Der Abenteurer ist naturgemäß auch
ein Entdecker.
Erling Kagge, norwegischer Verleger und
Südpolbezwinger, Bergsteiger und Familienvater, hat nun die Stille neu
entdeckt.
In seinem kleinen Band "Stille"1
will er 33 "Wegweiser" zur Stille präsentieren.
Das tut er mithilfe sehr aktueller
Beispiele aus der Welt der Smartphone-Apps oder aus seinem
Familienleben, aber auch inspiriert durch seine Bergbesteigungen,
Atlantiküberquerungen und Polexpeditionen. Auf diese Weise fächert
Kagge ein weites Feld innerer und äußerer Stilleerfahrungen auf.
Stille in Sicht. Beim Störitzland, Brandenburg, 2017. |
Die "Welt ... einen Augenblick
auszusperren"2
ist für ihn eine immer wiederkehrende Beschreibung dessen, was ihm
hilft, zu sich und in die Stille zu kommen. Dabei tauchen auch eine
Reihe eingängiger philosophischer Reflexionen zum Menschen, seiner
Stellung im Kosmos und hin und wieder auch religiöse Motive auf.
Beeidruckend sind vor allem die knappen
Beschreibungen seines fünfzigtägigen Fußmarsches durch das Eis der
Antarktis:
"Alles, was ich für die
gesamte Reise benötigte – Lebensmittel, Ausrüstung, Brennstoff –,
musste ich auf einem Schlitten hinter mir herzuehen, und nie machte
ich den Mund auf, um zu sprechen. Ich hielt die Klappe. Ich hatte
fünfzig Tage weder Funkkontakt, Internet oder Ähnliches. Ich
bewegte mich mit meinen Skiern einfach nur jeden Tag ein Stück
weiter in Richtung Süden. Auch wenn ich mich ärgerte, über eine
gebrochene Skibindung oder weil ich beinahe in eine Gletscherspalte
gefallen wäre, fluchte ich nicht. ...
Die Natur sprach zu mir, indem
sie sich als Stille präsentierte. Je stiller ich wurde, desto mehr
hörte ich.
Jedes Mal, wenn ich eine Pause
machte und der Wind nicht wehte, erlebte ich eine ohrenbetäubende
Stille."3
Diese Einsicht des Hörens, die auch
Soren Kierkegaard im Gebet hatte, führen Kagge aber nicht in
religiöse Erkundungen. Gleichwohl benennt er vereinzelt Beispiele
für die Suche nach der Stille auch in den Religionen, vor allem bei
Buddha, aber auch bei Jesus und die denkwürdige Stille, in der Elija
Gott erlebt. Kagge kommentiert trocken: "Mir gefällt das.
Gott ist die Stille."4
Das Buch ist also auf knapp 130 Seiten
vollgestopft mit Bemerkungen, Einsichten und Reflexionen zur Stille.
Dazu kommen vielerlei Querverweise zu Literatur, Kunst, Psychologie
und Naturwissenschaft, durchbrochen von einigen Kunstwerkabbildungen.
Ich persönlich hätte ein tieferes
Eindringen ins religiöse Feld naheliegend gefunden, aber das Buch
inspiriert mich auch so wie es ist.
Kagges sanfte Kritik am
Erlebnisüberfluss, der zwar kurzfristige Kicks, aber auch mehr
Langeweile und eine drohende Abhängigkeit vom Kick schafft, ist sehr
einsichtig und wohltuend, ebenso wie seine Bemerkungen zur
Stille-Industrie:
Stilles Haus. WIlmersdorf, Berlin, 2017. |
"Die Bedingungen für Stille zu
schaffen, st ein nobles Unterfangen, aber es ist umständlich, wenn
man das Auto nehmen muss, um an einen Ort zu gelangen, an dem man
sich ausruhen, Yoga praktizieren oder wandern kann. Oder ein Flugzeug
besteigen, um in einem Retreat abzuschalten. Die besten Dinge im
Leben sind manchmal umsonst. ... Man muss nicht nach Sri Lanka
reisen, man kann die Stille auch zu Hause in der Badewanne erleben."5
Da hat er ja Recht, kam mir in den
Sinn, aber anscheinend hat auch er die langen Umwege durch seine
Abenteuer und Weltbummeleien gebraucht, um am Ende bei diesem
Gedanken anzukommen.
