Sonntag, 7. Juni 2015

Lebendiger und toter Leib – Über die "Kreuzabnahme nach HBG" von Volker Stelzmann und die Kirche

Dieses Jahr hatte ich einen besonderen Fronleichnamsdonnerstag. Während an vielen Orten Menschen in Prozessionen hinter dem "lebendigen Leib des Herrn" hergingen, war ich auf einer Beerdigung, bei der wir den toten Leib eines Kindes unter die Erde begleiteten.

Im Nachhinein regen sich neben Betroffenheit und Mitgefühl auch reflektierende Gedanken über dieses Zusammentreffen in mir. Die Feier des lebendigen und die Trauer um den toten Leib gehören in der Christentumsgeschichte schließlich eng zusammen. 
Volker Stelzmann, Kreuzabnahme nach HBG. 1981.
Radierung

1 Dreifache Leibesgeschichte
Die religiöse Vergegenwärtigung der Leibesgeschichte Jesu Christi ist ein bekannter Topos des Christentums: Das göttliche Wort tritt mit Jesus in einen menschlichen Leib ein. Am Ende seines Lebens verheißt Jesus seine bleibende Gegenwart unter der leiblichen Gestalt von Brot und Wein. Menschwerdung und Eucharistie rücken in dieser Sicht eng zusammen – ihre Schnittmenge ist der sichtbare Ausdruck des Christus-Wortes. Aber auch die Kirche macht ihren Herrn als Leib Christi in vielen Gliedern sichtbar (vgl. 1Kor 12,12-31).

So kennt die Theologie ein "Ineinander der drei Bedeutungen von 'Leib Christi': der Leib Jesu Christi am Kreuz als Hingabe, der Leib Jesu Christi als Eucharistie, der Leib Jesu Christi als Kirche."1
Ein Blick in die Kunstgeschichte kann diese theologische Überlegung verdeutlichen.

2 Das Motiv der Kreuzabnahme
Vor einiger Zeit habe ich mir ein Bild gekauft. Es ist eine Radierung von Volker Stelzmann (*1940) aus dem Jahr 1981 und zeigt das Motiv der Kreuzabnahme Christi in Anlehnung an einen Holzschnitt von Hans Baldung Grien (+ 1545).

Die Sorge um den Leib des toten Jesus in der Frömmigkeitsgeschichte habe ich nie so recht verstanden. Trotzdem war ich fasziniert von der Häufigkeit und Varianz dieses Motivs in der christlichen Kunst.

Was machte die Darstellung von Menschen, die sich um den toten Leib Jesu sorgen, so interessant, dass das Motiv der Kreuzabnahme auf den Externsteinen im Teutoburger Wald, in der orthodoxen Ikonographie, bei Rogier van der Weyden oder Max Beckmann und an vielen anderen Stellen erscheint, obwohl es biblisch äußerst spärlich bezeugt ist?

Der Umgang mit Toten hatte während der Blüte dieses Motivs im Mittelalter eine viel lebensnähere Bedeutung. Die liturgische Sorge für den Leichnam findet sich dementsprechend wieder im siebten Werk der Barmherzigkeit, nach dem die Toten begraben werden sollen.

So formte sich auch der liturgische und bildnerische Motivkreis um den toten Jesus mit den Motiven der Pietá, der Grablegung, der Beweinung und eben der Abnahme Jesu vom Kreuz. Die Aufmerksamkeit für den Leichnam des Herrn und sein Grab "beruht aber wohl auch auf der emotionalen Tiefe, die dem Grabkult im Gefühlshaushalt der Menschen überhaupt zukommt",2 so beschreibt es Alex Stock in seiner Poetischen Dogmatik.
Vor der religiösen Vertiefung aber zunächst ein Blick auf das Bild und seinen Schöpfer.

3 "Kreuzabnahme nach HBG" von Volker Stelzmann
Die Radierung zeigt zwei Personen, die sich um den Leichnam Jesu bemühen. Auf einer Leiter steht, über das Kreuz nach vorn gebeugt, ein bärtiger älterer Mann mit Kapuze. Er lässt den Toten an einem Tuch in die Arme der zweiten Person, einer Frau mit Schleier, herab.

