Das Johannesevangelium macht es seiner
Hörer- und Leserschaft nicht leicht. Genau genommen ist es ziemlich
unverschämt, wie viele verschiedene Gedanken da in einer kurzen
Textstelle zusammengepfercht und uns hingeworfen werden.
Im heutigen Abschnitt (Joh 2,13-25) ist
die Rede vom Tempel und seinem Abriss, von einem wütenden Jesus,
seinem Tod und seiner Auferstehung, von raffgierigen Händlern und
argwöhnischen Kritikern, vom "Menschen" allgemein und von
"den Juden" im besonderen.
Um hier etwas mehr Verstehen zu
ermöglichen, möchte ich ein paar Verständnisschneisen schlagen,
damit klar wird, worum es eigentlicht geht.
Ruinen im Herzen der Stadt. Altstadt von Jerusalem, 2013. |
1. Ein neues Zentrum
Das Zentrum der jüdischen Religiosität
war zur Zeit Jesu noch der Tempel in Jerusalem. Dorthin pilgerten
alle frommen Juden, die in Israel lebten, mindestens einmal im Jahr
zum Paschafest. Aber auch damals gab es schon Juden, die in der
Diaspora, also außerhalb ihrer religiösen Heimat Israel lebten. Für
diese war das religiöse Zentrum schon nicht mehr der Opferkult des
Tempels, den sie ohne monatelangen Reiseaufwand nicht mehr vollziehen
konnten, sondern ihr Zentrum war die Heilige Schrift – und in der
Schrift der Dekalog, den wir in der ersten Lesung gehört haben.
Das Johannesevangelium wurde um 100
nach Christus geschrieben. Zu dieser Zeit aber gab es den Tempel gar nicht mehr! Wenn im Evangelium also vom Tempel die
Rede ist und Jesus dieses Zentrum seiner Religion wieder anständig
behandelt wissen will, dann wissen die ersten Hörer dieser
Geschichte doch, ebenso wie der Autor und wir, dass Jerusalem und der
Tempel im Jahre 70 nach Christus von den Römern zerstört wurden.
Jesus verteidigt also im Evangelium
einen religiösen Ort, von dem die Hörer wissen, dass er nicht mehr
existiert.
Und so fügt der Evangelist Johannes eine eigene Erklärung der Tempelreinigung Jesu ein, die sich in den Geschichten von der
Tempelreinigung in den anderen Evangelien nicht findet.
Bei Johannes stellt Jesus sich selbst
als das Zentrum dar.
Er antwortet auf die Frage, was sein Angriff auf die Händler und Geldwechsler denn solle: "Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich
ihn wieder aufrichten" (v19) und für uns Begriffsstutzige
wird erklärt, damit "meinte [er] den Tempel seines Leibes"
(v21).
Jesus selbst ist also nach diesem Text
das neue Zentrum der Gottesverehrung. Sein Leib ist der neue
Tempel, er ist das bessere "Nachfolgemodell" des alten Gebäudes.
Es geht gar nicht mehr um irgendein altes Gemäuer, sondern um Jesus.
Es geht gar nicht mehr um irgendein altes Gemäuer, sondern um Jesus.
Das kann sich die Kirche (und jede
andere Religion) ja auch einmal fragen: Ob Gebäude und Bücher und
Privilegien und sonstwas wichtig sind oder ob Jesus selbst im Zentrum
steht.
Und überhaupt: Wie kommen die Kirchen
mit der Verschiebung des Zentrums in der Lebenswirklichkeit heutiger
Menschen zurecht? Religion spielt nicht mehr die Hauptrolle – wie
kann man damit umgehen, dass dies so ist?
Was wir für uns persönlich aus dieser
ersten Schneise mitnehmen können, ist die Frage: Was ist das Zentrum
meines Lebens? Hat sich das vielleicht auch schon einmal geändert,
zum Beispiel als ich in Haft gekommen bin? Oder blieb mein Zentrum
unverändert? Letztlich ist es die alte Frage: Worum dreht sich mein
Leben?
