Samstag, 6. September 2014

Leidsensible Außenpolitik

"Wir glaubten, dass wir uns durch Vernunft und Recht im Leben durchsetzen, und wo beides versagte, sahen wir uns am Ende unserer Möglichkeiten. Wir haben die Bedeutung des Vernünftigen und Gerechten auch im Geschichtsablauf immer wieder unterschätzt."1 So schreibt D. Bonhoeffer aus der Haft an sein Patenkind.
Angesichts des Kriegsschreckens, der in Teilen der Welt tobt, angesichts der Rechtslosigkeit und Unvernunft fühle ich mich wie gelähmt. Zwar beschäftigt mich das Leiden so vieler Menschen dauernd, aber ich kann mir keinen Reim auf das Chaos machen. Zudem bekomme ich mehr und mehr das Gefühl, dass die Angst vor der Schuld und dem Versagen politischer Entscheidungen auch viele politisch Verantwortliche lähmt.

Treppenhaus, Rathaus Neukölln,
Neukölln, Berlin, 2014.
Einen alle diplomatischen Verhandlungen öffentlich oder geheim destruierenden Großmachtspolitiker wie Wladimir Putin nicht in Schranken weisen zu können (oder zu wollen?), das ist schon erschreckend. Aber außerdem terroristische Milizen wie die IS im Irak und in Syrien nicht an ihren menschenverachtenden Greueltaten hindern zu können, das desillusioniert und bedrückt.

Verantwortung, das war der große Begriff deutscher Außenpolitiker in diesem Jahr. Verantwortung allerdings, die auch tatsächlich übernommen werden kann. Europa oder Deutschland ist natürlich nicht direkt verantwortlich, wenn im Irak Menschen von religiösen Fanatikern massakriert werden. Aber unsere mediale Wahrnehmung, das Wissen um die Ereignisse und unsere Reaktion darauf bringen uns in die Verantwortung. Was bedeutet das?

Der ehemalige KZ-Häftling und Philosoph Jean Améry sieht deutsche Geschichtsbetrachtung und Politik in besonderer Verantwortung, ein gewisses "Selbstmisstrauen" zu haben; "das deutsche Volk" müsse "empfindlich dafür bleiben", dass es seine furchtbare Geschichte, dass es insbesondere Auschwitz nicht neutralisieren kann.2 Diese Empfindlichkeit für die Bosheit halte ich für einen notwendigen Kern des politischen Handelns.

Mein Hauptkriterium der Verantwortung wäre darum die Sensibilität für die Leidenden. Auf ihrer Seite stehen heißt, nicht nur pazifistisch zu moralisieren, wie es prominent und immer wieder beispielsweise Margot Käßmann tut, sondern sich zu erheben, die Lähmung abzustreifen und sich einzumischen. Mit Worten des ehemaligen KZ-Häftlings Elie Wiesel: "Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt den Folterknecht, niemals den Gefolterten."3

Das bedeutet unter Umständen auch, tatsächlich Konliktpartei zu werden, mit allen Risiken und Beschwernissen. Oft kann man nicht sicher sein, was dabei herauskommt. Oft wird dies nicht erfolgreich sein. Oft wird es Konflikte und Probleme und andere Aspekte abzuwägen geben. Und oft wird eine mögliche Schuld gegen eine andere Schuld abgewogen werden müssen. Denn schuldig werden können wir nicht nur durch unser Tun, sondern auch durch unser Nichttun.

Ausgebranntes Haus,
Loucna pod Klinovcem, Tschechische Republik, 2013.
Vielleicht ist die Rede von Bundespräsident Gauck auf der Sicherheitskonferenz in München Anfang des Jahres auch heute noch lesenswerter als gemeinhin angenommen. An einer Stelle heißt es: "Deutschland darf weder aus Prinzip "nein" noch reflexhaft "ja" sagen."4 Das Abwägen aller Optionen, zuerst diplomatischen und humanitären Handelns, aber als ultima ratio auch militärischen Eingreifens, ist der Pflicht geschuldet, die Übernahme der genannten Verantwortung sachgerecht zu analysieren, sich klar zu machen, was geschieht, wenn eine Sache getan oder nicht getan wird. Klar bleibt dabei: "'Mehr Verantwortung' bedeutet eben nicht: 'mehr Kraftmeierei'!"5

Denn Werte wie das Leben und die Würde von Menschen, Selbstbestimmung und Beteiligung, Respekt vor Anderen und ein Leben in Freiheit lassen sich nicht mit allen Mitteln verteidigen. Gerade die USA mit ihrer langen menschenrechtlichen Tradition sehen sich angesichts ihres "war on terror" und der Art ihrer Kriegführung von neuen und alten Gegnern vorgeführt und moralisch diskreditiert.

Ja, es ist fraglich, ob mehr Waffen tatsächlich zum Frieden führen können – aber aus der sicheren Ferne zuzusehen, wie Menschen abgeschlachtet werden und darüber sein Abscheuen auszudrücken reicht eben auch nicht. Mit dem vorgenannten Elie Wiesel: "Manchmal müssen wir direkt eingreifen. Wenn menschliche Leben bedroht sind, wenn die menschliche Würde in Gefahr ist, dann werden nationale Grenzen und Empfindlichkeiten irrelevant."6
Wichtig bleibt m.E. nichtsdestotrotz das gemeinsame Auftreten von Staaten, die sich dem Unrecht entgegenstellen wollen und dies mitunter nur mithilfe militärischer Mittel tun können. Es bleibt wichtig, fundamentale Werte wie das Leben Unschuldiger gemeinsam zu verteidigen, auch wenn dabei eigenes Schuldigwerden und Fehlermachen nicht ausgeschlossen werden kann.

Nicht nur deutsche Politiker jeglicher Coleur ziehen darum Waffenlieferungen an kurdische Gruppen in Betracht, auch deutsche und irakische Bischöfe halten dies angesichts der Gräueltaten der IS im Irak für opportun. Die deutschen Bischöfe äußerten sich so:
"Militärische Maßnahmen, zu denen auch die Lieferung von Waffen an eine im Konflikt befindliche Gruppe gehört, dürfen niemals ein selbstverständliches und unhinterfragtes Mittel der Friedens- und Sicherheitspolitik sein. Sie können aber in bestimmten Situationen auch nicht ausgeschlossen werden, sofern keine anderen – gewaltfreien oder gewaltärmeren – Handlungsoptionen vorhanden sind, um die Ausrottung ganzer Volksgruppen und massenhafte schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern."7

Politisch aktiv werden um der Leidenden willen und ohne tatsächliche Hilfe im Letzten wirklich garantieren zu können, in der Gefahr, sich die Hände schmutzig zu machen, nach Abwägung aller Umstände und im Versuch, die weitere Gefährdung Unschuldiger so gering wie möglich zu halten, das hieße wohl, verantwortlich zu handeln.

Nächtliches Haus im Spiegel, Poznan, 2014.


1   D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. 3., erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1972. 326 (Gedanken zum Tauftag von D.W.R. Bethge, Mai 1944).

2   J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1966, 124.

3   E. Wiesel, Gesang der Toten. Erinnerung und Zeugnis. Freiburg i.Br. 1987, 179.


5   Ebd.

6   E. Wiesel, a.a.O.