Nach Joh 19,38f sind es zwar Josef aus Arimathäa und Nikodemus, die den Toten vom Kreuz nehmen und beerdigen, aber zuvor wird dort (19,25f) auch von den Frauen und Johannes unter dem Kreuz gesprochen, biblisch wäre es also nicht unmöglich, dass diese noch anwesend sind. Außerdem ist in Rechnung zu stellen, dass Maria im Laufe der Zeit zur "Zentralperson"3 der Darstellungen nach dem Tode Jesu wurde (was sich besonders an den vielen Pietá-Darstellungen zeigt), darum kann angenommen werden, dass Grien/Stelzmann hier Maria darstellen wollten.

Der Tote selbst schwebt zwischen dem Kreuz, an dem seine Füße auch noch befestigt sind, und den Armen der Mutter. Möglicherweise deutet sich auf diese Weise schon das Begräbnis als Eingehen in den Schoss der Mutter Erde an.

Im Gegensatz zu Hans Baldung Grien ist der Kopf des Abgenommenen bei Stelzmann der eines Heutigen. Keine langen Haare, kein Bart, keine Dornenkrone. Bei aller Anlehnung an Grien wollte Stelzmann die Szene nicht nach der klassischen Ikonographie gestalten. Dies zeigt sich auch in seinen anderen, jeweils sehr verschiedenen ausgestalteten großformatigen Kreuzabnahmen von 1978/79, 1981, 1982.4

Stelzmann selbst äußerte sich 1984 über sein Verhältnis zu christlichen Motiven und Themen: "Die europäische und die deutsche Kunst sind bestimmt von der spannungsvollen und komplizierten Auseinandersetzung mit christlicher Ethik, Moralvorstellung und Realität. Sie ist gefordert, eingeengt und befördert durch die sinnlichen Bilder und Gleichnisse der Bibel. Diese Musterbilder menschlicher Beziehungen sind über Jahrhunderte gegenwärtig, und unsere Kunst ist ohne diese Prägungen undenkbar. Die Bilder sind befestigt und in ständiger Bewegung. Weshalb sollte mich das nichts angehen?"5
(Zur Einordnung muss man wissen, dass Stelzmann erst 1986 die DDR verließ und bis dahin noch im Vorstand des Berufsverbands Bildender Künstler der DDR aktiv war.6)

Christliche Agitation ist also nicht sein Ziel und konnte es im Kontext seines Wirkungsfeldes in der DDR auch nicht sein. Trotzdem tauchen ins Heute gesetzte christliche Szenen, vornehmlich im Motivumfeld von Kreuz und Auferstehung, bei Stelzmann gehäuft auf.7 Die Deutung, die im ersten Werkverzeichnis von R. Behrends angeboten wird, hört sich fast wie eine spirituelle Einweisung an: "Seine Passionsbilder sind also nicht zu fassen als ein Weggehen vom Heute. In ihnen finden Erkenntnisse, Erfahrungen, Enttäuschungen und auch Hoffnungen eines Zeitgenossen Ausdruck und Sprache, der sie groß in Bildern formuliert, um vielleicht anderen – den Betrachtern – hilfreich sein zu können in ihren Bedrängnissen und Ängsten und auch darum, ihre Kräfte zu stärken zur Überwindung dieser Lebenshemmnisse."8

Volker Stelzmann, Kreuzabnahme nach HBG. 1981.
(Ausschnitt)
Die Allgemeingültigkeit, die Stelzmann auf diese Weise anzielt, wird besonders durch die erwähnte Abänderung des Kopfes im Vergleich zur Vorlage von Hans Baldung Grien betont. Der Leib des in die Umarmung gesenkten Toten, so scheint Stelzmann sagen zu wollen, ist einer von uns. So werden auch wir vielleicht jene, die ihn im Arm halten.

