William Stoner stirbt in diesem Roman
viele Tode. Mobbing, Ehekrach, Entfremdung vom Kind, eine zerstörte
Romanze und vieles mehr. Außerdem beginnt und endet alles mit dem
Tod des Protagonisten. Vom Tod her und auf ihn hin wird der ganze
Roman entwickelt. Aber dazwischen erscheinen auch einige (wenige)
Auferstehungserfahrungen.
Zunächst grundsätzlich: Der Roman
"Stoner"1
erschien 1965 in den USA und wurde nach fast 50 Jahren 2013 in
Deutschland herausgegeben, seitdem überschlagen sich hierzulande die
positiven
Kritiken.
Sonnenlicht. Dornburger Schlösser, 2015. |
In spröde-zärtlicher Weise erzählt
der Literaturprofessor John Williams die Lebensgeschichte des
Literaturdozenten William Stoner in Missouri zu Beginn und in der
Mitte des 20. Jahrhunderts. Es sind viele ergreifende und traurige
Einzelszenen, die den Roman ausmachen, alles schwebt in
zurückgenommener Sprache zwischen tief in die Figuren eintauchender
Innensicht und völliger Unkenntnis der jeweiligen Motive. Diese
Sprache schneidet viele existenzielle Themen an und erinnert mit
ihrem herben Charme bisweilen an Camus.
Das Erweckungserlebnis des damaligen
Studenten, von dem aus sein ganzes Leben umgeprägt wird, hat die
Form einer Auferstehung des Alten in sein Leben hinein, die auch für
ihn zur Auferstehung in sein neues Leben wird. Denn aus dem
Einführungskurs in Englischer Literatur wächst für den auf Geheiß
der Eltern Agrarwissenschaften Studierenden eine Lebensberufung.
Die innere Welt Stoners erscheint so:
"Die Vergangenheit schälte
sich aus dem Dunkel, in dem sie blieb, und die Toten erhoben sich, um
vor ihm zum Leben zu erwachen; beide, die Vergangenheit und die
Toten, mischten sich in die Gegenwart und unter die Lebenden, wodurch
Stoner einen intensiven Moment lang eine Vision von Dichtigkeit
überkam, in die er fest eingefügt war und der er nicht entkommen
konnte, der er auch gar nicht entkommen wollte. ... Und er war auf
eine Weise bei ihnen, wie er nie bei seinen Mitmenschen sein konnte
..."2
Darin besteht die Kraft der Literatur –
"Dichtigkeit" und Gegenwart erzeugen zu können, so dass
eine Beziehung entsteht, die unvergleichlich ist mit der Beziehung zu
den Gegenwartsmenschen. Das kann bisweilen ausarten in Eskapismus, so
wie es heute am ehesten durch amerikanische Fernsehserien oder
Computerspiele geschieht. Es kann aber auch ein Leben umkrempeln und
ihm eine neue Richtung geben. So im Falle Stoners.
Dagegen stellt sich im Roman die
Erbärmlichkeit, mit der die Landarbeit die Eltern Stoners
aufgefressen hat. Nichts wird von ihnen bleiben, ihr Tod scheint
vollkommen zu sein. In einer bewegenden Reflexion, die ich als
Mischung von Ehrfurcht und nüchterner Einsicht in die Vergeblichkeit
menschlichen Tuns lese, schildert Williams nach dem Tod von Stoners
Mutter dessen Gedanken zur Vergänglichkeit:
"Er drehte sich um auf dem
kleinen, kahlen, baumlosen Friedhof, auf dem Leute wie sein Vater und
seine Mutter begraben lagen, und blickte über das flache Land zur
Farm, auf der er geboren worden war und auf der seine Eltern ihre
Leben verbracht hatten. Er dachte daran, was ihnen Jahr um Jahr die
Erde abverlangt hatte, die doch blieb, wie sie gewesen war – nur
vielleicht ein wenig karger, ein wenig ärmer. Nichts hatte sich
geändert. Ihr Leben war in freudloser Arbeit verausgabt, ihr Wille
gebrochen, ihr Verstand betäubt worden. Jetzt lagen sie in der Erde,
der sie alles gegeben hatten, und langsam, Jahr um Jahr, würde die
Erde sie sich holen. Feuchtigkeit und Fäulnis würden sich über die
Kiefernkisten hermachen, in denen ihre toten Körper lagen, würden
langsam auch auf ihr Fleisch übergreifen, bis schließlich auch die
letzten Spuren ihrer Existenz vernichtet waren. Dann würden sie ein
bedeutungsloser Teil der widerspenstigen Erde geworden sein, der sie
sich schon vor langer Zeit verschrieben hatten."3
Sturm. Neukölln, Berlin, 2015. |
Was von einem Menschen bleibt? Nichts
als die Erde, in die er verwandelt wird, scheint dieser Text zu
sagen. Alles Schaffen und Mühen umsonst, das Pflügen der Erde
verhindert nicht, irgendwann wieder zu ihr zu werden. Hier steckt ein
biblisches Bewusstsein von Mühe und Vergänglichkeit, das nicht
explizit wird und auch keine weitere Metaphysik als Kontrapunkt dazu
in den Roman entlässt. Das Kontra ist bei Williams der lebendige
Mensch Stoner, dessen sprechender steinerner Charakter-Name erst spät
noch einmal aufgeweicht wird.
