Was sind das für Leute, die heute in
Deutschland noch in die Kirche gehen, beten, sich zum christlichen
Glauben bekennen? Was für Leute sind das, die Gott suchen?
Das heutige Evangelium (Mk 1,29-39)
gibt zwei Antworten auf die Frage, wer Gott sucht, zwei Antworten, die in sehr unterschiedliche Richtungen
gehen.
1
Zu Beginn wird berichtet von den
„Kranken und Besessenen“, die zu Jesus gebracht werden
(v32).
Unter dieser Bezeichnung finden wohl
weder wir hier Versammelten uns vollständig wieder, noch der
Großteil derjenigen, die in Deutschland regelmäßig in die Kirche
gehen und ihr Leben aus dem Glauben gestalten.
Vielleicht könnte man die Frage also
eher so formulieren: Was suchen Menschen, die Gott suchen?
Und bei dieser Frage gibt es sicher
einige Schnittpunkte mit den im Evangelium Genannten.
Evangelium in Glas. Trinitatiskirche, Leipzig, 2018. |
Das Christentum ist eine
Erlösungsreligion – und als solche zielt sie auf Veränderung und
auf Verbesserung im Leben derer, die sich auf den christlichen Weg
machen.
Das sind im Evangelium eben jene
„Kranken und Besessenen“, die eindeutig Hilfe benötigen
und sie von Jesus erwarten.
Und wir? Welche Hilfe erwarte ich von
Jesus? Welche Verbesserung soll es in meinem Leben geben? Wo will ich
etwas verändern?
Natürlich sind hier viele individuelle
und sehr verschiedene Antworten möglich. Manches ist aber auch
verallgemeinerbar und lässt sich entdecken bei den Menschen, mit
denen Jesus in den Evangelien zu tun hatte.
Was kann gemeint sein, wenn von
Besessenen die Rede ist?
Das Wort "besessen" wird in
unserer Zeit eigentlich genau so genutzt, wie es damals gemeint war,
nur dass wir damit nicht böse Geister meinen, sondern Haltungen. Ich
sehe jedenfalls ständig Leute, die besessen sind von ihrem Besitz,
ihrem Körper, ihrem Telefon, ihren Drogen. Sie sind so besetzt
davon, dass andere Dinge, die vielleicht wichtiger sind, gar nicht
mehr in den Blick kommen.
Mehrfach berichtet die Bibel auch von
Aussätzigen:
Auch hier geht es um eine
weiterreichende Frage als irgendeine Hautkrankheit – so schlimm die
sein kann. Es ist die nicht bestehende Gemeinschaft zwischen der
Mehrheit und denen, die aus irgendeinem Grund nicht zu dieser
Mehrheit dazugehören – so wie die Aussätzigen eben.
Ebenso ist in den Evangelien von
Gelähmten die Rede.
Auch hier eine übertragene Lesart: Es
gibt Lebensphasen und Situationen, in denen ich einfach nicht
vorankomme. Wir sagen es ja auch manchmal: ,ich bin wie gelähmt‘ –
außerstande, mich auf jemanden zu zu bewegen, nicht fähig, selbst
aktiv zu werden und so fort..
Ein etwas längeres Augenmerk möchte
ich auf Blinde legen, die auch immer wieder zu Jesus kommen:
Auch blind zu sein ist mehr als das
physische Gebrechen – das schon schlimm genug ist! –, es steht
auch dafür, wichtige Dinge nicht wahrnehmen zu können.
Im Buch Jesaja wird das Unvermögen des
Volkes zu sehen und zu hören verbunden mit der Rede von einem
verhärteten Herzen, „das nicht zur Einsicht kommt und sich
nicht bekehrt und nicht geheilt wird.“ (Jes 6,10)
Und wie oft kommt es vor, dass ich
meine Augen absichtlich verschließe – vor dem Unglück eines
anderen, vor der sich offensichtlich stellenden Aufgabe, die ich
einfach nicht annehmen will, vor dem Unrecht, das um mich herum
geschieht.
