Die Bischöfe haben nach Beendigung
ihrer Herbstvollversammlung in Fulda wie üblich eine Pressekonferenz
gegeben. Dabei ging es neben vielem anderen auch um die stark
diskutierten Kirchenaustrittszahlen, die ja oft in Verbindung
gebracht werden (a) mit dem Beginn der Aufdeckung von
Missbrauchsfällen durch katholische Seelsorger 2010, (b) dem Ärger
über die Bauvorhaben des damaligen Limburger Bischofs Tebartz-van
Elst 2013 oder (c) dem automatisierten Einzug der Kirchensteuer auf
Kapitalerträge durch die Banken 2014.
Taubenschreck, Bad Kleinen, MeckPom, 2014. |
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz
Reinhard Kardinal Marx bemerkte zu dem Thema allerdings auch: „Die
Bischöfe haben es nach einer eingehenden Diskussion als notwendig
angesehen, die Gründe für die kontinuierlich zurückgehenden Zahlen
der Kindertaufe und der Gottesdienstteilnahme näher in den Blick
nehmen. Es ist wichtig, nicht einfach auf die Zahlen zu schauen,
sondern die dahinter liegenden Bedingungen zu verstehen.“1
So sehr ich diese nähere Beschäftigung
begrüße, bezweifle ich aber doch, dass man unter den Bischöfen
bisher tatsächlich glaubte, der Rückgang kirchlicher Praxis und die
Zunahme von Austretenden wären bloß zeitweilige und kurzzeitige
Trends. Schließlich befassen sich Religionssoziologen und
Pastoraltheologen seit Jahren mit diesen Fragen.
1
Augenscheinlich ist doch die
individuelle Bindung vieler Getaufter an die Institution Kirche
einfach nicht mehr vorhanden.
Exemplarisch für die oft genannten
Austrittsmotive kommentierte angesichts des diesjährigen Ansteigens
der Austrittszahlen der nordrhein-westfälische Finanzminister N.
Walter-Borjans: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Steuer
nur der Anlass und nicht der Grund für die Austritte ist. Viele
Kirchenmitglieder fühlen sich der Amtskirche offenbar nicht mehr
verbunden. Das ist so, als ob man seit Jahrzehnten in einem Verein
passiv Mitglied ist. Plötzlich kommt ein Brief: Der Mitgliedsbeitrag
wird um zehn Cent erhöht. Das macht einen erst darauf aufmerksam,
dass man schon lange hätte austreten können. Es ist ein
Erinnerungsposten.“2
Nicht die nächste Misere der Kirche,
sondern die lang andauernde Entfremdung dürfte eine der von Kardinal
Marx gesuchten „dahinter liegenden Bedingungen“ sein, über die
sicher tiefer nachzudenken wäre.
Zwei Assoziationen dazu:
2
Ein Austritt aus der Kirche wird nicht
mehr als Verlust von etwas empfunden.
Der Vergleich mag drastisch erscheinen,
aber während es in Camus' großem Roman „Die Pest“ zu
angstvoller Vereinzelung und Segregation kommt und der Autor gegen
Ende die titelgebende Krankheit selbst "im tiefsten Sinne des
Wortes Verbannung und Trennung"3
nennt, ist das „Pest-Gefühl“ sicher nicht das vorherrschende
Gefühl der Austretenden (auch wenn mancher stramme Katholik das
vielleicht so sieht oder es sich möglicherweise so wünschen würde).
Verlassenes Haus, Kallinchen, Brandenburg, 2014. |
Vielleicht geht der Schritt aus der
Kirche eher mit der Empfindung einher, eine Last losgeworden zu sein
oder eine Befreiung zu erleben – selbst wenn das eine stärkere
negative Bindung annehmen würde, die oftmals nicht vorausgesetzt
werden kann.
