Während sich in der Natur das Leben
langsam wieder zu regen beginnt, erinnert die Christenheit in den
Wochen vor Ostern an das Sterben. Genauer gesagt an Jesu Sterben.
Denn die Fasten- oder Passionszeit hat
mit dem Hineinspüren in das Leiden Jesu zu tun, mit dem geistlichen
Mitgehen seines Sterbens. Viele Lieder, Prozessionen und Andachten,
Bilder und Statuen legen durch die Frömmigkeitsgeschichte hindurch
ein lebendiges Zeugnis von dem Wunsch ab, Jesu Sterben näherzukommen.
Allein, wie Jesus diesen seinen Tod
innerlich verspürt hat, wir wissen es nicht. Nur die Überlieferung
seiner letzten Worte, sieben an der Zahl, lässt uns verschiedenste
Regungen vermuten – von Vertrauen und großherziger Vergebung über
letzte Übergangsregelungen bis hin zu körperlicher Not und schierer
Verzweiflung.
(Mit anderem Akzent habe ich dem hier
schon einmal unter dem Thema "Gekreuzigt" nachgespürt und
Andeutungen und Abwandlungen beispielsweise bei Amos Oz, Antoine de Saint-Exupèry und Batman gefunden.)
Alle Türen geschlossen? Gorki-Theater, Berlin-Mitte, 2014. |
Schaue ich in mein Bücherregal, so
sehe ich, wie sich andere Menschen mit ihrem nahenden Sterben
auseinandersetzten: Die Gefangenschaftsbriefe der auf ihren Tod
wartenden Widerständler Helmuth James von Moltke, Alfred Delp oder
Dietrich Bonhoeffer waren hier schon verschiedentlich Thema. Aber
auch Christoph Schlingensief hat sich in "So schön wie hier
kanns im Himmel gar nicht sein" mit seiner voranschreitenden
Krebserkrankung und seinem nahenden Tod im Gefecht mit Gott und
seinem eigenen Lebenswerk auseinandergesetzt. Ähnlich und doch
wieder ganz anders Wolfgang Herrndorf in "Arbeit und
Struktur".
Sie alle haben sich auf das Sterben
vorbereitet, jeder auf seine Weise. Aber ihr Sterben selbst konnten
sie nicht mehr aufschreiben, das liegt in der Natur der Sache.
Dennoch gibt es literarische Versuche,
das innere Verspüren des Sterbens in Worte zu fassen und so eine
Ahnung von der Bedeutung dieser letzten Augenblick zu bekommen.
Einige dieser Versuche möchte ich in
dieser Fastenzeit etwas näher beleuchten. Vielleicht können wir uns
auf diese Weise dem Sterben Jesu, dieser menschlichsten
Grunderfahrung, die wir mit ihm teilen, aus einer anderen Richtung
annähern.
***
Michael Köhlmeiers Novelle "Der
Mann, der Verlorenes wiederfindet" ist im Ganzen eine
Beschreibung des Sterbens dieses titelgebenden Mannes. Wer die
Patronate der Heiligen kennt, wird ahnen, dass es sich nur um
Antonius von Padua handeln kann.
Der wird (durchaus der historischen
Überlieferung entsprechend) nach seiner letzten Predigt auf einen
Wagen gelegt und Richtung Padua gefahren. In dem kleinen Flecken
Arcella aber kann er nun wirklich nicht mehr weiter und so legt man
ihn mitten in die Sonne auf den Marktplatz. Dort liegt er und ist der
Wundersucht der mitgepilgerten Menschenmassen ausgeliefert. Die
erhoffen, seine Himmelfahrt sofort nach seinem Ableben zu erleben und
wissen nicht, ob sie dem göttlichen Willen entsprechen, wenn sie dem
offensichtlich in den letzten Zügen Liegenden jetzt noch Wasser
reichen und somit seinen Tod hinauszögern.
Padua im Licht, 2012. |
Zwischen derlei absurde Bilder der
zeitgeschichtlichen Frömmigkeit hat der Autor Passagen aus dem
Innenleben des Heiligen gestellt.
In zahlreichen Selbstreflexionen,
Erinnerungen, Gedankenfetzen wird Antonius als ein Mann gezeichnet,
der hochintelligent und mit einem unheimlichen Gedächtnis
ausgestattet ist, aber ein Leben lang mit seinem Hochmut und dem
Glauben an Gott ringt. Lange Zeit sei es ihm lieber gewesen, "er
werde falscher Überzeugungen geziehen, als dass ihm schlechter
Geschmack und mangelnde Intelligenz vorgeworfen würde."1
Es ist klar: Antonius ist bei Köhlmeier
kein verehrungswürdiger heiliger Sympathieträger, sondern ein Zweifler und bis zuletzt
Reifender.
In den letzten Minuten erscheint ihm
der Großvater und führt ihm verschiedene Personen zu, die in seinem
Leben einmal eine wichtige Rolle gespielt haben.
"Halte noch ein wenig aus",
sagt er ihm dazu. "Noch jemand will dich sprechen."2
Denn das
Sterben wird erst möglich sein, wenn bestimmte Klärungen
stattgefunden haben.
So kommt neben anderen der verstorbene
Ordensobere Bruder Amarildo, der wegen seines Neides auf Antonius im
Fegefeuer ausharren muss und sich nun beschwert: "Ich bin
verlorengegangen und du hast mich nicht gesucht. ... Oder hast du
mich gesucht und nur nicht gefunden? Antworte nicht. Es ist gut."3
Das ist die alles entscheidende Frage
im eben zu Ende gehenden Leben – Habe ich meiner Bestimmung
entsprechend gelebt und getan, was mir aufgetragen war?
"Ob er ihm helfen könne,
fragte Antonius. Ob er Vergebung von ihm wünsche. Es müsse ja nicht
in der Form einer Beichte sein.
Vergebung dafür, dass ich dich
beneidet habe?, fragte der Abtprimas. Was wäre, wenn du mir
vergibst?
Ich weiß es nicht, sagte Antonius.
Vielleicht ist dir dann leichter.
Und was ist, wenn ich dir vergebe?,
fragte der Abtprimas.
Was habe ich dir getan, das du mir
vergeben könntest?
Der Abtprimas lächelte und
schüttelte zugleich den Kopf, was nicht eindeutig zu interpretieren
war".4
Eine klassische Szene: Der Sterbende
will alles bereinigen, kann aber die wichtigsten Punkte nicht richtig
erkennen. Zu gefangen ist er in seinem Bild von sich selbst.
Doch das bleibt nicht das Ende.
Köhlmeier lässt Antonius in aller
Stille sterben, als er "auf Erden nichts mehr zu erledigen"5
hatte.
Und macht aus dem mittelalterlichen
Heiligen einen Menschen, der im Tod noch vieles wiederfindet. So kann er auch heute noch viel über das Sterben –
und damit über das Leben – lehren.
Bäume auf dem Waldfriedhof in Halbe, 2016. |
1 M.
Köhlmeier, Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. München 2017,
38.
2 Ebd.,
145.
3 Ebd.,
142.