Angesichts des Papstes Franziskus
fragen in der katholischen Kirche und darüber hinaus viele Menschen
nach den strukturellen Reformen, die nun ihrer Meinung nach seitens
des Papstes initiiert werden müssten. Auch ich frage mich das
bisweilen und nehme wahr, wie über Kurienreform, deutsche
Kirchenfinanzierung, Sakramentenpastoral, Weihevoraussetzungen,
Moraltheologie, Ökumene, Milieustudien und viele andere Dinge
gestritten und gerungen wird.
Vor dem Reformationstag stellt sich mir
aber auch die Frage, was wohl eines heutigen Luthers Ansatzpunkte
wären, mit den ganz konkreten gegebenen Fragen im Hinterkopf,
explizit von den Wurzeln her theologisch neu zu denken. Schließlich
ist heute klar und war auch Luther bewusst, dass eher „praktische“
Streitthemen wie Ablasshandel, Wiederverheiratete, Bilderverehrung
oder prunkvolle bischöfliche Bauten eng zusammenhängen mit den
basalen Fragen nach Gnade, Glaubenswissen, Freiheit, Schriftkenntnis.
Musikveranstaltung im Rosenkeller, Jena, 2012, Ausschnitt. |
Fünf Punkte waren es, die mich auf
einer S-Bahnfahrt spontan überfielen und die ich hier skizzieren will.
1 – Gottesbild
Musste Luther kämpfen gegen das Bild
eines Krämergottes, der mit Hölle drohend eine ängstigende
Atmosphäre verbreitet und dem man durch Werk und Geld entkommen kann
– so hat sich die Situation heute natürlich grundlegend gewandelt:
Es ist oft ein ferner Gott, der mit den
täglichen Entscheidungsprozessen des persönlichen Lebens nichts zu
tun hat. Es ist meistens die Vorstellung einer unpersönlich-anonymen
Kraft, die keine Koordinate in meinem Beziehungskosmos darstellt. Es
ist mal ein weltentrückter Bezugspunkt intellektueller
Gedankenspiele. Es ist bisweilen ein liebevoller Schmusepapa, der
keine Ansprüche stellt und, ein Vorbild an aufgeklärter Toleranz,
uns Menschen mit der Gießkanne umarmt. Oder es ist der Erfolgsgott,
mit dem das Leben sich umdreht und nicht anders als innerweltlich
gelingen kann.
Welches Bild aber hätten Christen
stattdessen heute von Gott zu vermitteln? Ich glaube, es geht
verstärkt um eine Rückkehr zu Gott als Gegenüber, der sich
offenbart in der konkreten Geschichte Israels bis zu Jesus Christus,
der auch uns Heutige zur Umkehr aufrufen will und einen festen Platz
in unserem Alltag sucht. Der herausfordert und zugleich bestärkt,
der begnadet und führt. Und in all dem zugleich die Rückkehr zur
Einsicht, dass unsere Maßstäbe, Worte, Erfahrungen, Dogmen nur
begrenzte Aussagen machen können angesichts des überbegrifflichen
Geheimnisses, das wir Gott nennen (Karl Rahner lässt grüßen).
2 – Hörvermögen
Luthers Intention war unter anderem,
das Wort Gottes in Bibelübersetzung, Liturgie, Predigt wieder hörbar
zu machen. Auch wir müssten Gott also wahrnehmen können – z.B.
die leisen Töne unserer inneren Regungen deuten lernen und darin
Gottes Stimme zu unterscheiden von den vielen Stimmen, die uns
tagtäglich umkreisen. Hören auf das biblische Zeugnis in Beziehung
zu den Zeichen, die die Gegenwart uns für unser Tun und Lassen an
die Hand gibt.
Aber hören ist auch eine Vertiefung
christlichen Lebens auf das Gebet hin. Denn das soll ja nicht
plappern und viele Worte machen sein, sondern uns hören lassen auf
Gottes Ruf in unser konkretes Leben.
3 – Sprachfähigkeit
Den eigenen Glauben verantworten können
und ihn ins Wort zu bringen war ebenfalls eine Anforderung Luthers an
den mündigen Christen, den er damals bilden wollte. Welches Zeugnis
geben Christen in der heutigen pluralen Gesellschaft von dem, was sie
trägt, was sie aufrecht hält, was ihnen Ausrichtung gibt? Jedermann
gegenüber auskunftsfähig zu sein bezüglich der eigenen Hoffnung,
nennt dies der Erste Petrusbrief (3,15).
