Dienstag, 20. Februar 2018

Das Sterben spüren 1 – Michael Köhlmeiers "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet"

Während sich in der Natur das Leben langsam wieder zu regen beginnt, erinnert die Christenheit in den Wochen vor Ostern an das Sterben. Genauer gesagt an Jesu Sterben.
Denn die Fasten- oder Passionszeit hat mit dem Hineinspüren in das Leiden Jesu zu tun, mit dem geistlichen Mitgehen seines Sterbens. Viele Lieder, Prozessionen und Andachten, Bilder und Statuen legen durch die Frömmigkeitsgeschichte hindurch ein lebendiges Zeugnis von dem Wunsch ab, Jesu Sterben näherzukommen.

Allein, wie Jesus diesen seinen Tod innerlich verspürt hat, wir wissen es nicht. Nur die Überlieferung seiner letzten Worte, sieben an der Zahl, lässt uns verschiedenste Regungen vermuten – von Vertrauen und großherziger Vergebung über letzte Übergangsregelungen bis hin zu körperlicher Not und schierer Verzweiflung.
(Mit anderem Akzent habe ich dem hier schon einmal unter dem Thema "Gekreuzigt" nachgespürt und Andeutungen und Abwandlungen beispielsweise bei Amos Oz, Antoine de Saint-Exupèry und Batman gefunden.)

Alle Türen geschlossen?
Gorki-Theater, Berlin-Mitte, 2014.
Schaue ich in mein Bücherregal, so sehe ich, wie sich andere Menschen mit ihrem nahenden Sterben auseinandersetzten: Die Gefangenschaftsbriefe der auf ihren Tod wartenden Widerständler Helmuth James von Moltke, Alfred Delp oder Dietrich Bonhoeffer waren hier schon verschiedentlich Thema. Aber auch Christoph Schlingensief hat sich in "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein" mit seiner voranschreitenden Krebserkrankung und seinem nahenden Tod im Gefecht mit Gott und seinem eigenen Lebenswerk auseinandergesetzt. Ähnlich und doch wieder ganz anders Wolfgang Herrndorf in "Arbeit und Struktur".

Sie alle haben sich auf das Sterben vorbereitet, jeder auf seine Weise. Aber ihr Sterben selbst konnten sie nicht mehr aufschreiben, das liegt in der Natur der Sache.
Dennoch gibt es literarische Versuche, das innere Verspüren des Sterbens in Worte zu fassen und so eine Ahnung von der Bedeutung dieser letzten Augenblick zu bekommen.

Einige dieser Versuche möchte ich in dieser Fastenzeit etwas näher beleuchten. Vielleicht können wir uns auf diese Weise dem Sterben Jesu, dieser menschlichsten Grunderfahrung, die wir mit ihm teilen, aus einer anderen Richtung annähern.

***

Michael Köhlmeiers Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" ist im Ganzen eine Beschreibung des Sterbens dieses titelgebenden Mannes. Wer die Patronate der Heiligen kennt, wird ahnen, dass es sich nur um Antonius von Padua handeln kann. 
Der wird (durchaus der historischen Überlieferung entsprechend) nach seiner letzten Predigt auf einen Wagen gelegt und Richtung Padua gefahren. In dem kleinen Flecken Arcella aber kann er nun wirklich nicht mehr weiter und so legt man ihn mitten in die Sonne auf den Marktplatz. Dort liegt er und ist der Wundersucht der mitgepilgerten Menschenmassen ausgeliefert. Die erhoffen, seine Himmelfahrt sofort nach seinem Ableben zu erleben und wissen nicht, ob sie dem göttlichen Willen entsprechen, wenn sie dem offensichtlich in den letzten Zügen Liegenden jetzt noch Wasser reichen und somit seinen Tod hinauszögern.
Padua im Licht, 2012.
Zwischen derlei absurde Bilder der zeitgeschichtlichen Frömmigkeit hat der Autor Passagen aus dem Innenleben des Heiligen gestellt. 
In zahlreichen Selbstreflexionen, Erinnerungen, Gedankenfetzen wird Antonius als ein Mann gezeichnet, der hochintelligent und mit einem unheimlichen Gedächtnis ausgestattet ist, aber ein Leben lang mit seinem Hochmut und dem Glauben an Gott ringt. Lange Zeit sei es ihm lieber gewesen, "er werde falscher Überzeugungen geziehen, als dass ihm schlechter Geschmack und mangelnde Intelligenz vorgeworfen würde."1
Es ist klar: Antonius ist bei Köhlmeier kein verehrungswürdiger heiliger Sympathieträger, sondern ein Zweifler und bis zuletzt Reifender.

In den letzten Minuten erscheint ihm der Großvater und führt ihm verschiedene Personen zu, die in seinem Leben einmal eine wichtige Rolle gespielt haben.
"Halte noch ein wenig aus", sagt er ihm dazu. "Noch jemand will dich sprechen."2
Denn das Sterben wird erst möglich sein, wenn bestimmte Klärungen stattgefunden haben.

So kommt neben anderen der verstorbene Ordensobere Bruder Amarildo, der wegen seines Neides auf Antonius im Fegefeuer ausharren muss und sich nun beschwert: "Ich bin verlorengegangen und du hast mich nicht gesucht. ... Oder hast du mich gesucht und nur nicht gefunden? Antworte nicht. Es ist gut."3
Das ist die alles entscheidende Frage im eben zu Ende gehenden Leben – Habe ich meiner Bestimmung entsprechend gelebt und getan, was mir aufgetragen war?

"Ob er ihm helfen könne, fragte Antonius. Ob er Vergebung von ihm wünsche. Es müsse ja nicht in der Form einer Beichte sein.
Vergebung dafür, dass ich dich beneidet habe?, fragte der Abtprimas. Was wäre, wenn du mir vergibst?
Ich weiß es nicht, sagte Antonius. Vielleicht ist dir dann leichter.
Und was ist, wenn ich dir vergebe?, fragte der Abtprimas.
Was habe ich dir getan, das du mir vergeben könntest?
Der Abtprimas lächelte und schüttelte zugleich den Kopf, was nicht eindeutig zu interpretieren war".4

Eine klassische Szene: Der Sterbende will alles bereinigen, kann aber die wichtigsten Punkte nicht richtig erkennen. Zu gefangen ist er in seinem Bild von sich selbst.

Doch das bleibt nicht das Ende.
Köhlmeier lässt Antonius in aller Stille sterben, als er "auf Erden nichts mehr zu erledigen"5 hatte.
Und macht aus dem mittelalterlichen Heiligen einen Menschen, der im Tod noch vieles wiederfindet. So kann er auch heute noch viel über das Sterben – und damit über das Leben – lehren.

Bäume auf dem Waldfriedhof in Halbe, 2016.

1   M. Köhlmeier, Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. München 2017, 38.
2   Ebd., 145.
3   Ebd., 142.
4   Ebd., 144.
5
   Ebd., 156.