4 Der Leib der Kirche umarmt den Leib des Herrn
Damit stehen wir auf der Schwelle der theologischen Deutung. Denn die anfangs erwähnte Leibesgeschichte hat hier ihren Anfang. Während sonst oft Pfingsten als Geburt der Kirche verstanden wird, rückt das Motiv der Kreuzabnahme eine vorösterliche Kirchengemeinschaft in den Blick.
Im Sinne von Paulus und seinem Kirchenbild des Leibes Christi aus den vielen Gliedern der einzelnen Begabungen und Aufgaben (vgl. 1Kor 12,12-31) nämlich lässt sich die Kreuzabnahme als "passionsikonographische Weiterführung"9 dieser Leib-Ekklesiologie denken. Wie der lebendige Leib der Kirche sich selbst in der Tradition durch die Generationen weitergibt, so geben die Akteure der Kreuzabnahme den toten Leib aneinander weiter. Die Weitergabe des Toten verweist auf die Weitergabe des Lebendigen.
Alle Menschen, die bei den Darstellungen der Kreuzabnahme "eine Berührung des Körpers suchen oder mit Klagegebärden den Vorgang begleiten",10 werden Teil der "Körperschaft": "Durch den körperlichen Kontakt und die Resonanz im Körperausdruck der Umstehenden bildet sich um den toten Leib ein lebendiger. Der, den sie halten, hält sie zusammen als Glieder eines Leibes."11
Weil sie sich um den toten Leib Christi sammeln, werden die Abgebildeten zum lebendigen Leib Christi. Denn die Verehrung des Leibes Christi ist nicht nur die Verehrung der Hostie, sondern auch die Sorge für den Toten. Ohne Brot, ohne Glanz.

5 Umarmung
Um auf den Anfang zurück zu kommen: Die Kirche (und das heißt die einzelnen Christen in ihr) muss Maß nehmen an ihrer Haltung zum Leib des Herrn in seinen verschiedenen Bedeutungen. Darum kann ihre Andacht nicht nur dem lebendigen Leib des Herrn in der Eucharistie gelten, sondern auch ihre einzelnen Glieder, seien sie lebendig oder tot, verlangen Würdigung und "Umarmung". Denn wenn ihr diese eine Umarmung wert sind, dann umarmt sie damit auch ihren Grund und dann gibt sie wirklich den Leib des Herrn weiter.



1   K. Lehmann, Einheit der Kirche und Gemeinschaft im Herrenmahl. Zur neueren ökumenischen Diskussion um Eucharistie- und Kirchengemeinschaft. Bonn 2000, 9. [Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 21]
2
   A. Stock, Poetische Dogmatik. Christologie. 3. Leib und Leben. Paderborn, München, Wien, Zürich, 1998, 206.
3   Ebd.
4   Im Werkverzeichnis die Nr. 164; 207; 225; in: Ludwig-Institut für Kunst der DDR (Hg.), Volker Stelzmann 1967-1985. Werkverzeichnis der Gemälde und Grafik. Oberhausen o.J. (1985).
5   Zit. n. R. Behrends, Stelzmanns Suche nach der Wahrheit. In: Ludwig-Institut für Kunst der DDR (Hg.), a.a.O., 11-18, hier: 16.
6   Eine interessante Darstellung dieser Zeit aus zeitgenössischer Sicht findet sich unter: http://www.zeit.de/1988/46/da-sitzt-ja-euer-schmelzmann/komplettansicht
7   Über ein Pietá-Bild Stelzmanns aus dem Jahr 1981 heißt es beispielsweise: "Sein Kunstgriff, 'letzte' Fragen an eine atheistische, sozialistische Gesellschaft, vermittelt über ein zentrales Motiv christlicher Ikonographie zu stellen, verblüffte die Kunstkritik in Ost und West." (E. Gillen, Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990. Bonn 2009, 400.)
8   R. Behrends, a.a.O., 16.
9   A. Stock, a.a.O., 207.
10   Ebd.
11   Ebd.