Donnerstag, 22. März 2018

Badewanne und Südpol. Erling Kagge trifft Ignatius von Loyola

Der Abenteurer ist naturgemäß auch ein Entdecker.
Erling Kagge, norwegischer Verleger und Südpolbezwinger, Bergsteiger und Familienvater, hat nun die Stille neu entdeckt.
In seinem kleinen Band "Stille"1 will er 33 "Wegweiser" zur Stille präsentieren.
Das tut er mithilfe sehr aktueller Beispiele aus der Welt der Smartphone-Apps oder aus seinem Familienleben, aber auch inspiriert durch seine Bergbesteigungen, Atlantiküberquerungen und Polexpeditionen. Auf diese Weise fächert Kagge ein weites Feld innerer und äußerer Stilleerfahrungen auf.

Stille in Sicht.
Beim Störitzland, Brandenburg, 2017.
Die "Welt ... einen Augenblick auszusperren"2 ist für ihn eine immer wiederkehrende Beschreibung dessen, was ihm hilft, zu sich und in die Stille zu kommen. Dabei tauchen auch eine Reihe eingängiger philosophischer Reflexionen zum Menschen, seiner Stellung im Kosmos und hin und wieder auch religiöse Motive auf.
Beeidruckend sind vor allem die knappen Beschreibungen seines fünfzigtägigen Fußmarsches durch das Eis der Antarktis:

"Alles, was ich für die gesamte Reise benötigte – Lebensmittel, Ausrüstung, Brennstoff –, musste ich auf einem Schlitten hinter mir herzuehen, und nie machte ich den Mund auf, um zu sprechen. Ich hielt die Klappe. Ich hatte fünfzig Tage weder Funkkontakt, Internet oder Ähnliches. Ich bewegte mich mit meinen Skiern einfach nur jeden Tag ein Stück weiter in Richtung Süden. Auch wenn ich mich ärgerte, über eine gebrochene Skibindung oder weil ich beinahe in eine Gletscherspalte gefallen wäre, fluchte ich nicht. ... 
Die Natur sprach zu mir, indem sie sich als Stille präsentierte. Je stiller ich wurde, desto mehr hörte ich.
Jedes Mal, wenn ich eine Pause machte und der Wind nicht wehte, erlebte ich eine ohrenbetäubende Stille."3

Diese Einsicht des Hörens, die auch Soren Kierkegaard im Gebet hatte, führen Kagge aber nicht in religiöse Erkundungen. Gleichwohl benennt er vereinzelt Beispiele für die Suche nach der Stille auch in den Religionen, vor allem bei Buddha, aber auch bei Jesus und die denkwürdige Stille, in der Elija Gott erlebt. Kagge kommentiert trocken: "Mir gefällt das. Gott ist die Stille."4

Das Buch ist also auf knapp 130 Seiten vollgestopft mit Bemerkungen, Einsichten und Reflexionen zur Stille. Dazu kommen vielerlei Querverweise zu Literatur, Kunst, Psychologie und Naturwissenschaft, durchbrochen von einigen Kunstwerkabbildungen.
Ich persönlich hätte ein tieferes Eindringen ins religiöse Feld naheliegend gefunden, aber das Buch inspiriert mich auch so wie es ist.
Kagges sanfte Kritik am Erlebnisüberfluss, der zwar kurzfristige Kicks, aber auch mehr Langeweile und eine drohende Abhängigkeit vom Kick schafft, ist sehr einsichtig und wohltuend, ebenso wie seine Bemerkungen zur Stille-Industrie: 

Stilles Haus.
WIlmersdorf, Berlin, 2017.

"Die Bedingungen für Stille zu schaffen, st ein nobles Unterfangen, aber es ist umständlich, wenn man das Auto nehmen muss, um an einen Ort zu gelangen, an dem man sich ausruhen, Yoga praktizieren oder wandern kann. Oder ein Flugzeug besteigen, um in einem Retreat abzuschalten. Die besten Dinge im Leben sind manchmal umsonst. ... Man muss nicht nach Sri Lanka reisen, man kann die Stille auch zu Hause in der Badewanne erleben."5

Da hat er ja Recht, kam mir in den Sinn, aber anscheinend hat auch er die langen Umwege durch seine Abenteuer und Weltbummeleien gebraucht, um am Ende bei diesem Gedanken anzukommen.
Seine Konkretisierung findet dieser Gedanke in einem Absatz über die Stille, der zwei zentrale Aspekte der ignatianischen Spiritualität verblüffend inhaltsgleich ausdrückt:

"Es geht darum, das, was man tut, von innen zu betrachten. Zu erfahren und nicht zu viel zu denken. Jeden Augenblick groß genug sein lassen. Nicht durch andere und anderes leben. Die Welt ausschließen und seine eigene Stille schaffen, wenn man läuft, kocht, Sex hat, studiert, redet, arbeitet, auf neue Ideen kommt, liest oder tanzt."6

Auch Ignatius betont gleich zu Beginn des Exerzitienbuches programmatisch:
"Nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken." (GÜ 2)
Von innen an die Dinge herangehen und nicht beim Vielen, beim Äußeren, beim Lauten und Verwirrenden stehen bleiben, das wäre tatsächlich ein Weg des Gebets, ein Weg des Stillewerdens, für mich als religiös denkenden Menschen letztlich die entscheidende Haltung auf einem Weg zu Gott.
Der Ort, an dem dieses innere Spüren geschieht, ist nicht festgelegt. Überall und immer, ob in der Badewanne oder am Südpol, kann der Mensch sich auf die Suche nach der Stille und nach Gott machen. Ähnlich wie Kagge einige exemplarische Tätigkeiten aufzählt, tut es auch Ignatius in seinem Brief an Antonio Brandão:
Die Studenten "können sich ... darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, daß seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist".7

Stille kann, das ist Kagges grundlegende Einsicht, auch in der lauten Umgebung, auch ohne äußere Ruhe gefunden werden, wenn ein Mensch seine Aufmerksamkeit nach innen wendet. Das macht die Seele satt, denn dort ist, um mit Ignatius zu sprechen, auch Gottes Gegenwart zu finden.

Alles in allem ist "Stille." ein überaus fesselndes und anregendes Buch, das ich nur empfehlen kann.
Nur konsequent ist letztlich, dass der letzte Wegweiser, die Nummer 33, aus zwei weißen Seiten besteht.

Nicht ganz weiß. Nicht ganz still.
U-Bahnhof Friedrichstraße, Berlin-Mitte, 2015.



1   E. Kagge, Stille. Ein Wegweiser. 3. Aufl. Berlin 2018.
2   Ebd., 21.u.ö.
3   Ebd., 23f.
4   Ebd., 81.
5   Ebd., 73. Ähnlich spannend die Ausführungen zu den boomenden Meditations-Apps für das Smartphone in ZEIT-Magazin Nr. 9/2018 vom 22.02.2018 - http://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/09/meditations-apps-smartphone-headspace-achtsamkeit-stress. Die grassierende Sucht nach diesem Gerät und die damit verbundene stressfördernde Unruhe durch regelmäßiges Kontrollieren, Agieren und Reagieren mit Apps auf dem gleichen Gerät zu beantworten, ist mindestens zwiespältig. Kann der (auch) vom Smartphone erzeugte Druck mit dem Smartphone bekämpft werden?
6   E. Kagge, a.a.O., 56.
7   In: Ignatius von Loyola, Briefe und Unterweisungen. Übers. von Peter Knauer. Würzburg 1993, 346-353, hier 350.