Ein sehr genau beobachtetes und
literarisch ausformuliertes Beispiel fand ich neulich bei der Lektüre
des Buches "Was man von hier aus sehen kann" von
Mariana Leky, in dem auf vielerlei Weise von solchen Störungen die
Rede ist. Die Mutter der Ich-Erzählerin ist Blumenhändlerin und
wird folgendermaßen beschrieben:
"Seit über fünf Jahren
überlegte meine Mutter, ob sie meinen Vater verlassen sollte. Sie
war bis oben hin angefüllt mit dieser Frage. Sie stellte sie immer
nur sich selbst, das aber so häufig und intensiv, dass sie gar nicht
zum Antworten kam, und oft hatte sie wegen der ständigen Frage
Halluzinationen. Sie sah dann auf den fließenden Kranzschleifen
nicht das ewige In tiefer
Trauer, In
aufrichtiger Anteilnahme, Für
immer unvergessen stehen, sondern Soll
ich ihn verlassen?, tiefschwarz und im
kranzschleifenüblichen Prägedruck.
Soll
ich ihn verlassen? stand nicht nur auf Kranzschleifen. Es
war überall. Wenn meine Mutter morgens die Augen öffnete, tanzte
die Frage bereits ausgeschlafen vor ihrem Gesicht. Sie kreiselte in
der Tasse, wenn meine Mutter sich Milch in den ersten Kaffee rührte,
sie fügte sich zusammen aus dem Rauch ihrer Zigarette. Sie lag auf
den Mantelkragen der Kundinnen im Blumengeschäft und steckte an
ihren Hüten. Sie war aufgedruckt auf das Einwickelpapier der Blumen.
Sie dampfte aus dem Kochtopf hoch, wenn meine Mutter das Abendessen
kochte. [...]
Springt noch irgendetwas durch den Blick? Neukölln, Berlin, 2015. |
'Hörst du mir eigentlich zu?',
fragte ich sie manchmal, wenn ich ihr erzählte, dass ich jetzt
wusste, wie man die Uhr liest und eine Schleife bindet, und meine
Mutter sagte: 'Natürlich, meine Süße, ich höre dir zu', und das
versuchte sie auch, nur war die Frage immer lauter als alles, was ich
ihr erzählte."1
Diese Frage war also "etwas,
mit dem meine Mutter nie fertig wurde"2,
wie die Autorin schreibt.
Und wie man beim Hören mitbekommt, ist
diese Frage eine Mixtur aus Blindheit, Besessenheit und Taubheit. Ich
finde das eine psychologisch sehr feine Darstellung, die eine ganz
alltägliche Heilungsbedürftigkeit in schöner Sprache auf den
Punkt bringt.
Sich von Jesus heilen zu lassen, sich
die Augen für die ganze und aktuell wichtige Wirklichkeit öffnen zu
lassen, bringt Anstrengungen mit sich. Die lieb gehegten
Vorstellungen und aufwendigen Illusionen gehen verloren.
Aber mit offenen Augen nehme ich meine
Umwelt eher wahr, wie sie ist und kann mich in ihr engagieren.
Es sind also genug Gelegenheiten, warum
man zu Jesus kommen kann: besessen von irgendwelchen Dingen, die
vielleicht auch noch blind machen; unfähig, sich zu bewegen;
ausgegrenzt aus irgendeinem Grund, zu blind, um die Welt so zu sehen,
wie sie ist.
Heilung tut an vielen Stellen unseres
Lebens Not – und das Eingeständnis dieser Bedürftigkeit ist ein
guter Grund, sich auf den Weg zu Gott zu machen.
All das Gesagte bedeutet jedoch nicht,
dass Religion in der Bibel nur unter dieser Perspektive
gesehen wird, bedeutet nicht (sehr negativ formuliert), dass Religion
immer instrumentalisiert wird, damit irgendwo Besserung eintritt.
Es gibt, wie oben gesagt, eben auch
noch eine weitere Perspektive, die in unserem Text auftaucht.
2
Diese Perspektive wird durch Jesus
selbst eingeführt. Von ihm sagt der Evangeliumstext: "In
aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen
einsamen Ort, um zu beten." (v35)
Während also viele Menschen Gott
suchen, weil sie etwas von ihm wollen und deshalb zu Jesus gehen,
macht Jesus selbst es genau anders herum: Er geht in die Stille.
Jesus sucht die Einsamkeit.
