In seinem großen Hymnus "Das Tor
zum Geheimnis der Hoffnung" schließt Charles Péguy mit einem
Lied Gottes an die Nacht. In der biblischen Tradition hat die Nacht
vielfältige Bedeutungen: die Nacht des Auszugs aus Ägypten, die
Nacht der Geburt Jesu, die Nacht des Verrats, die Nacht der
Auferstehung. In Péguys kraftvoller Sprache und in der Frömmigkeit
des beginnenden 20. Jahrhunderts lässt Gott sich von der Nacht
erinnern an seine Schöpfung und an seinen Sohn:
"Du verkündest mir dieses
große Schweigen, das sein wird
Nach dem Beschluss des Reiches des
Menschen, wenn ich wieder mein Zepter ergreife.
Und zuweilen denk ich voraus daran,
denn dieser Mensch macht wirklich gewaltigen Lärm.
Aber vor allem, Nacht, erinnerst du
mich an jene Nacht.
Und ich werde mich ihrer in Ewigkeit
erinnern.
Kahle Bäume. Rixdorf, Berlin, 2015. |
Die neunte Stunde hatte geschlagen.
Es war im Land meines Volkes Israel.
Alles war vollbracht. Das
ungeheuerliche Abenteuer.
Seit der sechsten Stunde herrschten
die Finsternisse über dem ganzen Land, bis zur neunten Stunde.
Alles war vollbracht. Reden wir
nicht mehr davon. Es tut mir weh.
Dieser unglaubliche Abstieg meines
Sohnes unter die Menschen.
Zu den Menschen.
Und was haben sie daraus gemacht.
Diese dreißig Jahre, da er ein
Zimmermann war unter den Menschen.
Diese drei Jahre, da er eine Art
Prediger war unter den Menschen.
Ein Priester.
Diese drei Tage, da er ein Opfer
wurde unter den Menschen.
Inmitten der Menschen.
Diese drei Nächte, da er ein Toter
war unter den Menschen.
Inmitten der toten Menschen.
Diese Jahrhunderte und
Aberjahrhunderte, da er eine Hostie ist unter den Menschen.
Alles war vollbracht, dies
unglaubliche Abenteuer.
Durch das mir, Gott, die Hände
gebunden wurden für immer.
Dies Abenteuer, durch das mir mein
Sohn die Hände gebunden hat.
Um auf ewig, bindend die Hände
meiner Gerechtigkeit, auf ewig zu lösen die Hände meiner
Barmherzigkeit,
Und gegen die Gerechtigkeit eine
neue Gerechtigkeit zu erfinden.
Eine solche der Liebe. Eine solche
der Hoffnung. Alles war vollbracht.
Alles, was sein sollte. Was da
gesollt war. Wie es meine Propheten verheißen hatten. Der Vohang des
Tempels war zerrissen, mittendurch, von oben bis unten.
Die Erde hatte gezittert, die Felsen
sich gespalten.
Untergrund. Schöneberg, Berlin, 2014. |
Und ungefähr um die neunte Stunde
hatte mein Sohn
Den Schrei ausgestoßen, der nie
mehr verhallt. Alles war vollbracht. Die Soldaten waren heimgekehrt
in ihre Kasernen.
Lachend und scherzend, weil wieder
ein Dienst zu Ende war.
Ein Postenstehn, das gottlob vorbei
war.
Nur ein Hauptmann blieb noch zurück
und einige Männer.
Ein ganz kleiner Posten, um diesen
Galgen ohne Bedeutung zu hüten.
Den Galgen, an dem mein Sohn hing.
Nur ein paar Frauen waren geblieben.
Die Mutter war da.
Und vielleicht auch einige Jünger,
aber auch das ist nicht ganz sicher.
Nun hat aber jeder Mensch das Recht,
seinen Sohn zu begraben.
Jeder Mensch auf Erden, wenn ihn das
große Mißgeschick trifft.
Nicht vor seinem Sohn gestorben zu
sein. Und ich allein, ich Gott,
Die Hände gebunden durch dieses
Abenteuer,
Ich allein in jener Stunde, Vater
nach so vielen Vätern,
Ich allein konnte meinen Sohn nicht
begraben.
Da war es, o Nacht, dass du kamst.
Meine geliebte Tochter unter allen,
ich seh es noch und werde es die ganze Ewigkeit lang sehen.
Da war es, o Nacht, dass du kamst,
und unter einem großen Linnen begrubst du
Den Hauptmann und seine römischen
Mannen
Die Jungfrau und die heiligen Frauen
Und diesen Berg und dieses Tal, über
die der Abend sich neigte,
Und mein Volk Israel, und die
Sünder, und mit allen zusammen auch jenen, der starb, der gestorben
war für sie alle.
Und die Männer Josephs von
Arimathäa, die schon nahten
Mit einem weißen Linnen."1
Das weiße Linnen, das auf das Kommende
hinweist, auf die Hoffnung in der großen Nacht der Auferstehung.
1 Charles
Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung. 4. Aufl. Einsiedeln
2007, 169-171.