Einer der traurigsten Romane, die ich
in den letzten Jahren las, endet passenderweise mit einer langen und
tiefgehenden Sterbeszene.
Der in den letzten Jahren
wiederentdeckte John Williams hat mit "Stoner" die
Geschichte eines überraschend aus einer bildungsfernen Bauernfamilie
aufgestiegenen Literaturdozenten geschrieben.
Trotz seiner sicheren Stelle an einer
Provinzhochschule ist Stoner nicht angekommen im erfüllten Leben,
durch akademische Triebe ebenso wie seine unglückliche Ehe steht er
eher am Rande und nimmt die Entwicklungen seiner Umwelt eher aus der
Distanz wahr.
John Williams hat dafür eine
eindrückliche Sprache gefunden, die in der Beschreibung des Sterbens
aus Stoners eigenem Blickwinkel zu ihrem verdichteten Höhe- und
Endpunkt gelangt.
Ausblick auf die Wand. Schloss Belvedere, Weimar, 2018. |
Im Anschluss an eine Krebsoperation
nach Hause entlassen, stellt der gerade erst Emeritierte resigniert
fest:
"Er wusste, nach und nach würde
das kleine Zimmer, in dem er nun lag und aus dem Fenster sah, seine
ganze Welt werden"1
und so lässt er sich seine Bücher dorthin bringen, um in den
verbleibenden Wachphasen noch einmal auf seinen bisherigen
Lebensinhalt zu schauen. Die radikal zunehmende Verkleinerung des
Lebensraums ist typisches Symptom des nahenden Todes.
Bei den Besuchen verschwimmen Stoners
Wahrnehmung und Phantasie zunehmend und zunehmend unsicher, wem er da
was tatsächlich oder doch nur in Gedanken gesagt hat, driftet er
immer weiter fort. Noch kann er dies in helleren Momenten begreifen,
denn einmal wird ihm bewusst, "dass der Verstand nachließ,
wenn der Körper schwächer wurde, trotzdem war er nicht darauf
gefasst gewesen, dass es so schnell gehen würde."2
Eine eigentlich paradoxe Einsicht – da sie voller Klarheit
konstatiert, steht sie doch noch weit über dem festgestellten
Verfall. Doch die Phasen von Schlaf und Entschlummern mitten im
Gespräch werden häufiger und die Konzentration bleibt nie lang.
Dennoch reicht sie für ein
deprimierendes Resümee der Vergeblichkeit vieler seiner
Lebensbemühungen:
"Er hatte Freundschaft gewollt
und freundschaftliche Nähe, die ihn im Schoß der menschlichen
Gemeinschaft hielt; und er hatte zwei Freunde gehabt, der eine war
sinnlos gestorben, ehe er ihn richtig kennenlernen konnte, der andere
zog sich jetzt so weit in die Riege der Lebenden zurück, dass ... Er
hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der
Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit
anfangen sollte, also war sie gestorben. [...]
Viele Fenster. Orangerie, Schloss Belvedere, Weimar, 2018. |
Er hatte ein
Lehrer sein wollen und war einer geworden, doch wusste er, hatte es
immer gewusst, dass er über weite Strecken seines Lebens nur ein
mittelmäßiger Lehrer gewesen war. Er hatte von Integrität
geträumt, einer Art allumfassender Reinheit, aber Kompromisse und
die grellen Zerstreuungen des Trivialen gefunden."3
Ein solch vernichtender Blick auf das
eigene Scheitern ist niemandem zu wünschen. Zugleich ist es nur
realistisch, im Rückblick auf das Leben eine Menge Trivialitäten
und Halbheiten wahrzunehmen und zeugt von tiefer Durchdringung seiner
selbst, sich nicht für den Mittelpunkt der Welt zu halten.
Dreimal fragt Stoner sich im Anschluss
an seine letzte Lebensschau: "Was hast du denn erwartet?"4
Und mit dieser Frage scheint eine
größere Leichtigkeit Einzug zu halten. Es ist weniger Resignation
als vielmehr das loslassende Annehmen der eigenen Lebensrealität.
Es ist kein trauriges Sich-Abfinden,
sondern eine Sanftheit, "eine Mattigkeit legte sich auf seine
Glieder, und ein Gefühl der eigenen Identität überkam ihn mit
plötzlicher Kraft; er fühlte seine Macht. Er war er selbst, und er
wusste, was er gewesen war."5
Inmitten dieses Gefühls für sich
selbst kann Stoner nun vollständig loslassen.
Ein letztes Mal greift seine Hand nach
dem Bücherstapel und findet seine eigene jahrzehntealte
Dissertation.
"Er schlug das Buch auf, und
als er es tat, war es nicht länger seins. Er ließ die Finger darin
blättern und fühlte ein Kribbeln, als wären die Seiten lebendig.
Das Kribbeln breitete sich aus und durchdrang Fleisch und Knochen,
bis in alle Details war er sich dessen bewusst, während er darauf
wartete, dass es ihn ganz umschloss [...]
Das Sonnenlicht wanderte übers
Fenster und fiel auf die Seiten, aber er konnte nicht mehr lesen, was
da geschrieben stand."6
Das, was er einst für die Essenz
seines Arbeitslebens hielt, ist am Ende unlesbar geworden. Aber das
stört nun nicht mehr, es ändert ja sowieso nichts und ist schon
nicht mehr seins.
Diese Handgriffe im Sonnenschein als
die letzten Aktivitäten eines Menschen beschrieben zu haben, halte
ich bei all der realistischen und resignativen Stimmung, bei aller
Trauer und aller Enge, die die Seiten davor und eigentlich das ganze
Buch bestimmten, doch für eine sehr angenehme Sympathie des Autors
für seinen Helden.
In solchen letzten Worten findet sich
die große Weitung am Ende eines normalen, mittelmäßig-kleinen Lebens. Theologisch würde man beim letzten Erreichen einer solchen inneren Freiheit wohl von Gnade sprechen.
Letzter Blick. Schloss Belvedere, Weimar, 2018. |
1 J.
Williams, Stoner. München 2014, 38.
2 Ebd.,
345.
3 Ebd.,
344f.
4 Ebd.,
345, 346, 347.
5 Ebd.,
348.
6 Ebd.,
348.349.