Samstag, 3. Februar 2018

Kranker und Freund Gottes zugleich sein. Eine Predigt im Gefängnis.

Was sind das für Leute, die heute in Deutschland noch in die Kirche gehen, beten, sich zum christlichen Glauben bekennen? Was für Leute sind das, die Gott suchen?

Das heutige Evangelium (Mk 1,29-39) gibt zwei Antworten auf die Frage, wer Gott sucht, zwei Antworten, die in sehr unterschiedliche Richtungen gehen.

1
Zu Beginn wird berichtet von den „Kranken und Besessenen“, die zu Jesus gebracht werden (v32).
Unter dieser Bezeichnung finden wohl weder wir hier Versammelten uns vollständig wieder, noch der Großteil derjenigen, die in Deutschland regelmäßig in die Kirche gehen und ihr Leben aus dem Glauben gestalten.
Vielleicht könnte man die Frage also eher so formulieren: Was suchen Menschen, die Gott suchen?
Und bei dieser Frage gibt es sicher einige Schnittpunkte mit den im Evangelium Genannten.

Evangelium in Glas.
Trinitatiskirche, Leipzig, 2018.
Das Christentum ist eine Erlösungsreligion – und als solche zielt sie auf Veränderung und auf Verbesserung im Leben derer, die sich auf den christlichen Weg machen.
Das sind im Evangelium eben jene „Kranken und Besessenen“, die eindeutig Hilfe benötigen und sie von Jesus erwarten.

Und wir? Welche Hilfe erwarte ich von Jesus? Welche Verbesserung soll es in meinem Leben geben? Wo will ich etwas verändern?
Natürlich sind hier viele individuelle und sehr verschiedene Antworten möglich. Manches ist aber auch verallgemeinerbar und lässt sich entdecken bei den Menschen, mit denen Jesus in den Evangelien zu tun hatte.

Was kann gemeint sein, wenn von Besessenen die Rede ist?
Das Wort "besessen" wird in unserer Zeit eigentlich genau so genutzt, wie es damals gemeint war, nur dass wir damit nicht böse Geister meinen, sondern Haltungen. Ich sehe jedenfalls ständig Leute, die besessen sind von ihrem Besitz, ihrem Körper, ihrem Telefon, ihren Drogen. Sie sind so besetzt davon, dass andere Dinge, die vielleicht wichtiger sind, gar nicht mehr in den Blick kommen.

Mehrfach berichtet die Bibel auch von Aussätzigen:
Auch hier geht es um eine weiterreichende Frage als irgendeine Hautkrankheit – so schlimm die sein kann. Es ist die nicht bestehende Gemeinschaft zwischen der Mehrheit und denen, die aus irgendeinem Grund nicht zu dieser Mehrheit dazugehören – so wie die Aussätzigen eben.

Ebenso ist in den Evangelien von Gelähmten die Rede.
Auch hier eine übertragene Lesart: Es gibt Lebensphasen und Situationen, in denen ich einfach nicht vorankomme. Wir sagen es ja auch manchmal: ,ich bin wie gelähmt‘ – außerstande, mich auf jemanden zu zu bewegen, nicht fähig, selbst aktiv zu werden und so fort..

Ein etwas längeres Augenmerk möchte ich auf Blinde legen, die auch immer wieder zu Jesus kommen:
Auch blind zu sein ist mehr als das physische Gebrechen – das schon schlimm genug ist! –, es steht auch dafür, wichtige Dinge nicht wahrnehmen zu können.
Im Buch Jesaja wird das Unvermögen des Volkes zu sehen und zu hören verbunden mit der Rede von einem verhärteten Herzen, „das nicht zur Einsicht kommt und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird.“ (Jes 6,10)
Und wie oft kommt es vor, dass ich meine Augen absichtlich verschließe – vor dem Unglück eines anderen, vor der sich offensichtlich stellenden Aufgabe, die ich einfach nicht annehmen will, vor dem Unrecht, das um mich herum geschieht.

