"Wir glaubten, dass wir uns
durch Vernunft und Recht im Leben durchsetzen, und wo beides
versagte, sahen wir uns am Ende unserer Möglichkeiten. Wir haben die
Bedeutung des Vernünftigen und Gerechten auch im Geschichtsablauf
immer wieder unterschätzt."1
So schreibt D. Bonhoeffer aus der Haft an sein Patenkind.
Angesichts des Kriegsschreckens, der in
Teilen der Welt tobt, angesichts der Rechtslosigkeit und Unvernunft
fühle ich mich wie gelähmt. Zwar beschäftigt mich das Leiden so
vieler Menschen dauernd, aber ich kann mir keinen Reim auf das Chaos
machen. Zudem bekomme ich mehr und mehr das Gefühl, dass die Angst
vor der Schuld und dem Versagen politischer Entscheidungen auch viele
politisch Verantwortliche lähmt.
Treppenhaus, Rathaus Neukölln, Neukölln, Berlin, 2014. |
Einen alle diplomatischen Verhandlungen
öffentlich oder geheim destruierenden Großmachtspolitiker wie
Wladimir Putin nicht in Schranken weisen zu können (oder zu
wollen?), das ist schon erschreckend. Aber außerdem terroristische
Milizen wie die IS im Irak und in Syrien nicht an ihren
menschenverachtenden Greueltaten hindern zu können, das
desillusioniert und bedrückt.
Verantwortung, das war der große
Begriff deutscher Außenpolitiker in diesem Jahr. Verantwortung
allerdings, die auch tatsächlich übernommen werden kann. Europa
oder Deutschland ist natürlich nicht direkt verantwortlich, wenn im
Irak Menschen von religiösen Fanatikern massakriert werden. Aber
unsere mediale Wahrnehmung, das Wissen um die Ereignisse und unsere
Reaktion darauf bringen uns in die Verantwortung. Was bedeutet das?
Der ehemalige KZ-Häftling und
Philosoph Jean Améry sieht deutsche Geschichtsbetrachtung und
Politik in besonderer Verantwortung, ein gewisses "Selbstmisstrauen"
zu haben; "das deutsche Volk" müsse "empfindlich
dafür bleiben", dass es seine furchtbare Geschichte, dass
es insbesondere Auschwitz nicht neutralisieren kann.2
Diese Empfindlichkeit für die Bosheit halte ich für einen
notwendigen Kern des politischen Handelns.
Mein Hauptkriterium der Verantwortung
wäre darum die Sensibilität für die Leidenden. Auf ihrer Seite
stehen heißt, nicht nur pazifistisch zu moralisieren, wie es
prominent und immer wieder beispielsweise Margot Käßmann tut,
sondern sich zu erheben, die Lähmung abzustreifen und sich
einzumischen. Mit Worten des ehemaligen KZ-Häftlings Elie Wiesel:
"Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem
Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt den
Folterknecht, niemals den Gefolterten."3
Das bedeutet unter Umständen auch,
tatsächlich Konliktpartei zu werden, mit allen Risiken und
Beschwernissen. Oft kann man nicht sicher sein, was dabei
herauskommt. Oft wird dies nicht erfolgreich sein. Oft wird es
Konflikte und Probleme und andere Aspekte abzuwägen geben. Und oft
wird eine mögliche Schuld gegen eine andere Schuld abgewogen werden
müssen. Denn schuldig werden können wir nicht nur durch unser Tun, sondern auch durch unser Nichttun.
Ausgebranntes Haus, Loucna pod Klinovcem, Tschechische Republik, 2013. |
Vielleicht ist die Rede von
Bundespräsident Gauck auf der Sicherheitskonferenz in München
Anfang des Jahres auch heute noch lesenswerter als gemeinhin
angenommen. An einer Stelle heißt es: "Deutschland darf
weder aus Prinzip "nein" noch reflexhaft "ja"
sagen."4
Das Abwägen aller Optionen, zuerst diplomatischen und humanitären
Handelns, aber als ultima ratio auch militärischen Eingreifens, ist
der Pflicht geschuldet, die Übernahme der genannten Verantwortung
sachgerecht zu analysieren, sich klar zu machen, was geschieht, wenn
eine Sache getan oder nicht getan wird. Klar bleibt dabei: "'Mehr
Verantwortung' bedeutet eben nicht: 'mehr
Kraftmeierei'!"5
Denn Werte wie das Leben und die Würde
von Menschen, Selbstbestimmung und Beteiligung, Respekt vor Anderen
und ein Leben in Freiheit lassen sich nicht mit allen Mitteln
verteidigen. Gerade die USA mit ihrer langen menschenrechtlichen
Tradition sehen sich angesichts ihres "war on terror" und
der Art ihrer Kriegführung von neuen und alten Gegnern vorgeführt
und moralisch diskreditiert.
Ja, es ist fraglich, ob mehr Waffen
tatsächlich zum Frieden führen können – aber aus der sicheren
Ferne zuzusehen, wie Menschen abgeschlachtet werden und darüber sein
Abscheuen auszudrücken reicht eben auch nicht. Mit dem vorgenannten
Elie Wiesel: "Manchmal müssen wir direkt eingreifen. Wenn
menschliche Leben bedroht sind, wenn die menschliche Würde in Gefahr
ist, dann werden nationale Grenzen und Empfindlichkeiten
irrelevant."6
Wichtig bleibt m.E. nichtsdestotrotz
das gemeinsame Auftreten von Staaten, die sich dem Unrecht
entgegenstellen wollen und dies mitunter nur mithilfe militärischer
Mittel tun können. Es bleibt wichtig, fundamentale Werte wie das
Leben Unschuldiger gemeinsam zu verteidigen, auch wenn dabei eigenes
Schuldigwerden und Fehlermachen nicht ausgeschlossen werden kann.
Nicht nur deutsche Politiker jeglicher
Coleur ziehen darum Waffenlieferungen an kurdische Gruppen in
Betracht, auch deutsche und irakische Bischöfe halten dies
angesichts der Gräueltaten der IS im Irak für opportun. Die
deutschen Bischöfe äußerten sich so:
"Militärische Maßnahmen, zu
denen auch die Lieferung von Waffen an eine im Konflikt befindliche
Gruppe gehört, dürfen niemals ein selbstverständliches und
unhinterfragtes Mittel der Friedens- und Sicherheitspolitik sein. Sie
können aber in bestimmten Situationen auch nicht ausgeschlossen
werden, sofern keine anderen – gewaltfreien oder gewaltärmeren –
Handlungsoptionen vorhanden sind, um die Ausrottung ganzer
Volksgruppen und massenhafte schwerste Menschenrechtsverletzungen zu
verhindern."7
Politisch aktiv werden um der Leidenden
willen und ohne tatsächliche Hilfe im Letzten wirklich garantieren
zu können, in der Gefahr, sich die Hände schmutzig zu machen, nach
Abwägung aller Umstände und im Versuch, die weitere Gefährdung
Unschuldiger so gering wie möglich zu halten, das hieße wohl,
verantwortlich zu handeln.
Nächtliches Haus im Spiegel, Poznan, 2014. |
1 D.
Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus
der Haft. 3., erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1972. 326 (Gedanken
zum Tauftag von D.W.R. Bethge, Mai 1944).
2 J.
Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines
Überwältigten. München 1966, 124.
3 E.
Wiesel, Gesang der Toten. Erinnerung und Zeugnis. Freiburg i.Br.
1987, 179.
5 Ebd.
6 E.
Wiesel, a.a.O.