Die Frage, ob Raum und Zeit in Sinn
umzurechnen seien, schien mir zuerst ein wenig spekulativ. Aber dann
habe ich das unglaubliche Buch "Vielleicht Esther"
von Katja Petrowskaja gelesen. In dieser autobiographischen
Spurensuche feiert das eigentlich vormoderne Denken, nach dem sich im
Namen Sinn verbirgt, seine sprachlich-sinngefüllte Auferstehung.
Umrechenaufgabe 1. St. Clara, Neukölln, Berlin, 2015. |
Denn schon anhand ihres Nachnamens
stellt die Autorin eindrücklich unter Beweis, wie sie Sinn versteht:
weil ihr Großvater während der Revolution den Namen Petrowskij
angenommen hatte, heißt sie selbst nun ebenso nach dem griechischen
Wort für Stein und nicht so, wie noch des Großvaters Bruder als
"ein Stern unter Steinen"1
strahlte. Dieser Judas Stern nämlich prägte die deutsch-russische
Geschichte durch sein Attentat auf einen deutschen Diplomaten im
Moskau der frühen Dreißiger. Zu ihrem Vater meint sie darum:
"Judas und Stern, wer, Papa,
denkt nicht gleich an den gelben Stern, wenn ich diesen Namen
ausspreche? ... Nur wenige Jahre später, da war unser Held schon
tot, wurde der Stern in den Ghettos am Ärmel getragen, ein
vorzeitiger Gedanke, wie die Wehen deiner Mutter, Papa."2
Diese wiederum gebar ihren Sohn, den
Vater der Autorin, wegen einer Hausdurchsuchung im Gefolge des
Attentats früher.
Mit solcherlei Verknüpfungen von
Sternen, Steinen und Wehen erweitert sich die Sinnwahrnehmung der
Leser enorm (ohne den Bogen aber zu überspannen). Die Geschehnisse
leuchten neu auf durch die Fäden, die Katja Petrowskaja mit ihrer
assoziativen Sprache zieht. "Du machst aber kühne
Vergleiche, sagte mein Vater."3
Das stimmt – und die Vergleiche und
Sprachbilder machen den eigentlichen Reiz des Buches aus. Sprach- und
Sinnspiele durchziehen es von Anfang bis Ende. In der Warschauer
Ulica Ciepła (der warmen
Straße) ist der Autorin dauerhaft kalt, die Kiewer Ulica Florenzii
ihrer Kindheit steht auch für alles Italienische, so dass sogar
Briefe in die nicht existente Ulica Venezii dorthin zugestellt
werden. Auch bei ihren Recherchen in Kalisz, die sie an die
familiären Ursprünge führen sollen, stößt sie auf die keltischen
und slawischen Wortwurzeln des Ortsnamens, die "Quelle" und
"Sumpf"bedeuten, was natürlich der Suche äußerst
angemessen erscheint.
Umrechenaufgabe 2. Salinenmuseum, Halle / Saale, 2014. |
Ebenso wird die ständig präsente
Leidensgeschichte des jüdischen Volkes auf diese Weise neu
vermessen: "Im Jahr 1939, als der Krieg begann, lebte eine
Million Menschen in Warschau, neununddreißig Prozent davon Juden.
Ich bin jedesmal erstaunt, dass die Mörder und diejenigen, die des
Mordes gedenken, immer genau wissen, wie man zählt, diese
Neununddreißig verändert für mich alles. Bei neununddreißig geht
es nicht mehr um wir und die anderen, sondern um dich und deinen
Nachbarn, dachte ich, um jeden zweiten oder dritten, um dich und
mich. Im Jahre neununddreißig neununddreißig Prozent."4
Ja, viele wissen, wie man zählt,
sowohl die Mörder als auch die heutigen Erinnerer, aber was die
Zahlen in einem Menschen auslösen können, der sich vor Augen führt,
was dieses Vernichtungswerk bedeutet, das kann auch Katja Petrowskaja
nur mit Bildern andeuten: "Wenn man wie in Berlin für jeden
Menschen einen Stolperstein der Erinnerung in den Bürgersteig
einlassen würde, wären die Gassen und Straßen von Warschau mit
goldenen Steinen gepflastert."5
Bilder dieser Art sind ein Versuch,
sich dem Unvorstellbaren emotional zu nähern, ein anderer sind die
absurd erscheinende Frage nach der Umrechenbarkeit im Lager von
Mauthausen: "Wenn ein Mensch um so viel größer wäre als
ein Atom, wie die Sonne größer ist als ein Mench, was wäre dann
die Mitte zwischen dem Tod eines Einzelnen und dem Tod von Millionen?
Wäre es eine Zahl oder der Ort, an dem ich mich nun befinde?6
Die Umrechnung in Namen, in Orte, in
Zahlen, in Sinn schüttelt die Faktenwelt sozusagen neu auf und rückt
sie probeweise hinter ein anderes Vorzeichen. Im Versuch, das
existenzielle Fragen nach dem Schicksal der Familie in der Ukraine,
in Polen und Russland, in Deutschland und Österreich mit Gedanken
und Sprache zu fassen, wird es zugleich ästhetisiert und gebannt. So
gelesen, erscheint der Sinnüberschuss der Welt derart glasklar, dass
jede Reduktion auf bloß rational-technisches Weltlesen lächerlich
wirken muss.
Ganz im Sinne der Autorin bin ich
gebannt vom Nachvollziehen dieser Bannversuche und sehe, wie im
Schreiben aus der Unberechenbarkeit eine Umrechenbarkeit der Welt
wird, die mir Mut macht.
Eine herzliche Leseempfehlung!
Umrechenaufgabe 3. Westend, Berlin, 2015. |
1 K.
Petrowskaja, Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014, 142.
2 Ebd.,
157.
3 Ebd.
4 Ebd.,
105.
5 Ebd.