Wir haben die Mauer gleich
am Tag unserer Ankunft in Jerusalem besucht. Im Anschluss an die kurze Anfahrt
aus Tel Aviv und die langwierige Suche nach einem Parkplatz
möglichst nahe am Hostel in der Neustadt sind wir trotz
einbrechender Dunkelheit sofort in die Altstadt gegangen.
Die eigentümliche Ruhe der bei Tage so geschäftigen Gassen der Suqs in der stillen Nacht ließ uns Neuankömmlinge gut
eintauchen in das alte Jerusalem.
Und dann der Platz vor der
Westmauer! Im vorderen Teil taghell erleuchtet bewegt sich Boden,
Mensch alles hinunter in Richtung der Absperrung, wo sich Männer
links und Frauen rechts auf dem Bezirk
direkt vor der Mauer sammeln.
Selbst nach zweiundzwanzig
Uhr ist es noch voller Menschen, auch kleine Kinder sind darunter –
aber trotz der Geschäftigkeit und den touristischen Kleingruppen im
oberen Teil des Platzes habe ich die Atmosphäre als sehr gesammelt
erlebt.
Was macht den Reiz dieses
Ortes aus?
Im Gegensatz zu den immer
überfüllt wirkenden christlichen Wallfahrtsstätten wie der Grabes-
oder der Geburtskirche ging es hier zunächst wirklich gesitteter zu
– jedenfalls in unserer Anwesenheit...
Dann, und ich glaube das
ist entscheidend, handelt es sich um einen Ort, der nicht
ursprünglich als Andachtsstätte geplant war, sondern sich erst nach
der Zerstörung eines anderen Ortes (nämlich des Tempels) allmählich
zum Gebetsort entwickelt hat. Dadurch entsteht ein sehr ursprünglicher, archaischer Eindruck des ganzen Ensembles.
Und sich zu verhalten ist
einfach: Menschen stellen oder setzen sich mit Blick auf eine Mauer.
Sitzen und schauen reicht dann auch manchmal schon: eine Mauer vor deren riesigen und rissigen Fundamentsteinen man steht, eine Mauer, deren Steine sich nach oben hin
ständig verkleinern, die an manchen Stellen grüne Pflanzen wuchern lässt
und in anderen Ritzen und Fugen eine Unmenge von Zetteln mit Bitte
oder Dank, Klage oder Lob bewahrt.
Gebet kann sich dann von
selbst ergeben aus dem, was im Herzen da ist. Ganz ignatianisch lässt
sich auch für Christen an dieser jüdischen Gebetsstätte einfach
hervorholen, anschauen und vor Gott bringen, was in mir in diesem
Moment vorhanden ist an Motivationen, Gefühlen, Erinnerungen,
Bewegungen, Gedanken, Hoffnungen... So jedenfalls habe ich es gemacht.
Genauso standen auch die
Menschen zur Zeit Jesu ganz in der Nähe im Tempel selbst – wie die
beiden Beispielgestalten, ein Pharisäer und ein Zöllner, von denen
Jesus in der bekannten Stelle des Evangeliums
erzählt (Lk 18,9-15). Traditionell werden in den Deutungen Arroganz
und Selbstüberschätzung des einen Demut und Schuldbewusstsein des
anderen gegenüber gestellt.
Vor der Mauer ist mir
bewusst geworden, woher diese Haltungen kommen - aus dem Verhältnis, in das ich mich Gott gegenüber stelle. Stehe ich als Könner da und behaupte, mein Leben in der Hand zu haben - oder halte ich es Gott mit offenen Händen hin... Ich denke, den
Ausschlag gibt wohl die Erinnerung an die mein und unser aller
Leben ermöglichende liebevolle Zuwendung Gottes, um sich in der bereiten Haltung des Zöllners wieder zu finden. Wir können durch die Generationen hindurch die ganze Geschichte dankbar erinnern - vom Bund Gottes mit Abraham über den Auszug aus Ägypten und den Beistand Gottes in Josua, Judit, David, Elija, Nehemia und all den Personen der Heilsgeschichte.
Mit den Worten Alexander Schmemanns: „Ein kontinuierliches Sich-an-Gott-Erinnern. Ja, darin liegt wirklich Inhalt und Ziel aller Dinge. Darin liegt das Leben.“1
Wer sich an Gott erinnert, wie es viele Menschen an dieser Mauer tun, kann sich, trotz aller Nöte und Tristheiten, immer neu dankbar gewiss werden, dass Gott das Leben durch die Zeiten hindurch will und möglich macht.
Mit den Worten Alexander Schmemanns: „Ein kontinuierliches Sich-an-Gott-Erinnern. Ja, darin liegt wirklich Inhalt und Ziel aller Dinge. Darin liegt das Leben.“1
Wer sich an Gott erinnert, wie es viele Menschen an dieser Mauer tun, kann sich, trotz aller Nöte und Tristheiten, immer neu dankbar gewiss werden, dass Gott das Leben durch die Zeiten hindurch will und möglich macht.
1 A.
Schmemann, Aufzeichnungen 1973-1983; zit. nach der Einleitung von
J.-H. Tück in: A. Schmemann, Eucharistie. Sakrament des
Gottesreichs. Freiburg 2005, 20.