Dieses Jahr hatte ich einen besonderen
Fronleichnamsdonnerstag. Während an vielen Orten Menschen in
Prozessionen hinter dem "lebendigen Leib des Herrn"
hergingen, war ich auf einer Beerdigung, bei der wir den toten Leib
eines Kindes unter die Erde begleiteten.
Im Nachhinein regen sich neben
Betroffenheit und Mitgefühl auch reflektierende Gedanken über
dieses Zusammentreffen in mir. Die Feier des lebendigen und die
Trauer um den toten Leib gehören in der Christentumsgeschichte
schließlich eng zusammen.
Die religiöse Vergegenwärtigung der
Leibesgeschichte Jesu Christi ist ein bekannter Topos des
Christentums: Das göttliche Wort tritt mit Jesus in einen
menschlichen Leib ein. Am Ende seines Lebens verheißt Jesus seine
bleibende Gegenwart unter der leiblichen Gestalt von Brot und Wein.
Menschwerdung und Eucharistie rücken in dieser Sicht eng zusammen –
ihre Schnittmenge ist der sichtbare
Ausdruck des Christus-Wortes. Aber auch die Kirche macht ihren
Herrn als Leib Christi in vielen Gliedern sichtbar (vgl. 1Kor
12,12-31).
So kennt die Theologie ein "Ineinander
der drei Bedeutungen von 'Leib Christi': der Leib Jesu Christi am
Kreuz als Hingabe, der Leib Jesu Christi als Eucharistie, der Leib
Jesu Christi als Kirche."1
Ein Blick in die Kunstgeschichte kann
diese theologische Überlegung verdeutlichen.
2 Das Motiv der Kreuzabnahme
Vor einiger Zeit habe ich mir ein Bild
gekauft. Es ist eine Radierung von Volker Stelzmann (*1940) aus dem
Jahr 1981 und zeigt das Motiv der Kreuzabnahme Christi in Anlehnung
an einen Holzschnitt von Hans Baldung Grien (+ 1545).
Die Sorge um den Leib des toten Jesus
in der Frömmigkeitsgeschichte habe ich nie so recht verstanden.
Trotzdem war ich fasziniert von der Häufigkeit und Varianz dieses
Motivs in der christlichen Kunst.
Was machte die Darstellung von
Menschen, die sich um den toten Leib Jesu sorgen, so interessant,
dass das Motiv der Kreuzabnahme auf den Externsteinen
im Teutoburger Wald, in der orthodoxen Ikonographie, bei Rogier
van der Weyden oder Max Beckmann und an vielen anderen Stellen
erscheint, obwohl es biblisch äußerst spärlich bezeugt ist?
Der Umgang mit Toten hatte während der
Blüte dieses Motivs im Mittelalter eine viel lebensnähere
Bedeutung. Die liturgische Sorge für den Leichnam findet sich
dementsprechend wieder im siebten Werk der Barmherzigkeit, nach dem
die Toten begraben werden sollen.
So formte sich auch der liturgische und
bildnerische Motivkreis um den toten Jesus mit den Motiven der Pietá,
der Grablegung, der Beweinung und eben der Abnahme Jesu vom Kreuz.
Die Aufmerksamkeit für den Leichnam des Herrn und sein Grab "beruht
aber wohl auch auf der emotionalen Tiefe, die dem Grabkult im
Gefühlshaushalt der Menschen überhaupt zukommt",2
so beschreibt es Alex Stock in seiner Poetischen Dogmatik.
Vor der religiösen Vertiefung aber
zunächst ein Blick auf das Bild und seinen Schöpfer.
3 "Kreuzabnahme nach HBG" von Volker
Stelzmann
Die Radierung zeigt zwei Personen, die
sich um den Leichnam Jesu bemühen. Auf einer Leiter steht, über das
Kreuz nach vorn gebeugt, ein bärtiger älterer Mann mit Kapuze. Er
lässt den Toten an einem Tuch in die Arme der zweiten Person, einer
Frau mit Schleier, herab.