Ein sehr genau beobachtetes und literarisch ausformuliertes Beispiel fand ich neulich bei der Lektüre des Buches "Was man von hier aus sehen kann" von Mariana Leky, in dem auf vielerlei Weise von solchen Störungen die Rede ist. Die Mutter der Ich-Erzählerin ist Blumenhändlerin und wird folgendermaßen beschrieben:
"Seit über fünf Jahren überlegte meine Mutter, ob sie meinen Vater verlassen sollte. Sie war bis oben hin angefüllt mit dieser Frage. Sie stellte sie immer nur sich selbst, das aber so häufig und intensiv, dass sie gar nicht zum Antworten kam, und oft hatte sie wegen der ständigen Frage Halluzinationen. Sie sah dann auf den fließenden Kranzschleifen nicht das ewige In tiefer Trauer, In aufrichtiger Anteilnahme, Für immer unvergessen stehen, sondern Soll ich ihn verlassen?, tiefschwarz und im kranzschleifenüblichen Prägedruck.
Soll ich ihn verlassen? stand nicht nur auf Kranzschleifen. Es war überall. Wenn meine Mutter morgens die Augen öffnete, tanzte die Frage bereits ausgeschlafen vor ihrem Gesicht. Sie kreiselte in der Tasse, wenn meine Mutter sich Milch in den ersten Kaffee rührte, sie fügte sich zusammen aus dem Rauch ihrer Zigarette. Sie lag auf den Mantelkragen der Kundinnen im Blumengeschäft und steckte an ihren Hüten. Sie war aufgedruckt auf das Einwickelpapier der Blumen. Sie dampfte aus dem Kochtopf hoch, wenn meine Mutter das Abendessen kochte. [...]
Springt noch irgendetwas durch den Blick?
Neukölln, Berlin, 2015.
'Hörst du mir eigentlich zu?', fragte ich sie manchmal, wenn ich ihr erzählte, dass ich jetzt wusste, wie man die Uhr liest und eine Schleife bindet, und meine Mutter sagte: 'Natürlich, meine Süße, ich höre dir zu', und das versuchte sie auch, nur war die Frage immer lauter als alles, was ich ihr erzählte."1

Diese Frage war also "etwas, mit dem meine Mutter nie fertig wurde"2, wie die Autorin schreibt.
Und wie man beim Hören mitbekommt, ist diese Frage eine Mixtur aus Blindheit, Besessenheit und Taubheit. Ich finde das eine psychologisch sehr feine Darstellung, die eine ganz alltägliche Heilungsbedürftigkeit in schöner Sprache auf den Punkt bringt.

Sich von Jesus heilen zu lassen, sich die Augen für die ganze und aktuell wichtige Wirklichkeit öffnen zu lassen, bringt Anstrengungen mit sich. Die lieb gehegten Vorstellungen und aufwendigen Illusionen gehen verloren.
Aber mit offenen Augen nehme ich meine Umwelt eher wahr, wie sie ist und kann mich in ihr engagieren.

Es sind also genug Gelegenheiten, warum man zu Jesus kommen kann: besessen von irgendwelchen Dingen, die vielleicht auch noch blind machen; unfähig, sich zu bewegen; ausgegrenzt aus irgendeinem Grund, zu blind, um die Welt so zu sehen, wie sie ist.
Heilung tut an vielen Stellen unseres Lebens Not – und das Eingeständnis dieser Bedürftigkeit ist ein guter Grund, sich auf den Weg zu Gott zu machen.

All das Gesagte bedeutet jedoch nicht, dass Religion in der Bibel nur unter dieser Perspektive gesehen wird, bedeutet nicht (sehr negativ formuliert), dass Religion immer instrumentalisiert wird, damit irgendwo Besserung eintritt.

Es gibt, wie oben gesagt, eben auch noch eine weitere Perspektive, die in unserem Text auftaucht.

2
Diese Perspektive wird durch Jesus selbst eingeführt. Von ihm sagt der Evangeliumstext: "In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten." (v35)

Während also viele Menschen Gott suchen, weil sie etwas von ihm wollen und deshalb zu Jesus gehen, macht Jesus selbst es genau anders herum: Er geht in die Stille. Jesus sucht die Einsamkeit.
Wir wissen nicht, was er dort genau gebetet hat. Aber ich glaube nicht, dass er in erster Linie um Kraft und Weisung für sein nächstes Tun gebetet hat, sondern dass er ganz einfach Gottes Nähe suchte.

