"Dem großen Biologen Svante
Pääbo zufolge unterscheiden wir uns vom Neandertaler nur durch eine
winzige Modifikation auf einem bestimmten Chromosom, mehr nicht. Eine
ungewöhnliche Mutation des Genoms, die angeblich den Aufbruch ins
Ungewisse erlaubte, die Überquerung der Weltmeere ohne sicheres Land
am Horizont, den ganzen fieberhaften Hang der Menschheit zu
Forschung, Kreativität und Zerstörung. Kurz und gut, ein
Verrückheitsgen."1
Aufbruch möglich? Altes Boot in Müllrose, 2017. |
Ich habe keine Ahnung, ob diese
biologische Aussage eine literarische Erfindung von Yasmina Reza ist
oder nicht. Es interessiert mich auch nur am Rande. Denn ihr
inhaltlicher Kern wirft einen interessanten Blick auf den Menschen,
der angesichts der Menschheitsgeschichte auch wirklich plausibel
erscheint.
Ob dieser Blick nun auf einer Chromosomen-Modifikation
beruht oder auf etwas anderem ist dabei zweitrangig.
Der Mensch wäre demzufolge von Natur
aus ein Abenteurer, der immer weiterstrebt und sich nicht begnügt
mit dem Vorgefundenen. Der sich selbst immer weiter überschreiten
will. Der sich nicht einrichten kann in der Endlichkeit. Das wird
(in aller daraus folgenden Ambivalenz) landläufig auch Religiosität genannt.
Man mag das verrückt nennen oder nicht2
– wer die religiöse Frage im Menschen und seinen unstillbaren
Drang zum Aufbruch ins Ungewisse zusammendenkt, der wird Religion
nicht in erster Linie als rückwärtsgewandte und restaurative Kraft
definieren können. Vielmehr weist menschliche Religiosität hinein
in ein durch irdische Ziele nicht zu bändigendes „Mehr“.
Aufgabe von Kirche und aller
etablierten Religion ist es, die Sehnsucht nach diesem „Mehr“ zu
wecken, die Wunde, die nach Gott schreit, offen zu halten, die letzte
Verunsicherung zu ermöglichen.
Oder mit dem berühmten (oft verkürzten)
Zitat Alfred Delps von Epiphanie 1945 in Plötzensee:
„Der Mensch muß sich selbst
hinter sich gelassen haben, wenn er eine Ahnung von sich selbst
bekommen will. Das ist es, was den Menschen von heute so unsinnig
erscheint, weil sie die unendlichen Gluten und die schimmernde Bläue
und die grenzenlose Weite des göttlichen Wesens nicht mehr kennen,
denen man sich überantworten muß. Man muß die Segel in den
unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt
wir fähig sind.“3
Es klingt wie eine Variation von Rezas
Satz.
Oben offen sein. Neubau in Müllrose, 2017. |
1 Y.
Reza, Babylon. München 2017, 104.
2 Denn
was wäre verrückter, als einen empirisch nicht nachweisbaren Gott
anzunehmen? Noch dazu einen allgütigen und allmächtigen –
angesichts des Grauens auf Erden. Einerseits. Doch was wäre
gleichzeitig logischer, als hinter all den unausdenkbar kuriosen
Lebewesen auf Erden einen schöpferischen Geist zu vermuten? Was
allein wäre die Alternative zur staubigen Sinnlosigkeit der aufs
Irdische reduzierten menschlichen Existenz, wenn nicht die alles
zusammenfassende Gottesperspektive?
Je nachdem, für welche Perspektive man sich entscheidet (und ich glaube, es ist wirklich eine Frage der Entscheidung für eine bestimmte Sicht auf die Welt), wird man immer mehr Argumente für die Logik der einen oder aber der anderen Sichtweise entdecken können.
Je nachdem, für welche Perspektive man sich entscheidet (und ich glaube, es ist wirklich eine Frage der Entscheidung für eine bestimmte Sicht auf die Welt), wird man immer mehr Argumente für die Logik der einen oder aber der anderen Sichtweise entdecken können.
3 A.
Delp, Das Gesetz der Freiheit. In: O. Ogiermann, Kein Tod kann uns
töten. Alfred Delp – Denker und Mahner in dunkler Zeit. Leipzig
1982, 341.