Samstag, 11. April 2015

Die Wunden Gottes berühren - Tomáš Halík und der Apostel Thomas

Das heutige Evangelium (Joh 20,19-31) steht mit der Erzählung vom zweifelnden Thomas traditionell im Zeichen derer, die angesichts der Auferstehung Jesu nachhaken, die daran zweifeln oder gar nicht glauben können.
Aber der Evangelientext hat noch eine weitere Pointe, die der tschechische Priester, Professor und Psychologe Tomáš Halík in seinem Essayband "Berühre die Wunden" aufnimmt und erläutert.
Vor einigen Tagen sprach er auch bei einer Veranstaltung in der Katholischen Akademie Berlin und bot dort auch einige Thesen aus seinem Bestseller "Geduld mit Gott" dar, in dem er einige originelle Gedanken zu Atheismus und zweifelnde Distanz zu Gott referiert. Das Folgende schließt sich an diese Überlegungen an.

Heilende Verwundung.
Comenius-Garten, Rixdorf, Berlin, 2015.
Bei einem Besuch in Madras / Chennai, der südindischen Stadt, in der gemäß der Tradition der Apostel Thomas begraben ist, wird Halík in ein Waisenhaus geführt, dessen furchtbare Zustände ihn schockieren: "Die Luft nahm mir den Atem, inmitten des Gestanks und des Weinens ging es mir psychisch, physisch und moralisch schlecht, ich erstickte durch ein Gefühl der Ohnmacht und ein brennendes Schamgefühl, das man manchmal im Angesicht der Leidenden nur deshalb empfindet, weil man selbst eine gesunde Haut, einen vollen Bauch, ein sauberes Bett und ein Dach über dem Kopf hat. Ich wollte von dort (und nicht nur von dort) so schnell wie möglich feige fliehen, Augen und Herz verschließen und vergessen".

Diese Versuchung der Flucht kennt wahrscheinlich jeder, der solche Erfahrungen macht, aber für Halík wurde dieser Impuls zum Moment der Besinnung. Er fährt fort: "Aber gerade in dem Moment tauchte in mir aus der Tiefe der Satz auf: 'Berühre die Wunden!' Und wieder: 'Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.'" Und schießlich: "Jesus identifiziert sich mit allen Kleinen und Leidenden – also sind alle schmerzenden Wunden, das ganze Leid der Welt und der Menschheit 'die Wunden Christi'. An Christus zu glauben, 'mein Herr und mein Gott' rufen zu dürfen – das kann ich nur dann, wenn ich diese Seine Wunden berühren werde, von denen unsere Welt auch heute so voll ist."1

Christus in den Leidenden zu erkennen ist eine zutiefst welthafte Frömmigkeit und, wie auch die igatianischen Straßenexerzitien, im Anschluss an Mt 25 eine herausfordernde christliche Haltung. Wenn der Weltenrichter Christus selbst sich an dieser Stelle mit den Kleinen und Gebeugten identifiziert, sind wir immer zur Tat gerufen: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40)
Die Verknüpfung mit der Haltung des Thomas ist für mich sehr erhellend. Vielleicht, so schreibt Halík, ist Thomas ja viel sensibler als alle anderen Jünger: "Er nahm das Kreuz ernst – und die Nachricht über die Auferstehung erschien ihm vielleicht als ein zu billiges Happy End der Passionsgeschichte. Vielleicht hat er sich deshalb geweigert, sich der Freude der anderen Apostel anzuschließen, und wollte deshalb die Wunden Jesu sehen."2

Auf diese Weise werden die Wunden zum zentralen Unterscheidungskriterium unseres Gottes. Halík nimmt hier die Skepsis des heiligen Martin von Tours auf, der angesichts einer Versuchung auf den Wunden Christi als Erkennungsmerkmal beharrte und legt selbst ein ergreifendes Credo ab:
"Ich bin nicht in der Lage, die Worte 'mein Gott' auszusprechen, wenn ich nicht Seine Wunden sehe! Selbst angesichts der strahlendsten religiösen Vision hätte ich wahrscheinlich – trotz aller Offenheit – meine Zweifel, ob es sich nicht um eine Illusion handelt, um die Projektion meiner Wünsche oder sogar um den Antichrist selbst – wenn sie nicht 'die Narben der Nägel' tragen würde. Mein Gott ist der verwundete Gott."3
Die Wunden übermalen. Weserstraße, Neukölln, Berlin, 2015.
Dies ist der eine harte Pol des Thomas-Ereignisses, der auf den persönlichen Glauben an Gott gerichtet ist. Aber auch der andere Pol, in dem wir in den Wunden der Welt Gottes Wunden erkennen, bleibt ein Schwergewicht: Denn wir können nicht alle Wunden heilen und werden immer wieder neu von ihnen getroffen, wenn wir unser Herz nicht verschließen.
"Trotzdem", schreibt Halík hier, "dürfen wir jedoch vor den Wunden der Welt nicht fliehen und ihnen unsere Rücken zuwenden, wir müssen sie mindestens sehen, berühren, und uns von ihnen ergreifen lassen. Wenn ich ihnen gegenüber gleichgültig, unberührt, unverwundet bliebe – wie könnte ich dann den Glauben und die Liebe zu Gott bekennen, den ich nicht sehe."4 (vgl. 1Joh 4,20)

Das ist Gottes Weg in dieser Welt, auf den er auch uns ruft – dass wir uns einlassen, uns wo nötig die Hände schmutzig machen und damit gegen die (eigene) Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit angehen. 
Gottes Liebe und Zugewandtheit vertrauend wissen wir zwar auch: "Die Wunden bleiben Wunden",5 aber die Liebe des Vaters, der uns aufwecken und auferwecken will, ist stärker als alles Leid und aller Tod. 


1   T. Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung. Freiburg i.Br. 2. Aufl. 2014, 18.

2   Ebd., 20f.

3   Ebd., 15.

4   Ebd., 19.
5   Ebd., 21.