Denn selbst dann, als er in der
Doktorandin Katherine seine Liebe findet, stellt er sich merkwürdig
unbeholfen und sogar distanziert dar. Nur sehr langsam und "Tag
für Tag fielen Schutzhüllen" um letztlich "füreinander
offen"4
zu werden. Es bleibt ein stilles Aufblühen, das nicht mit dem
Erlebnis des Anfangs zu vergleichen ist.
Diese Erlebnisdichte wird erst wieder
erreicht, als alles schon vorbei ist – der gesellschaftliche Tod
seiner wahren, aber außerehelichen Liebe reißt Stoner seelisch tief
hinunter – und erst viele Jahre später, beim Lesen der Widmung
ihrer Doktorarbeit, seinen Initialien, öffnet sich erneut die
intensive Gegenwart der geliebten Frau in ihm und damit auch die
alten-neuen Gefühle:
"Plötzlich war ihm, als sei
sie nebenan und er habe sie gerade erst verlassen; die Hände
kribbelten, als hätten sie Katherine noch eben berührt. Da brach
sich das so lang aufgestaute Verlustgefühl Bahn, überflutete ihn
und er ließ sich mitreißen, verlor alle Beherrschung. Er wollte
nicht gerettet werden. Dann lächelte er liebevoll wie über
eine Einnerung, und ihm kam der Gedanke, dass er auf die sechzig
zuging, weshalb er über solche Leidenschaften erhaben sein sollte,
über eine solche Liebe. Doch er wusste, er war es nicht und würde
es nie sein. Jenseits von Taubheit, Verlust und Gleichgültigkeit gab
es sie, diese Leidenschaft, stark und ungeschmälert, und sie war
immer da gewesen."5
Wie eine Offenbarung ist das für
Stoner. Sich überfluten lassen von sich selbst, die Leidenschaft zu
spüren und als gut anzuerkennen, das ist für ihn wirkliche
Lebendigkeit. Und es ist bemerkenswert, dass Williams diese Szene in
den Kontext des Kriegsendes setzt, als die kriegserprobten Soldaten
aus dem Zweiten Weltkrieg zurück in die Heimat und an die
Universität kommen:
"Die Kriegsveteranen kehrten
zurück und brachten eine neue Qualität mit, die es vorher nicht
gegeben hatte, eine Intensität und einen Trubel, die zu einer
wahrhaften Verwandlung führten."6
Die Studenten, heißt es, "waren
ungeheuer ernst und verachteten alles Triviale."7
Erfahrungen der Nähe des Todes und das Leiden am vom Tode bedrohten
Leben, solche starken Erfahrungen schenken augenscheinlich ein Gespür
für Leben und für Qualität, wie Stoner sie selbst am Beginn seiner
Literaturbegeisterung spürte.
Vielleicht führt ihn auch dieses Klima
zur Neuentdeckung seiner eigenen Lebendigkeit aus der verlorenen
Liebe.
Geschlossenes Wohnen. Hufeisensiedlung. Neukölln, Berlin, 2014. |
1 J.
Williams, Stoner. München 2014.
2 Ebd.,
24.
3 Ebd.,
138.
4 Ebd.,
245.
5 Ebd.,
314.
6 Ebd.,
312.
7 Ebd.