Können wir das? Schaffen wir eine
glaubwürdige Synthese aus Verstehbarkeit für die Umwelt und
Widerpart zu ihren Hör- und Denkgewohnheiten? Es gibt eine
Anschlussfähigkeit beispielsweise in der Formulierung dessen, was
Sehnsucht nach erfülltem Leben in der Tiefe sein kann – in welcher
Weise könnten Christen hier konfrontieren, indem sie nicht nur
Konsumorientierung und Erlebniskultur geißeln, sondern Zugänge in
die jeweils eigene Tiefe auftun?
4 - Integration
Besonders das Zugehen auf
christentumsferne Menschen ist eine Herausforderung, der heute
begegnet werden muss – anders als dies zu Luthers Zeiten der Fall
war. Konnte er sich noch weitgehend auf eine Volkskirche aller
Schichten beziehen, sind wir heute weit davon entfernt, dass
Christsein eine größere Relevanz selbst auch für die Getauften
hat.
Wer ist gemeint mit den Fernen? Mit
Blick auf unsere Gemeindestrukturen in den großen Städten lässt
sich immerhin fragen, wo die Emanzipierten und Eigenwilligen, die
Gebrochenen und die Unqualifizierten einen Platz haben in der
Wirklichkeit des Gemeindelebens. Nichtkonforme Lebenskultur hat in
einer auf bloß angepasste Anständigkeit ausgerichteten Ethik sicher
keinen Platz, wie es auch die Sinus-Milieustudien zeigen. Wie auch im
vorherigen Punkt benötigt das Angesprochensein von Christlichkeit
sicher einen Spagat zwischen dem Ernstnehmen des persönlichen
Fragens und Suchens vor allen Dogmen und dem klaren Glaubenszeugnis
der Christen. Ein Insistieren auf dem Glaubensgehorsam, wie es der
Präfekt der Glaubenskongregation neulich wiederholte, wird da
schwerlich hilfreich sein.
5 – Verschlankung
Die Glaubwürdigkeit von Kirche leidet
angesichts der Einbindung in staatliche Privilegien und Strukturen.
Kirchensteuer und die Finanzierung vieler Bischofsgehälter sind ja
nur zwei Themen eines Komplexes von staatskirchenrechtlichen Fragen,
mit denen Kirche sich im (Dauer-)Krisenfall auseinander setzen muss.
Auch den Anfragen an staatlicherseits
ermöglichten und finanzierten Religionsunterrichts an staatlich
getragenen Schulen muss sich eine Gesellschaft wieder stellen, wenn
die Kirchenbindung weiter abnimmt.
Das von Papst Benedikt XVI. begonnene
Projekt der Entweltlichung, das sein Nachfolger Franziskus ja unter
veränderten Vorzeichen fortführt, scheint eine kirchliche
Verschlankung anzuregen, der ich vieles abgewinnen kann. Die Frage,
was Gesellschaft und Politik sich von Kirche und Christentum
tatsächlich erwarten – und legitimerweise überhaupt nur erwarten
können, sucht neue Antworten.
Dabei die Religionsfreiheit für alle
Religionen zu fördern und diese bei der Ausübung ihres Glaubens
nicht zu behindern, ja nach Möglichkeit sogar aktiv dazu
beizutragen, dass die Religionsausübung frei lebbar ist, das ist das
Recht, hinter das ein Staat dabei schwerlich zurück kann. Inwieweit
sich damit aber aus der Säkularisierung ererbte Ansprüche und
Kirchenprivilegien verbinden müssen, ist mindestens für die
deutsche Kirche neu fraglich.
Der Papst aus dem Jesuitenorden mit dem
Namen des Kirchenreformers Franziskus kann mindestens (aber nicht
nur) für die katholischen Christen sicher vorbildhaft sein, was
diese fünf Fragen angeht. An theologischer Radikalität wird er
hinter Luther nicht zurück stehen. Und was er in einem Interviewbuch
für die Nation sagt, lässt sich problemlos auch für die Kirche
denken: „Wir sind Menschen mit einer Geschichte. Unser Leben
verläuft in Zeit und Raum. Jede Generation braucht die vorangehende
und ist den nachfolgenden verpflichtet. Im Großen und Ganzen ist es
das, was eine Nation ausmacht: sich als diejenigen zu verstehen, die
die Ziele anderer Männer und Frauen weiterverfolgen, die ihren Teil
schon gegeben haben – als Baumeister eines gemeinsamen Ortes, eines
Zuhauses für die, die nach uns kommen.“1
Mit Gott selbst schlank und integrativ
bauen für die Zukunft, als hörbereite und sprachfähige Christen,
gleich welcher Konfession.
1 Papst
Franziskus, Mein Leben – mein Weg. Gespräche mit Jorge Mario
Bergoglio. Von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Freiburg im
Breisgau 2013, 188f.