Seine Konkretisierung findet dieser
Gedanke in einem Absatz über die Stille, der zwei zentrale Aspekte
der ignatianischen Spiritualität verblüffend inhaltsgleich
ausdrückt:
"Es geht darum, das, was
man tut, von innen zu betrachten. Zu erfahren und nicht zu viel zu
denken. Jeden Augenblick groß genug sein lassen. Nicht durch andere
und anderes leben. Die Welt ausschließen und seine eigene Stille
schaffen, wenn man läuft, kocht, Sex hat, studiert, redet, arbeitet,
auf neue Ideen kommt, liest oder tanzt."6
Auch Ignatius betont gleich zu Beginn
des Exerzitienbuches programmatisch:
"Nicht das viele Wissen sättigt
und befriedigt die Seele, sondern das
Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken." (GÜ 2)
Von innen an die Dinge herangehen und
nicht beim Vielen, beim Äußeren, beim Lauten und Verwirrenden
stehen bleiben, das wäre tatsächlich ein Weg des Gebets, ein Weg
des Stillewerdens, für mich als religiös denkenden Menschen
letztlich die entscheidende Haltung auf einem Weg zu Gott.
Der Ort, an dem dieses innere Spüren
geschieht, ist nicht festgelegt. Überall und immer, ob in der
Badewanne oder am Südpol, kann der Mensch sich auf die Suche nach
der Stille und nach Gott machen. Ähnlich wie Kagge einige
exemplarische Tätigkeiten aufzählt, tut es auch Ignatius in seinem
Brief an Antonio Brandão:
Die Studenten "können
sich ... darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu
suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören,
Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, daß seine
göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen
ist".7
Stille kann, das ist
Kagges grundlegende Einsicht, auch in der lauten Umgebung, auch ohne
äußere Ruhe gefunden werden, wenn ein Mensch seine Aufmerksamkeit
nach innen wendet. Das macht die Seele satt, denn dort ist, um mit
Ignatius zu sprechen, auch Gottes Gegenwart zu finden.
Alles in allem ist "Stille."
ein überaus fesselndes und anregendes Buch, das ich nur empfehlen
kann.
Nur konsequent ist letztlich, dass der
letzte Wegweiser, die Nummer 33, aus zwei weißen Seiten besteht.
Nicht ganz weiß. Nicht ganz still. U-Bahnhof Friedrichstraße, Berlin-Mitte, 2015. |
1 E.
Kagge, Stille. Ein Wegweiser. 3. Aufl. Berlin 2018.
2 Ebd.,
21.u.ö.
3 Ebd.,
23f.
4 Ebd.,
81.
5 Ebd.,
73. Ähnlich spannend die Ausführungen zu den boomenden
Meditations-Apps für das Smartphone in ZEIT-Magazin Nr. 9/2018 vom
22.02.2018 -
http://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/09/meditations-apps-smartphone-headspace-achtsamkeit-stress.
Die grassierende Sucht nach diesem Gerät und die damit verbundene
stressfördernde Unruhe durch regelmäßiges Kontrollieren, Agieren
und Reagieren mit Apps auf dem gleichen Gerät zu beantworten, ist
mindestens zwiespältig. Kann der (auch) vom Smartphone erzeugte
Druck mit dem Smartphone bekämpft werden?
6 E.
Kagge, a.a.O., 56.
7 In:
Ignatius
von Loyola, Briefe und Unterweisungen. Übers. von Peter Knauer.
Würzburg 1993, 346-353, hier 350.