Nach Joh 19,38f sind es zwar Josef aus
Arimathäa und Nikodemus, die den Toten vom Kreuz nehmen und
beerdigen, aber zuvor wird dort (19,25f) auch von den Frauen und
Johannes unter dem Kreuz gesprochen, biblisch wäre es also nicht
unmöglich, dass diese noch anwesend sind. Außerdem ist in Rechnung
zu stellen, dass Maria im Laufe der Zeit zur "Zentralperson"3
der Darstellungen nach dem Tode Jesu wurde (was sich besonders an den
vielen Pietá-Darstellungen zeigt), darum kann angenommen werden,
dass Grien/Stelzmann hier Maria darstellen wollten.
Der Tote selbst schwebt zwischen dem
Kreuz, an dem seine Füße auch noch befestigt sind, und den Armen
der Mutter. Möglicherweise deutet sich auf diese Weise schon das
Begräbnis als Eingehen in den Schoss der Mutter Erde an.
Im Gegensatz zu Hans Baldung Grien
ist der Kopf des Abgenommenen bei Stelzmann der eines Heutigen. Keine
langen Haare, kein Bart, keine Dornenkrone. Bei aller Anlehnung an
Grien wollte Stelzmann die Szene nicht nach der klassischen
Ikonographie gestalten. Dies zeigt sich auch in seinen anderen,
jeweils sehr verschiedenen ausgestalteten großformatigen
Kreuzabnahmen von 1978/79, 1981, 1982.4
Stelzmann selbst äußerte sich 1984
über sein Verhältnis zu christlichen Motiven und Themen: "Die
europäische und die deutsche Kunst sind bestimmt von der
spannungsvollen und komplizierten Auseinandersetzung mit christlicher
Ethik, Moralvorstellung und Realität. Sie ist gefordert, eingeengt
und befördert durch die sinnlichen Bilder und Gleichnisse der Bibel.
Diese Musterbilder menschlicher Beziehungen sind über Jahrhunderte
gegenwärtig, und unsere Kunst ist ohne diese Prägungen undenkbar.
Die Bilder sind befestigt und in ständiger Bewegung. Weshalb sollte
mich das nichts angehen?"5
(Zur Einordnung muss man wissen, dass
Stelzmann erst 1986 die DDR verließ und bis dahin noch im Vorstand
des Berufsverbands Bildender Künstler der DDR aktiv war.6)
Christliche Agitation ist also nicht
sein Ziel und konnte es im Kontext seines Wirkungsfeldes in der DDR
auch nicht sein. Trotzdem tauchen ins Heute gesetzte christliche
Szenen, vornehmlich im Motivumfeld von Kreuz und Auferstehung, bei
Stelzmann gehäuft auf.7
Die Deutung, die im ersten Werkverzeichnis von R. Behrends angeboten
wird, hört sich fast wie eine spirituelle Einweisung an: "Seine
Passionsbilder sind also nicht zu fassen als ein Weggehen vom Heute.
In ihnen finden Erkenntnisse, Erfahrungen, Enttäuschungen und auch
Hoffnungen eines Zeitgenossen Ausdruck und Sprache, der sie groß in
Bildern formuliert, um vielleicht anderen – den Betrachtern –
hilfreich sein zu können in ihren Bedrängnissen und Ängsten und
auch darum, ihre Kräfte zu stärken zur Überwindung dieser
Lebenshemmnisse."8
Volker Stelzmann, Kreuzabnahme nach HBG. 1981. (Ausschnitt) |
Die Allgemeingültigkeit, die Stelzmann
auf diese Weise anzielt, wird besonders durch die erwähnte
Abänderung des Kopfes im Vergleich zur Vorlage von Hans Baldung
Grien betont. Der Leib des in die Umarmung gesenkten Toten, so
scheint Stelzmann sagen zu wollen, ist einer von uns. So werden auch
wir vielleicht jene, die ihn im Arm halten.
4 Der Leib der Kirche umarmt den Leib
des Herrn
Damit stehen wir auf der Schwelle der
theologischen Deutung. Denn die anfangs erwähnte Leibesgeschichte
hat hier ihren Anfang. Während sonst oft Pfingsten als Geburt der
Kirche verstanden wird, rückt das Motiv der Kreuzabnahme eine
vorösterliche Kirchengemeinschaft in den Blick.
