Kreuzes- und
Leidensfrömmigkeit nichts anzufangen weiß.
Kreuz mit Baum. Stadtkirche St. Jakobus, Dornburg / Saale, 2015. |
1 J.
Twardowski, Bóg prosi o miłość. Gott fleht um Liebe. Ausgewählt
und bearbeitet von Aleksandra Iwanowska. Krakau 2000, 241.
2 H.
Schwebel, Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts.
München 2002, 44.