Im Roman erscheinen eine Reihe von
Menschen, die sich trotz der Probleme und der Ansteckungsgefahr für
die Überwindung der Krankheit einsetzen. Einer von ihnen, Jean
Tarrou, gibt an, er habe sich „entschlossen, mich jederzeit auf
die Seite der Opfer zu stellen.“4
Würde die Kirche so wahrgenommen, dass
sie an der Seite der Opfer steht (was gewiss nicht immer von ihr
abhängt), wäre sicher ein großer Schritt gegen die Trennung der
Menschen von ihr getan.
Vielleicht sitzt sie in Deutschland
noch zu fest im institutionell-gesellschaftlichen Sattel, um charmant
zu sein. Vielleicht muss sie erst noch quantitativ abspecken, damit
die Bindungskräfte wieder wachsen.
Der Arzt Rieux erwidert einige Sätze
später, was möglicherweise auch dem tieferen Gefühl mancher
Menschen in Deutschland entspricht: „Aber wissen Sie, ich fühle
mich mit den Besiegten enger verbunden als mit den Heiligen.“5
Nicht, dass nun jemand aus Mitleid
Kirchenmitglied werden sollte, sondern vielmehr, dass das Selbstbild
der Kirche eher der gesellschaftlichen und kirchlichen Realität
entspräche. Wahrscheinlich liegen hier größere Chancen als in der
jetzigen Situation und Selbstwahrnehmung.
3
Der Rostocker Rapper Marteria hat in
einem seiner neueren Songs eine kirchenferne Version religiöser
Sehnsucht formuliert. In „OMG!“
geht es um Sinn und Zukunft, um Liebe und Identität, um
existenzielle Unruhe angesichts der ganz großen Fragen. Er kenne
„kein einziges Gebet“ und finde doch „einfach keine
Ruhe“, denn seine wiederkehrende Frage ist:
„Oh mein Gott, dieser Himmel, wie
komm ich da bloß rein?
Oh mein Gott, dieser Himmel, wo zur
Hölle soll der sein?“
Abgesehen davon, dass die Bilder des
offiziellen Videos vornehmlich Bilder aus der christlichen
Ikonographie oder der katholischen Glaubenspraxis zitieren und
ironisieren, stellt sich mir die Frage: Als Chiffre für was
funktioniert das Wort „Himmel“ heute?
Wenn einer singt: „Will
da oben rein, mal seh'n, wie ich's mach, will ja gut sein, auch
wenn's nicht immer klappt“ – was will er dann? Geht es
um ein gutes Leben? Um Vereinzelung („Millionen Einzelkämpfer
wissen nicht mehr wohin“)?
Himmel im Dunkel, Hauptbahnhof Dresden, 2014. |
Letztlich geht es um Liebe: „Ich
lieg' in ihren Armen. Oh mein Gott, bin im Himmel“ Der Ort des
christlich verkündeten Gottes ist zwischen den Menschen, seine Liebe
spiegelt die menschliche Sehnsucht nach Liebe wider.
Findet sich die Kirche mit ihrer
Botschaft hier wieder? Geht es bei all den Berichten über die
Vorbereitung zur weltweiten Familiensynode im Vatikan auch um Liebe?
Welche Anknüpfungspunkte könnten Suchende, die nicht dem braven
Schwiegersohn-Ideal entsprechen, denn in der kirchlichen
Angebotsstruktur finden?
Ich kann meine Fragen nicht
beantworten.
Aber ich denke, dass die Zuwendung zu
den Opfern unserer Gesellschaftsordnung, das Herabsteigen von
staatlich dotierten Rössern und die Offenheit für die menschliche
Sehnsucht nach Liebe kein schlechter Weg sein können. Und das ganz
ohne dabei auf Zahlen schielen zu müssen.
1 Pressebericht
des Vorsitzenden unter:
http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2014/2014-165-Herbst-VV-Fulda-Pressebericht.pdf,
hier: S. 6.
2 Das
Interview erschien kürzlich in der Zeit:
http://www.zeit.de/2014/35/kirchenaustritt-kirchensteuer-banken/komplettansicht
3 A.
Camus, Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1962, 176.
4 Ebd.,
150.