Im Sinne von Paulus und seinem
Kirchenbild des Leibes Christi aus den vielen Gliedern der einzelnen
Begabungen und Aufgaben (vgl. 1Kor 12,12-31) nämlich lässt sich die
Kreuzabnahme als "passionsikonographische Weiterführung"9
dieser Leib-Ekklesiologie denken. Wie der lebendige Leib der Kirche
sich selbst in der Tradition durch die Generationen weitergibt, so
geben die Akteure der Kreuzabnahme den toten Leib aneinander weiter.
Die Weitergabe des Toten verweist auf die Weitergabe des Lebendigen.
Alle Menschen, die bei den
Darstellungen der Kreuzabnahme "eine Berührung des Körpers
suchen oder mit Klagegebärden den Vorgang begleiten",10
werden Teil der "Körperschaft": "Durch den
körperlichen Kontakt und die Resonanz im Körperausdruck der
Umstehenden bildet sich um den toten Leib ein lebendiger. Der, den
sie halten, hält sie zusammen als Glieder eines Leibes."11
Weil sie sich um den toten Leib Christi
sammeln, werden die Abgebildeten zum lebendigen Leib Christi. Denn
die Verehrung des Leibes Christi ist nicht nur die Verehrung der
Hostie, sondern auch die Sorge für den Toten. Ohne Brot, ohne Glanz.
5 Umarmung
Um auf den Anfang zurück zu kommen:
Die Kirche (und das heißt die einzelnen Christen in ihr) muss Maß
nehmen an ihrer Haltung zum Leib des Herrn in seinen verschiedenen
Bedeutungen. Darum kann ihre Andacht nicht nur dem lebendigen Leib
des Herrn in der Eucharistie gelten, sondern auch ihre einzelnen
Glieder, seien sie lebendig oder tot, verlangen Würdigung und
"Umarmung". Denn wenn ihr diese eine Umarmung wert sind,
dann umarmt sie damit auch ihren Grund und dann gibt sie wirklich den
Leib des Herrn weiter.
1 K.
Lehmann, Einheit der Kirche und Gemeinschaft im Herrenmahl. Zur
neueren ökumenischen Diskussion um Eucharistie- und
Kirchengemeinschaft. Bonn 2000, 9. [Der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz 21]
2 A. Stock, Poetische Dogmatik. Christologie. 3. Leib und Leben. Paderborn, München, Wien, Zürich, 1998, 206.
2 A. Stock, Poetische Dogmatik. Christologie. 3. Leib und Leben. Paderborn, München, Wien, Zürich, 1998, 206.
3 Ebd.
4 Im
Werkverzeichnis die Nr. 164; 207; 225; in: Ludwig-Institut für
Kunst der DDR (Hg.), Volker Stelzmann 1967-1985. Werkverzeichnis der
Gemälde und Grafik. Oberhausen o.J. (1985).
5 Zit.
n. R. Behrends, Stelzmanns Suche nach der Wahrheit. In:
Ludwig-Institut für Kunst der DDR (Hg.), a.a.O., 11-18, hier: 16.
6 Eine
interessante Darstellung dieser Zeit aus zeitgenössischer Sicht
findet sich unter:
http://www.zeit.de/1988/46/da-sitzt-ja-euer-schmelzmann/komplettansicht
7 Über
ein Pietá-Bild Stelzmanns aus dem Jahr 1981 heißt es
beispielsweise: "Sein Kunstgriff, 'letzte' Fragen an eine
atheistische, sozialistische Gesellschaft, vermittelt über ein
zentrales Motiv christlicher Ikonographie zu stellen, verblüffte
die Kunstkritik in Ost und West." (E. Gillen, Feindliche
Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990. Bonn
2009, 400.)
8 R.
Behrends, a.a.O., 16.
9 A.
Stock, a.a.O., 207.
10 Ebd.
11 Ebd.