Sonntag, 11. Februar 2018

Religion als Aufbruch 2 – Eine Variante von Ilija Trojanow

"Er begreift, dass sein Leben dem Auf-Bruch verpflichtet ist. Als Prinzip. Bereit zu einer weiteren Drehung, zu einer nächsten Pirouette."1

Was Ilija Trojanow für den Geflüchteten postuliert, ist eine weitere Variante meines vorherigen Beitrags zum Gedanken der Religion als Aufbruch.

In seinem glänzend geschriebenen Buch "Nach der Flucht" voller kurzer Gedanken und Aphorismen universalisiert Trojanow sein eigenes Lebensschicksal zu Aussagen über Geflüchtete und ihr Verhältnis zum Aufnahmeland, zur Heimat, zu sich selbst und der Welt. (Ohne dabei freilich zu behaupten, dass dies immer und für jederman so sein müsse.)

Fliehendes Pferd.
Marzahn-Hellersdorf, Berlin, 2015.
Ich halte Trojanows Gedanken für religiös deutbar und für weiter universalisierbar, zumal in einer Zeit, in der deutsche Flüchtlingspolitik nur durch Demonstration von Härte und Profilierung gegenüber dem rechten Rand möglich zu sein scheint.
Anders gesagt: Die innere Haltung von Flüchtlingen kann auch für Nichtgeflüchtete etwas bedeuten und das zu betonen ist heute wahrscheinlich nötiger als noch vor 30 Jahren.

Immer wieder tauchen bei Trojanow Ambivalenzen auf, die ins psychologische Durcheinander eines Geflüchteten piksen.
Dazu gehört auf der einen Seite der Wunsch, einer könne in der Aufnahmegesellschaft "aufgehen, ohne sichtbare Rückstände zu hinterlassen."2 Darin wird die Sehnsucht sichtbar, nicht (mehr) etwas Besonderes und auffällig Anstrengendes für die Nichtgeflüchteten ringsum zu sein, sondern sich "einer unter vielen"3 zu assimilieren.
Auf der anderen Seite aber wehrt er sich gegen das Bodenständige und Gesetzte, das allzu Beheimatete derer, die nie geflohen sind. Im Geist des Eingangszitats sieht er Geflüchtete als Menschen, die immer wieder loslassen können – oder müssen?
In einem kurzen "Dramolett" wehrt sich ein Geflüchteter auch gegen die Unterstellung des Interviewers: "Diese Gier nach Fremde, die ist doch nicht normal?"4

Ich erkenne darin auch die Grundgestimmtheit einer religiösen Existenz. Auch der religiös Suchende, der auf seinem Weg zu Gott weiß, dass dieser ihn nicht stehen lässt, sondern immer weiter führen will, kennt dies. Nicht umsonst ist der Exodus ein so mächtiges biblisches und spirituelles Motiv.
Wie bei Yasmina Reza ist es das Ungenügen am Gegebenen und Statischen. Wer mit seiner Heimat auch wertvolle Anteile seiner selbst verloren hat, der kann sich womöglich schlechter einrichten und wird weniger schnell glauben, dass Stehenbleiben glücklich macht. Vielmehr gehören Sehnsucht nach Aufbruch und nach "mehr" zu seiner geistigen Verfasstheit.
(Dagegen steht der eben erwähnte erste Wunsch nach Assimilation – dieses legitime Ruhen in der Masse wäre ein anderer Lebensentwurf, der aus Geflüchtetsein folgen kann.)

Demgegenüber ist politisch wie religiös der Konservatismus ein Anzeichen von Stocken. Trojanow schreibt:
"Wer das Eigene in einer Nische zu konservieren versucht, verkleinert es, banalisiert es. Kulturkonservatismus ist weltfremd, begreift nicht die Dynamik von Verschmelzung und Vermischung, die seit je zu kultureller Neuerung geführt haben."5

Ebensolches gilt für die religiöse Haltung. Diese lebt von dynamischer Offenheit für den je größeren Gott.

Kulturkonservative Religion?
Dreikönigskirche, Dresden-Neustadt, 2017.

1   I. Trojanow, Nach der Flucht. Frankfurt a.M. 2017, 84.
2   Ebd., 31.
3   Ebd., 21.
4   Ebd., 85.
5   Ebd., 112.