Vielleicht beruhte mein eleganter
Hochmut ja nur auf einem Missverständnis. Vielleicht ist das Ganze
ja bewusst und gewollt und der bisherige Eindruck einfach falsch:
Vielleicht lässt sich von den Zeugen Jehovas in ungeahnter Weise
Demut lernen.
Meine Blickrichtung hat sich umgedreht,
als ich am Ende von Martin Walsers Briefroman "Das dreizehnte
Kapitel" diese Aussage las:
Herz-Jesu-Kirche am Platz, Weimar, 2014. |
"Er hat erzählt: Als Zeuge
Jehovas Zeitschriften anzubieten, das ist Karriere. Weiter kannst du
es nicht bringen, als von den vorbeieilenden Menschen übersehen zu
werden. Das ist nämlich berauschend. Diese von Absichten
Versklavten! Mitgerissen sehen die meisten Vorbeitreibenden aus. Und
er steht am Ufer des Stroms, der alle und alles mitreißt. Er hat
dieses ungeheure Privileg, zuschauen zu können, entzogen zu sein
diesem Strom, der Menschen zu Hölzchen macht, die es nirgendwohin
schwemmt."
Ja, das ist es doch: Außerhalb des
Rauschens bleiben. Sich nicht vereinnahmen lassen. Die Lockungen der
Welt nicht spüren und stattdessen: Gelassen am Ufer des Stroms
stehen.
Sicher ist das nicht die erste
Intention der sittsam gekleideten Damen und Herren am Straßenrand,
aber aus der Perspektive der geplanten Zwecklosigkeit und Distanz zur
gesellschaftlichen Wirklichkeit gewinnt das unbeachtete Stehen am
Rande einen neuen Sinn.
Es klingt verlockend, sich einfach mal
an den Rand stellen zu können und übersehen zu werden.
Oder ist der Gedanke "entzogen
zu sein diesem Strom" der neue Hochmut?
Etwas im Sinne von: "Weil ihr
fortgerissen seid und im Strom schwimmt, kann ich hier stehen und
festen Grund unter den Füßen haben. In meinem Stehen an Gottes Herzen und an diesem Straßenrand werdet ihr zu stromlinienförmigen
Geschossen des Flusses."?
Auch unabhängig von der konkret genannten Gruppe: Eingespannt in derlei Gedanken schmölze die Freiheit von der Welt in neuerliche Gefangenschaft. Der Stolz auf das Privileg des Schauens zerstörte dann die Gelassenheit und das Stehen wäre Stehen im Moder.
Also: Auf in die Fluten. Nicht treiben,
nicht stehen. Sondern mit Kraft zur Quelle.
Pferdegeschirr, Kutschen-Schöne, Rixdorf, Berlin, 2014. |