Das Nachwort sagt, "am Ende
sollte ein zusammenhängender Text dastehen, der vorhandene Lücken
aber nicht verbirgt."1
Das ist gelungen.
Und nicht nur das: ein geniales Buch
ist aus dem Zusammenstellen der hinterlassenen Romanfragmente von
Wolfgang Herrndorf entstanden. Da sind hinreißende Passagen von
Begegnungen am Straßenrand, aber auch abseitige Erfahrungen mit
Mensch und Natur, und immer wieder Einblicke in eine extreme
Innenwelt, die eine Interpretation nicht leicht machen. Aus all dem
ergibt sich eine bisweilen lyrische, bisweilen kritisch-ironische
Perspektive auf die Welt, in der wir uns bewegen.
Ein Mädchen ist auf dem Weg durch
Deutschland und man könnte sie eine Philosophin und Sinnsuchende,
eine Heimatlose oder, wie wohl die meisten, eine Verrückte nennen.
Fensterhaus mit Autobahn, Charlottenburg, Berlin, 2014. |
Ohne Ziel scheint sie Wälder, Straßen,
Kanäle und kleine Ortschaften zu durchqueren und die Menschen aus
großer Distanz anzuschauen: "Lange stehe ich an einem Zaun
und betrachte durch ein breites Wohnzimmerfenster ein grünblaues
Aquarium, hinter dem eine vierköpfige Familie zu Abend isst. Ich
zähle elf Fische, zwei große graue und neun kleine bunte. Es gibt
so eine Art Playmobilschloss unten im Wasser, durch das die kleinen
bunten gern schwimmen."2
In diesen Passagen scheint die
Protagonistin Isa der Tierwelt deutlich näher zu stehen als der
Menschenwelt. Und zugleich wirken manche solcher Wohnzimmereinblicke
ja auch wie Aquarien oder Schaukästen, hinter denen man aus gesunder
Distanz die fremde Spezies Mensch betrachten könnte – wenn man
denn wollte.
Eine diffuse Sehnsucht nach irgendeiner
Art von Beheimatung hat Isa dennoch, etwa wenn sie sich angesichts
eines Grabsteines und eines Gutshofes in eine Art Heimatroman
imaginiert: "Nanu, wer klingelt denn da?, würde ich denken,
und ich hätte wirklich keine Ahnung,wer das sein könnte, denn ich
erwarte niemanden auf Gut Hohenbuchen, und ich kriege auch nie
Besuch, und dann steht da plötzlich Daniel, und wir fallen uns in
die Arme wie verrückt, obwohl wir uns im ersten Moment gar nicht
erkennen."3
Sich umarmen ohne sich zu erkennen –
solche Irritationen gibt es häufiger im Text, manchmal lassen sie
lächeln, immer regen sie zum Nachdenken an.
Bei aller Unklarheit über Isas Motive
oder Ziele, bei manchen Andeutungen des Wunsches nach Nähe, bleibt
sie doch klar in der Abgrenzung von den Menschen, denen sie begegnet.
Die Gesichter der meisten Menschen bleiben leer
für sie. Symptomatisch dafür steht das Gesicht eines Portiers einer
kleinen Absteige: "Es ist so grau und nichtssagend, dass es
keinen Unterschied macht, ob man es sieht oder die Rückseite einer
Zeitung."4
Darin spiegelt sich Isas inneres
Getrenntsein von jeglicher gesellschaftlichen Verhaltensregel. Sie
ist ungebunden im doppelbödigen Sinne des Wortes. Keine Norm, keine
Vernunft hält sie. Dem entspricht, dass sie lieber aus dem Fenster
als durch Türen die Häuser verlässt: "Geht man durch die
Tür, dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und
ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum
wie in seinem eigenen Innern."5
Schaukasten, leer. Bad Freienwalde, 2014. |
Aber auch ihr Inneres bleibt ihr unklar
– das Heraustreten aus dem Verrücktsein scheint eines ihrer Ziele
zu sein, aber ihr Selbstgefühl ist verschwunden. Zwar kann
sie flirten und ungeheuer berechnend im Einsatz ihres pubertierenden
Körpers sein, aber Hunger und Schlaf scheinen sie wie aus dem Nichts
zu überfallen. Die Distanz zu ihrem eigenen Körper ist mindestens
genauso groß wie die Distanz zu ihren Mitmenschen:
"In meinem Innern wüten
eiserne Zangen. Ich versuche zu schlafen und kann es nicht. Ich
versuche weiterzugehen und kann es nicht. Ich konzentriere mich auf
die Sachlage und komme zu dem Ergebnis, dass ich Hunger habe."6
Kein Wunder, dass sie auch die
schüchterne Annäherung eines Jungen, der ohne seine Clique neben
ihr vor einem Supermarkt sitzen bleibt, instinktiv abblockt und seine
Klage über die Familie kontert mit einer Wendung des Sartre-Zitats
nach innen: "Die Hölle bin ich."7
Zwar klingt das wie ein typischer
Pubertierendenspruch, zusammen mit allem anderen aber greift es nach
der Existenz dieser wachen und so sensiblen Jugendlichen. Isas
Interesse liegt eindeutig mehr bei dem, was viele Menschen als
nebensächlich ansehen. Sei es die Liebe zur geschundenen Kreatur
oder die Aufmerksamkeit für die Phänomene der Natur. Doch eben
darin liegt auch ihre Gefährdung – wer sich selbst so ganz aus der
eigenen Kontrolle entlässt, mag zwar vieles neu sehen können, der
Wahnsinn liegt aber immer in Reichweite.
Holunder am Bahnhof, Hauptbahnhof, Dresden, 2014. |
Und auch der Tod – seine alles
erfassende Sinnlosigkeit blitzt an mehreren Stellen des Romans auf.
Die existenzielle Not, von der Isa umgetrieben wird, manifestiert
sich dort am meisten.
"Ich träume von Schiffen und
Zügen. Ich sehe Menschen, die Schiffe und Züge bauen und damit
herumfahren und frage mich, wozu. Sterben werden sie doch."8
Doch trotz solcher Sätze ist Isas
Geschichte keine trostlose. Nahe läge zwar auch die große
Trostlosigkeit: Ohne Freundschaften, ohne Bezug zur Welt der
Menschen, ohne klare Identität, ohne haltende Ordnung, ohne Heimat.
Aber vielleicht schafft erst das den
Freiraum für den fragilen, bisweilen mystisch erleuchteten Blick.
Denn die Welt und Isas Leben bilden nicht nur eine Aneinanderreihung
von Enttäuschungen, Trennungen und Fluchten. Auf einem Lastkahn sieht sie "mit
überscharfer Klarheit [...], wie das Gleißen und Glänzen überall
im Führerhaus unsichtbar alles mit allem verbunden hat."9
Die Menschenwelt mag Isa nur von außen
sehen. Doch alles Weitere sieht sie, wenigstens von Zeit zu Zeit,
durchleuchtet von innen.
1 W.
Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe. Berlin 2014. - M. Gärtner /
K. Passig, Anhang, 138.
2 Ebd.,
84.
3 Ebd.,
27.
4 Ebd.,
104.
5 Ebd.,
97.
6 Ebd.,
11.
7 Ebd.,
87.
8 Ebd.,
102.
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