Undeutlich, aber unverkennbar. Kreuz an der Grabeskirche, Altstadt von Jerusalem, 2013. |
2. Eine doppelte Passion
Für Jesus drehte sich alles um Gott.
Die Ehre Gottes, so könnte man sagen, war seine Passion. Es regt ihn furchtbar auf, wenn sie mit Füßen getreten wird.
Und der Begriff "Passion" hat
auch in unserem Wortverständnis zwei Bedeutungen:
Einmal ist die Passion eine
Leidenschaft für etwas. Wenn jemand ein passionierter Raucher ist,
dann geht es eben nicht ohne. Oder nehmen Sie sonst ein passendes
Beispiel. Die Jünger jedenfalls erinnern sich beim Anblick Jesu an
ein biblisches Wort: "Der Eifer für dein Haus verzehrt mich"
(Ps 69,10) Diese Bedeutung von Passion kommt im ersten Teil unseres
Textes, bei Jesu Wutausbruch, zum Tragen.
Aber "Passion" heißt auch
Leiden. Wir befinden uns in der Passionszeit (oder Fastenzeit) und
erinnern uns besonders an das Leiden Jesu. Diese Bedeutung kommt eher
im zweiten Teil zum Tragen, wenn Jesus seine Kritiker ja geradezu
einlädt, ihm Gewalt anzutun, damit sich Gottes Handeln (in der
Wiedererrichtung seines Leibtempels) an ihm zeigen kann.
Beides hat natürlich einen inneren Zusammenhang:
Es ist auch diese radikale Leidenschaft
Jesu für die Ehre Gottes, die dazu führt, dass sich einige
Gruppierungen der Juden rasch in Opposition zu ihm begeben und ihm am
Ende tatsächlich Leid antun, indem sie ihn an die Römer ausliefern.
Die Ablehnung Jesu, die erst am Ende seines Lebens zum brutalen
Ausbruch kommt, wird schon hier (am Anfang des Johannesevangeliums)
deutlich.
Ein Beispiel aus dem letzten Jahr kann
diese Dynamik veranschaulichen. 2017 hat der us-amerikanische Jesuit
James Martin ein Buch zum Verhältnis zwischen Homosexuellen und
katholischer Kirche geschrieben, und das ist ein wirklich
spannungsreiches Verhältnis, wie sich jeder vorstellen kann. Er
möchte, dass eine von Respekt, Mitgefühl und Achtsamkeit geprägte
Kultur entsteht, in der Homosexuelle und ihre Angehörigen und
Freunde sich innerhalb der Kirche gesehen und wertgeschätzt fühlen.
Die Leidenschaft, mit der James Martin sich in dieser Sache
engagiert, ist konträr zur Gleichgültigkeit vieler US-Bischöfe
angesichts des Massakers in dem Club in Orlando, Florida, das zur
Abfassung des Buches geführt hat. In der Folge hat Martin nicht nur
viel Zustimmung und Unterstützung erfahren, sondern auch eine Menge
erleiden müssen: Auf Druck konservativer Gruppen wurde er von
Hochschulveranstaltungen wieder ausgeladen, einige kirchliche
Würdenträger meiden ihn, von der Hetze im Internet ganz zu
schweigen.
Ich möchte James Martin hier nicht mit
Jesus vergleichen, aber ich glaube, das Beispiel veranschaulicht gut,
wie jemand mit einer Passion-Leidenschaft sich oftmals auch auf
Passion-Leiden einstellen muss.
Für uns könnte sich daran die Frage
anschließen, für welche Überzeugungen wir denn brennen, wofür wir
einen hohen Einsatz bringen und was uns dann vielleicht Leiden
verursacht.
Und bis zu welchem Grad wir überhaupt
bereit für dieses Leiden sind – oder ob wir dem Leiden lieber
ausweichen...
