Das heutige Evangelium (Joh 20,19-31)
steht mit der Erzählung vom zweifelnden Thomas traditionell im
Zeichen derer, die angesichts der Auferstehung Jesu nachhaken, die
daran zweifeln oder gar nicht glauben können.
Aber der Evangelientext hat noch eine
weitere Pointe, die der tschechische Priester, Professor und
Psychologe Tomáš Halík in seinem Essayband "Berühre die
Wunden" aufnimmt und erläutert.
Vor einigen Tagen sprach er auch bei
einer Veranstaltung
in der Katholischen Akademie Berlin und bot dort auch einige Thesen
aus seinem Bestseller "Geduld mit Gott" dar, in dem er
einige originelle Gedanken zu Atheismus
und zweifelnde Distanz
zu Gott referiert. Das Folgende schließt sich an diese Überlegungen
an.
Heilende Verwundung. Comenius-Garten, Rixdorf, Berlin, 2015. |
Bei einem Besuch in Madras / Chennai,
der südindischen Stadt, in der gemäß der Tradition der Apostel
Thomas begraben ist, wird Halík in ein Waisenhaus geführt, dessen
furchtbare Zustände ihn schockieren: "Die Luft nahm mir den
Atem, inmitten des Gestanks und des Weinens ging es mir psychisch,
physisch und moralisch schlecht, ich erstickte durch ein Gefühl der
Ohnmacht und ein brennendes Schamgefühl, das man manchmal im
Angesicht der Leidenden nur deshalb empfindet, weil man selbst eine
gesunde Haut, einen vollen Bauch, ein sauberes Bett und ein Dach über
dem Kopf hat. Ich wollte von dort (und nicht nur von dort) so schnell
wie möglich feige fliehen, Augen und Herz verschließen und
vergessen".
Diese Versuchung der Flucht kennt
wahrscheinlich jeder, der solche Erfahrungen macht, aber für Halík
wurde dieser Impuls zum Moment der Besinnung. Er fährt fort: "Aber
gerade in dem Moment tauchte in mir aus der Tiefe der Satz auf:
'Berühre die Wunden!' Und wieder: 'Reiche deinen Finger her und sieh
meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine
Seite.'" Und schießlich: "Jesus identifiziert sich
mit allen Kleinen und Leidenden – also sind
alle schmerzenden Wunden, das ganze Leid der Welt und der Menschheit
'die Wunden Christi'. An Christus zu glauben, 'mein Herr
und mein Gott' rufen zu dürfen – das kann ich nur dann, wenn ich
diese Seine Wunden
berühren werde, von denen unsere Welt auch heute so voll ist."1
Christus in den Leidenden zu erkennen
ist eine zutiefst
welthafte Frömmigkeit und, wie auch die igatianischen Straßenexerzitien, im Anschluss an Mt 25 eine herausfordernde christliche Haltung. Wenn der Weltenrichter Christus selbst sich an
dieser Stelle mit den Kleinen und Gebeugten identifiziert, sind wir
immer zur Tat gerufen: "Was ihr für einen meiner geringsten
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40)
Die Verknüpfung mit der Haltung des
Thomas ist für mich sehr erhellend. Vielleicht, so schreibt Halík,
ist Thomas ja viel sensibler als alle anderen Jünger: "Er
nahm das Kreuz ernst – und die Nachricht über die Auferstehung
erschien ihm vielleicht als ein zu billiges Happy End der
Passionsgeschichte. Vielleicht hat er sich deshalb geweigert, sich
der Freude der anderen Apostel anzuschließen, und wollte deshalb die
Wunden Jesu sehen."2
Auf diese Weise werden die Wunden zum
zentralen Unterscheidungskriterium unseres Gottes. Halík nimmt hier
die Skepsis des heiligen Martin von Tours auf, der angesichts einer
Versuchung auf den Wunden Christi als Erkennungsmerkmal beharrte und
legt selbst ein ergreifendes Credo ab:
"Ich bin nicht in der Lage, die
Worte 'mein Gott' auszusprechen, wenn ich nicht Seine Wunden sehe!
Selbst angesichts der strahlendsten religiösen Vision hätte ich
wahrscheinlich – trotz aller Offenheit – meine Zweifel,
ob es sich nicht um eine Illusion handelt, um die Projektion meiner
Wünsche oder sogar um den Antichrist selbst – wenn sie nicht 'die
Narben der Nägel' tragen würde. Mein Gott ist der verwundete
Gott."3
Die Wunden übermalen. Weserstraße, Neukölln, Berlin, 2015. |
Dies ist der eine harte Pol des
Thomas-Ereignisses, der auf den persönlichen Glauben an Gott
gerichtet ist. Aber auch der andere Pol, in dem wir in den Wunden der
Welt Gottes Wunden erkennen, bleibt ein Schwergewicht: Denn wir
können nicht alle Wunden heilen und werden immer wieder neu von
ihnen getroffen, wenn wir unser Herz nicht verschließen.
"Trotzdem", schreibt
Halík hier, "dürfen wir jedoch vor den Wunden der Welt
nicht fliehen und ihnen unsere Rücken zuwenden, wir müssen sie
mindestens sehen,
berühren, und uns von
ihnen ergreifen
lassen. Wenn ich ihnen gegenüber gleichgültig, unberührt,
unverwundet bliebe –
wie könnte ich dann den Glauben und die
Liebe zu Gott bekennen, den
ich nicht sehe."4
(vgl. 1Joh 4,20)
Das ist Gottes Weg in dieser Welt, auf
den er auch uns ruft – dass wir uns einlassen, uns wo nötig die
Hände schmutzig machen und damit gegen die (eigene) Gleichgültigkeit
und Hartherzigkeit angehen.
Gottes Liebe und Zugewandtheit vertrauend wissen wir zwar auch: "Die Wunden
bleiben Wunden",5
aber die Liebe des Vaters, der uns aufwecken
und auferwecken will, ist stärker als alles Leid und aller Tod.
1 T.
Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der
Verwandlung. Freiburg i.Br. 2. Aufl. 2014, 18.
2 Ebd.,
20f.
3 Ebd.,
15.
4 Ebd.,
19.
5 Ebd.,
21.