Denn Jesus wusste sich in einem besonderen Verhältnis zu Gott. Er weiß, dass er Gott als seinen Vater ansprechen kann. Und er ruht bei ihm aus, weil er bei Gott zugleich ganz bei sich selbst ist.

Teresa von Avila schrieb über diese Art von Gebet, dass es nichts anderes sei, "als ein Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil wir sicher sind, daß er uns liebt."3
Bei solch einem Gebet müssen wir nichts machen, wir müssen nicht reden oder uns schlaue Gedanken machen. Bei einem Freund können wir einfach schweigend da sein, wir müssen uns nicht rechtfertigen oder begründen. Wir können einfach seine Gegenwart genießen, weil wir nichts tun müssen. Wir brauchen einfach nur da zu sein.

Aber das ist leichter gesagt als getan, denn schließlich sind immerzu irgendwelche Stimmen in uns, Wünsche, die sich regen, Pläne, die sich schmieden, Erinnerungen, die uns nachgehen, Gefühle aus kürzlich Erlebtem, die uns aufwühlen. Und all das ist in uns da, wenn wir einfach nur bei Gott da sein wollen.
Aber all das kann auch da sein. Auch Jesus klinkte sich wahrscheinlich nicht sofort aus seinem Tag aus, sondern brachte die Menschen und all seine Erlebnisse mit hinein in sein Dasein vor Gott.
Und kam dann, wie auch wir das üben können, zur Ruhe.
Einfach nur da sein.
Ehemalige Räume der Offenen Tür,
Leipzig, 2016.

Von Soren Kierkegaard gibt es einen Text, in dem er über dieses Stillesein bei Gott schreibt. Da heißt es von dem "rechten" Beter: "Als sein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte er immer weniger und weniger zu sagen; zuletzt wurde er ganz still."4
Ich nehme an, dass Jesus genau so gebetet hat: als Freund (und Sohn) Gottes, ganz anwesend in aufmerksamem Vertrauen und still.

Beide Arten von Gebet gehören zur Gottesbeziehung:
Wenn mich etwas besetzt oder festhält, wenn ich blind oder ausgestoßen bin, dann wende ich mich an Gott in der Hoffnung, dass er mich davon befreit. Das, womit ich "nie fertig werde", kann ich vor Gott bringen.
Wenn ich einfach nur ausruhen will, einen Ort der Stille und des Kraftsammelns suche, auch dann kann ich mich auf Gott hin ausrichten und in seiner Gegenwart da sein. Er schaut mich voller Liebe an.

Durch Jesus können wir alle in dieser Unmittelbarkeit zu Gott stehen. Er lädt uns ein, so wie er in Gott unseren Vater zu sehen. "Er will uns alle in sein Menschsein und so in seine Sohnschaft, in die volle Gottzugehörigkeit hineinnehmen" schreibt Papst Benedikt in seinem Jesus-Buch. Aber er fügt hinzu: "Wir sind nicht schon fertige Kinder Gottes, sondern wir sollen durch unsere immer tiefere Gemeinschaft mit Jesus immer mehr werden uns sein."5

Diese Gemeinschaft zu pflegen sind wir jeden Tag eingeladen. Durch Lesen in der Bibel, denn dort lernen wir Jesus kennen. Und durch regelmäßiges Beten, in welcher Art auch immer.


1   M. Leky, Was man von hier aus sieht. 2. Aufl. Köln 2017, 63f.
2   Ebd., 63.
3   Zit n. U. Dobhan, Teresa von Avila – Verweilen bei einem Freund. Das Beten Teresa von Avilas. In: http://kloster-reisach.de/Spiritualitaet/BetenDobhan.html
4   S. Kierkegaard, Die Lilien auf dem Felde. Drei Beichtreden. In: http://gutenberg.spiegel.de/buch/drei-beichtreden-5546/1
5   J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg i.Br. 2007, 172.