Freitag, 26. September 2014

Pesthelden und Himmelsrapper. Über die Trennung von der Kirche und die Sehnsucht nach dem Himmel.

Die Bischöfe haben nach Beendigung ihrer Herbstvollversammlung in Fulda wie üblich eine Pressekonferenz gegeben. Dabei ging es neben vielem anderen auch um die stark diskutierten Kirchenaustrittszahlen, die ja oft in Verbindung gebracht werden (a) mit dem Beginn der Aufdeckung von Missbrauchsfällen durch katholische Seelsorger 2010, (b) dem Ärger über die Bauvorhaben des damaligen Limburger Bischofs Tebartz-van Elst 2013 oder (c) dem automatisierten Einzug der Kirchensteuer auf Kapitalerträge durch die Banken 2014.

Taubenschreck, Bad Kleinen, MeckPom, 2014.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx bemerkte zu dem Thema allerdings auch: „Die Bischöfe haben es nach einer eingehenden Diskussion als notwendig angesehen, die Gründe für die kontinuierlich zurückgehenden Zahlen der Kindertaufe und der Gottesdienstteilnahme näher in den Blick nehmen. Es ist wichtig, nicht einfach auf die Zahlen zu schauen, sondern die dahinter liegenden Bedingungen zu verstehen.“1
So sehr ich diese nähere Beschäftigung begrüße, bezweifle ich aber doch, dass man unter den Bischöfen bisher tatsächlich glaubte, der Rückgang kirchlicher Praxis und die Zunahme von Austretenden wären bloß zeitweilige und kurzzeitige Trends. Schließlich befassen sich Religionssoziologen und Pastoraltheologen seit Jahren mit diesen Fragen.

1
Augenscheinlich ist doch die individuelle Bindung vieler Getaufter an die Institution Kirche einfach nicht mehr vorhanden. 
Exemplarisch für die oft genannten Austrittsmotive kommentierte angesichts des diesjährigen Ansteigens der Austrittszahlen der nordrhein-westfälische Finanzminister N. Walter-Borjans: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Steuer nur der Anlass und nicht der Grund für die Austritte ist. Viele Kirchenmitglieder fühlen sich der Amtskirche offenbar nicht mehr verbunden. Das ist so, als ob man seit Jahrzehnten in einem Verein passiv Mitglied ist. Plötzlich kommt ein Brief: Der Mitgliedsbeitrag wird um zehn Cent erhöht. Das macht einen erst darauf aufmerksam, dass man schon lange hätte austreten können. Es ist ein Erinnerungsposten.“2
Nicht die nächste Misere der Kirche, sondern die lang andauernde Entfremdung dürfte eine der von Kardinal Marx gesuchten „dahinter liegenden Bedingungen“ sein, über die sicher tiefer nachzudenken wäre.
Zwei Assoziationen dazu:

2
Ein Austritt aus der Kirche wird nicht mehr als Verlust von etwas empfunden.
Der Vergleich mag drastisch erscheinen, aber während es in Camus' großem Roman „Die Pest“ zu angstvoller Vereinzelung und Segregation kommt und der Autor gegen Ende die titelgebende Krankheit selbst "im tiefsten Sinne des Wortes Verbannung und Trennung"3 nennt, ist das „Pest-Gefühl“ sicher nicht das vorherrschende Gefühl der Austretenden (auch wenn mancher stramme Katholik das vielleicht so sieht oder es sich möglicherweise so wünschen würde).
Verlassenes Haus, Kallinchen, Brandenburg, 2014.
Vielleicht geht der Schritt aus der Kirche eher mit der Empfindung einher, eine Last losgeworden zu sein oder eine Befreiung zu erleben – selbst wenn das eine stärkere negative Bindung annehmen würde, die oftmals nicht vorausgesetzt werden kann.
Im Roman erscheinen eine Reihe von Menschen, die sich trotz der Probleme und der Ansteckungsgefahr für die Überwindung der Krankheit einsetzen. Einer von ihnen, Jean Tarrou, gibt an, er habe sich „entschlossen, mich jederzeit auf die Seite der Opfer zu stellen.“4
Würde die Kirche so wahrgenommen, dass sie an der Seite der Opfer steht (was gewiss nicht immer von ihr abhängt), wäre sicher ein großer Schritt gegen die Trennung der Menschen von ihr getan.
Vielleicht sitzt sie in Deutschland noch zu fest im institutionell-gesellschaftlichen Sattel, um charmant zu sein. Vielleicht muss sie erst noch quantitativ abspecken, damit die Bindungskräfte wieder wachsen.
Der Arzt Rieux erwidert einige Sätze später, was möglicherweise auch dem tieferen Gefühl mancher Menschen in Deutschland entspricht: „Aber wissen Sie, ich fühle mich mit den Besiegten enger verbunden als mit den Heiligen.“5
Nicht, dass nun jemand aus Mitleid Kirchenmitglied werden sollte, sondern vielmehr, dass das Selbstbild der Kirche eher der gesellschaftlichen und kirchlichen Realität entspräche. Wahrscheinlich liegen hier größere Chancen als in der jetzigen Situation und Selbstwahrnehmung.

3
Der Rostocker Rapper Marteria hat in einem seiner neueren Songs eine kirchenferne Version religiöser Sehnsucht formuliert. In „OMG!“ geht es um Sinn und Zukunft, um Liebe und Identität, um existenzielle Unruhe angesichts der ganz großen Fragen. Er kenne „kein einziges Gebet“ und finde doch „einfach keine Ruhe“, denn seine wiederkehrende Frage ist:
Oh mein Gott, dieser Himmel, wie komm ich da bloß rein?
Oh mein Gott, dieser Himmel, wo zur Hölle soll der sein?
Abgesehen davon, dass die Bilder des offiziellen Videos vornehmlich Bilder aus der christlichen Ikonographie oder der katholischen Glaubenspraxis zitieren und ironisieren, stellt sich mir die Frage: Als Chiffre für was funktioniert das Wort „Himmel“ heute?
Wenn einer singt: „Will da oben rein, mal seh'n, wie ich's mach, will ja gut sein, auch wenn's nicht immer klappt“ – was will er dann? Geht es um ein gutes Leben? Um Vereinzelung („Millionen Einzelkämpfer wissen nicht mehr wohin“)? 

Himmel im Dunkel, Hauptbahnhof Dresden, 2014.

Letztlich geht es um Liebe: „Ich lieg' in ihren Armen. Oh mein Gott, bin im Himmel“ Der Ort des christlich verkündeten Gottes ist zwischen den Menschen, seine Liebe spiegelt die menschliche Sehnsucht nach Liebe wider. 

Findet sich die Kirche mit ihrer Botschaft hier wieder? Geht es bei all den Berichten über die Vorbereitung zur weltweiten Familiensynode im Vatikan auch um Liebe? Welche Anknüpfungspunkte könnten Suchende, die nicht dem braven Schwiegersohn-Ideal entsprechen, denn in der kirchlichen Angebotsstruktur finden?

Ich kann meine Fragen nicht beantworten.
Aber ich denke, dass die Zuwendung zu den Opfern unserer Gesellschaftsordnung, das Herabsteigen von staatlich dotierten Rössern und die Offenheit für die menschliche Sehnsucht nach Liebe kein schlechter Weg sein können. Und das ganz ohne dabei auf Zahlen schielen zu müssen.






3   A. Camus, Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1962, 176.

4   Ebd., 150.


5   Ebd., 151.