Wir wissen nicht, was er dort genau
gebetet hat. Aber ich glaube nicht, dass er in erster Linie um Kraft
und Weisung für sein nächstes Tun gebetet hat, sondern dass er ganz
einfach Gottes Nähe suchte.
Denn Jesus wusste sich in einem
besonderen Verhältnis zu Gott. Er weiß, dass er Gott als seinen
Vater ansprechen kann. Und er ruht bei ihm aus, weil er bei Gott
zugleich ganz bei sich selbst ist.
Teresa von Avila schrieb über diese
Art von Gebet, dass es nichts anderes sei, "als ein Verweilen
bei einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um
mit ihm zu reden, weil wir sicher sind, daß er uns liebt."3
Bei
solch einem Gebet müssen wir nichts machen, wir müssen nicht reden
oder uns schlaue Gedanken machen. Bei einem Freund können wir
einfach schweigend da sein, wir müssen uns nicht rechtfertigen oder
begründen. Wir können einfach seine Gegenwart genießen, weil wir
nichts tun müssen. Wir brauchen einfach nur da zu sein.
Aber
das ist leichter gesagt als getan, denn schließlich sind immerzu
irgendwelche Stimmen in uns, Wünsche, die sich regen, Pläne, die
sich schmieden, Erinnerungen, die uns nachgehen, Gefühle aus kürzlich
Erlebtem, die uns aufwühlen. Und all das ist in uns da, wenn wir
einfach nur bei Gott da sein wollen.
Aber
all das kann auch da
sein. Auch Jesus klinkte sich wahrscheinlich nicht sofort aus seinem
Tag aus, sondern brachte die Menschen und all seine Erlebnisse mit
hinein in sein Dasein vor Gott.
Und
kam dann, wie auch wir das üben können, zur Ruhe.
Einfach nur da sein. Ehemalige Räume der Offenen Tür, Leipzig, 2016. |
Von
Soren Kierkegaard gibt es einen Text, in dem er über dieses
Stillesein bei Gott schreibt. Da heißt es von dem "rechten"
Beter: "Als sein Gebet immer andächtiger und
innerlicher wurde, da hatte er immer weniger und weniger zu sagen;
zuletzt wurde er ganz still."4
Ich nehme an, dass Jesus genau so
gebetet hat: als Freund (und Sohn) Gottes, ganz anwesend in
aufmerksamem Vertrauen und still.
Beide Arten von Gebet gehören zur
Gottesbeziehung:
Wenn mich etwas besetzt oder festhält,
wenn ich blind oder ausgestoßen bin, dann wende ich mich an Gott in
der Hoffnung, dass er mich davon befreit. Das, womit ich "nie fertig werde", kann ich vor Gott bringen.
Wenn ich einfach nur ausruhen will,
einen Ort der Stille und des Kraftsammelns suche, auch dann kann ich
mich auf Gott hin ausrichten und in seiner Gegenwart da sein. Er schaut mich voller Liebe an.
Durch Jesus können wir alle in dieser
Unmittelbarkeit zu Gott stehen. Er lädt uns ein, so wie er in Gott
unseren Vater zu sehen. "Er will uns alle in sein Menschsein
und so in seine Sohnschaft, in die volle Gottzugehörigkeit
hineinnehmen" schreibt Papst Benedikt in seinem Jesus-Buch.
Aber er fügt hinzu: "Wir sind nicht schon fertige Kinder
Gottes, sondern wir sollen durch unsere immer tiefere Gemeinschaft
mit Jesus immer mehr werden uns sein."5
Diese Gemeinschaft zu pflegen sind wir
jeden Tag eingeladen. Durch Lesen in der Bibel, denn dort lernen wir
Jesus kennen. Und durch regelmäßiges Beten, in welcher Art auch
immer.
1 M.
Leky, Was man von hier aus sieht. 2. Aufl. Köln 2017, 63f.
2 Ebd.,
63.
3 Zit
n. U. Dobhan, Teresa von Avila – Verweilen bei einem Freund. Das
Beten Teresa von Avilas. In:
http://kloster-reisach.de/Spiritualitaet/BetenDobhan.html
4 S.
Kierkegaard, Die Lilien auf dem Felde. Drei Beichtreden. In:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/drei-beichtreden-5546/1
5 J.
Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der
Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg i.Br. 2007, 172.