Mittwoch, 1. Oktober 2014

Therese von Lisieux - Im Regen geschrieben

Eines der ersten Gedichte von Hilde Domin, die mich gefesselt haben, ist "Im Regen geschrieben"1 Es geht um die Gewissheit, dass das Gute auch in Finsternissen ausstrahlt.
Licht. U-Bhf Fehrbelliner Platz,
Wilmersdorf, Berlin, 2014.

Im Regen geschrieben

Wer wie die Biene wäre,

die die Sonne 
auch durch den Wolkenhimmel fühlt,
die den Weg zur Blüte findet
und nie die Richtung verliert,
dem lägen die Felder in ewigem Glanz,
wie kurz er auch lebte,
er würde selten
weinen.

Es kam mir wieder in den Sinn im Hinblick auf die Heilige, derer die katholische Kirche heute gedenkt – Therese von Lisieux.
Diese ist über das Blumige ihrer Sprache hinaus eine äußerst faszinierende Person, die wie wohl viele Gläubige und Ungläubige sowohl Regen als auch Sonnenschein in Bezug auf ihre grundlegenden Überzeugungen kannte. Doch für sie war, das durfte ich bei Tomáš Halík lernen, das Vertrauen auf den Glanz der Sonne trotz ihres Gottesglaubens nicht mehr selbstverständlich.
Sie stand im Gefühl ihrer Verlassenheit und Dunkelheit allein, ohne den göttlichen Glanz noch zu ahnen – und nahm dieses Gefühl an "als Ausdruck der Solidarität mit den Nichtgläubigen."2

In einer Zeit der Krise, als am Ende des 19. Jahrhunderts mit Industrialisierung und Atheismus neue soziale und denkerische Herausforderungen auf den christlichen Glauben zu kamen, schien mir die Frömmigkeit der "kleinen Therese" oft als eine Flucht ins Infantile.
Doch sind ihre Krisen, die sie selbst nur zum Teil als Prüfung zu verstehen imstande war, so existenziell, dass sie mich damit ein wenig an die mystisch inspirierte und gleichzeitig realitätsentzogene Isa aus Wolfgang Herrndorfs letztem Roman "Bilder deiner großen Liebe" erinnert. 
 
Ja, what if?, Schöneberg, Berlin, 2014.
Selbst in einer ideologiefernen Zeit wie der unseren ist das Eingestehen eigener Zweifel normalerweise nicht opportun. Vielleicht weil die subjektiven Überzeugungen die letzte Bastion sind, auf die ein Individuum glaubt, bauen zu können, auch ohne dass diese bis ins Letzte intersubjektiv begründbar sein müssten.
Therese hatte in ihrer Zeit, in der päpstlicher Syllabus und antikirchliche Ideologien einander die wahre Weltdeutung streitig machten, die gar nicht infantile Demut – letztlich den Mut –, zu ihren Dunkelheiten zu stehen.
Und dabei zu hoffen, dass der "ewige Glanz", von dem Hilde Domin spricht, doch ein wirklicher Glanz ist. Als eine, die die Ferne Gottes leidvoll erfahren hatte, steht sie zwar weiterhin in einem Bezugsrahmen, der Gott im Blick zu behalten sucht.
Aber ihr angefochtener Glaube flieht "vor der Herausforderung des Atheismus nicht feige in die Festung seiner Gewissheiten [...], um von dort aus den Atheismus aus sicherer Entfernung über den Graben des Unverständnisses mit Argumenten militanter Apologeten zu beschießen, sondern sich mit einem weit größeren Mut und 'unbewaffnet' [...] ins 'Lager der Ungläubigen' begibt und von dort in die Schatzkammer des Glaubens eine neue Trophäe mitbringt, nämlich die atheistische Erfahrung der Gottesferne."3

Wahrscheinlich ist auch uns Gläubigen heute diese "verregnete" Gottesferne gar nicht so fern, vielleicht ist die Herausforderung viel eher, wie Papst Franziskus immer wieder betont, aus uns selbst herauszukommen und die Solidarität mit jenen zu spüren, die den Gottesglanz nicht kennen.

 
Gitter am Himmel, Dahlem, Berlin, 2014.
1   Hilde Domin, Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt am Main 1994, 64.
2   T. Hálik, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute. 5. Aufl. Freiburg i.Br. 2012, 50.
3   Ebd., 57f.