3. Richtig erinnern
An zwei Stellen kommt die Formulierung
vor, dass sich die Jünger erinnerten. Nach dem Gewaltausbruch Jesu
fällt ihnen das schon genannte Psalmwort vom Eifer für das Haus
Gottes ein. Und in einem literarischen Zeitsprung in die Zeit nach
Jesu Kreuzigung und Auferstehung wird ihnen bei der Rede vom
Tempelabriss rückblickend klar, dass er eben von seinem eigenen
Schicksal gesprochen haben musste.
Erinnern an was? Musimische Graffiti, Altstadt von Jerusalem, 2013. |
Das richtige Assoziieren und Erinnern
also führt die Menschen zum Glauben.
Aber bevor ich das kurz ausführe, muss
ehrlicherweise gesagt werden, dass die konkrete Erinnerung an dieses
Ereignis etwas an den Haaren herbeigezogen sein muss.
Denn all der Handel und Geldwechsel
fand gar nicht im Tempel selbst statt, sondern im so genannten
"Vorhof der Heiden". Dort waren, wie der Name sagt, im
Gegensatz zum Inneren des Tempels, auch Nichtjuden zugelassen und die
religiöse Sphäre mithin gar nicht so sehr in Gefahr. Man hätte
sich also gar nicht so aufregen müssen.
Dazu kommt, dass der Geldwechsel einen
ebenso religiösen Grund hatte. Die jüdischen Frommen wollten das
Portrait des Kaisers, das auf den römischen Münzen abgebildet war,
nicht im Tempel haben, wenn Spenden gebracht wurden. Deshalb mussten
diese Münzen mit dem Abbild des Gottkaisers in andere Münzen
umgewechselt werden.
Es ging dabei also gerade darum, den
heiligen Ort und die religiösen Gefühle der Gläubigen zu schützen.
Doch Jesus regt sich anscheinend darüber auf.
Wenn wir heute historisch-kritisch auch
daran erinnern und uns in der Folge wundern, was da eigentlich los
war, dann ist es ein anderes Erinnern als der Evangelist Johannes im
Sinn hat.
Ihm geht es darum, dass Menschen zum
Glauben kommen und sein Evangelium ist darauf ausgerichtet und nur
aus diesem Grund geschrieben, um den Glauben an den Gottessohn Jesus
Christus zu wecken.
Der ist so souverän, dass er, wie der
letzte Vers sagt, nicht nur für die Ehre Gottes brennt, sondern auch
weiß, was im Menschen ist (v24f).
Und der Evangelist führt durch sein
spezielles Erinnern und durch seine Hinweise auf die Erinnerung der
Jünger immer wieder zum Kern des christlichen Glaubens. Auch hier
ist ihm mitten in der Schilderung des Disputs mit den nicht zum
Glauben gekommenen Juden wichtig, dass die Jünger (und mit ihnen die
späteren Hörer und Leser) einen Hinweis auf die Auferstehung entdecken können.
In der Fastenzeit als Zeit der
Vorbereitung auf Ostern sind wir gut beraten, uns immer wieder an das
letzte Ziel dieser Zeit zu erinnern: Die Auferstehung Jesu, die wir
jeden Sonntag feiern.
Sie ist der Kern der christlichen
Botschaft und soll der Kern unseres Lebens werden. Auch wenn unser
Leben uns insgesamt vielleicht manchmal als sehr fastenzeitlich
erscheint.
Die Aufgabe, die sich uns also im
Anschluss an diese Gedanken stellt ist klar: Im Erinnern unseres
eigenen Lebensweges, und sei er noch so schwer, jene Punkte nicht aus
dem Blick zu verlieren, die auf Heil und Auferstehung hoffen lassen.
***
Mit diesen drei Schneisen hoffe ich ein
paar Verstehenshilfen für diesen Text gegeben zu haben:
Verschiebung des Zentrums – Was ist
das Zentrum meines Lebens?
Doppelte Passion – Wofür brenne ich,
wofür bin ich bereit zu leiden?
Richtig erinnern – Wo gibt es in
meinem Leben Hinweise auf Auferstehung?
Erinnern in Yad Vashem. Jerusalem, 2013. |