"Er begreift, dass sein Leben
dem Auf-Bruch verpflichtet ist. Als Prinzip. Bereit zu einer weiteren
Drehung, zu einer nächsten Pirouette."1
Was Ilija Trojanow für den
Geflüchteten postuliert, ist eine weitere Variante meines vorherigen
Beitrags zum Gedanken der Religion als Aufbruch.
In seinem glänzend geschriebenen Buch
"Nach der Flucht" voller kurzer Gedanken und
Aphorismen universalisiert Trojanow sein eigenes Lebensschicksal zu
Aussagen über Geflüchtete und ihr Verhältnis zum Aufnahmeland, zur
Heimat, zu sich selbst und der Welt. (Ohne dabei freilich zu
behaupten, dass dies immer und für jederman so sein müsse.)
Fliehendes Pferd. Marzahn-Hellersdorf, Berlin, 2015. |
Ich halte Trojanows Gedanken für
religiös deutbar und für weiter universalisierbar, zumal in einer
Zeit, in der deutsche Flüchtlingspolitik nur durch Demonstration von
Härte und Profilierung gegenüber dem rechten Rand möglich zu sein
scheint.
Anders gesagt: Die innere Haltung von
Flüchtlingen kann auch für Nichtgeflüchtete etwas bedeuten und das
zu betonen ist heute wahrscheinlich nötiger als noch vor 30 Jahren.
Immer wieder tauchen bei Trojanow
Ambivalenzen auf, die ins psychologische Durcheinander eines
Geflüchteten piksen.
Dazu gehört auf der einen Seite der
Wunsch, einer könne in der Aufnahmegesellschaft "aufgehen,
ohne sichtbare Rückstände zu hinterlassen."2
Darin wird die Sehnsucht sichtbar, nicht (mehr) etwas Besonderes und
auffällig Anstrengendes für die Nichtgeflüchteten ringsum zu sein,
sondern sich "einer unter vielen"3
zu assimilieren.
Auf der anderen Seite aber wehrt er
sich gegen das Bodenständige und Gesetzte, das allzu Beheimatete
derer, die nie geflohen sind. Im Geist des Eingangszitats sieht er
Geflüchtete als Menschen, die immer wieder loslassen können –
oder müssen?
In einem kurzen "Dramolett"
wehrt sich ein Geflüchteter auch gegen die Unterstellung des
Interviewers: "Diese Gier nach Fremde, die ist doch nicht
normal?"4
Ich erkenne darin auch die
Grundgestimmtheit einer religiösen Existenz. Auch der religiös
Suchende, der auf seinem Weg zu Gott weiß, dass dieser ihn nicht
stehen lässt, sondern immer weiter führen will, kennt dies. Nicht
umsonst ist der Exodus ein so mächtiges biblisches und spirituelles
Motiv.
Wie bei Yasmina Reza ist es das
Ungenügen am Gegebenen und Statischen. Wer mit seiner Heimat auch
wertvolle Anteile seiner selbst verloren hat, der kann sich womöglich
schlechter einrichten und wird weniger schnell glauben, dass
Stehenbleiben glücklich macht. Vielmehr gehören Sehnsucht nach
Aufbruch und nach "mehr" zu seiner geistigen Verfasstheit.
(Dagegen steht der eben erwähnte erste
Wunsch nach Assimilation – dieses legitime Ruhen in der Masse wäre
ein anderer Lebensentwurf, der aus Geflüchtetsein folgen kann.)
Demgegenüber ist politisch wie
religiös der Konservatismus ein Anzeichen von Stocken. Trojanow
schreibt:
"Wer das Eigene in einer Nische zu
konservieren versucht, verkleinert es, banalisiert es.
Kulturkonservatismus ist weltfremd, begreift nicht die Dynamik von
Verschmelzung und Vermischung, die seit je zu kultureller Neuerung
geführt haben."5
Ebensolches gilt für die religiöse
Haltung. Diese lebt von dynamischer Offenheit für den je größeren
Gott.
Kulturkonservative Religion? Dreikönigskirche, Dresden-Neustadt, 2017. |
1 I.
Trojanow, Nach der Flucht. Frankfurt a.M. 2017, 84.
2 Ebd.,
31.
3 Ebd.,
21.
4 Ebd.,
85.
5 Ebd.,
112.