Sonntag, 3. November 2013

Vom Rande her denkend. Zächäus als Leitfigur

Ein Mann sitzt auf einem Baum und schaut den Geschehnissen um diesen Jesus zunächst mit Abstand zu.
Die mir eingängigsten Gedanken zur Zachäusgeschichte fand ich im besten religiösen Buch, das ich in den letzten Jahren las – Tomáš Halík, "Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute."
Hier zwei Ausschnitte:
"Beim Nachdenken über die Begegnung Jesu mit Zachäus und über viele andere Begegnungen seines "vorrangigen Interesses an den Menschen am Rande" kam mir der Gedanke, ob zu einer vollen Nachfolge Christi heute nicht noch etwas anderes gehörte: das Interesse, ja sogar das vorrangige Interesse an den Menschen am Rande der Gemeinschaft des Glaubens; an jenen, die im Vorraum der Kirche verharren, sofern sie den Weg in deren Nähe überhaupt gefunden haben. Das Interesse an Menschen in der "grauen Zone" zwischen der religiösen Sicherheit und dem Atheismus, an den Zweifelnden und Suchenden.
Gewiss, unter diesen Suchenden gehen heutzutage Missionare fast aller Religionen, Kirchen und Sekten auf Fischfang. Lob für dieses Interesse würde ich bestimmt auch von manchen Priestern, Schriftgelehrten und Pharisäern ernten. Ich verstehe das Interesse an diesen Menschen am Rande jedoch nicht im eng missionarischen Sinn. Es geht mir nicht vorrangig darum, sie zu "bekehren" – und Unsicheren "Sichere" zu machen. [...] Jesus machte aus der Armut eine Metapher des Offenseins für Gottes Gaben. Es geht darum, sich den Geist der Armut zu bewahren, sich nicht einzuordnen unter die Satten, Sicheren und Selbstsicheren, die zufrieden und in sich selbst verschlossen sind.
Ähnlich fühle ich es auch im geistlichen Sinne: man soll den Geist der Suchenden wahren. (Die geistlichen Meister des Orients bezeichnen ihn als Geist der Anfänger.) Ich habe nichts gegen Missionen und Predigten, soe sind genauso notwendig und wichtig wie die kirchlichen Caritaseinrichtungen. Man muss lehren und man muss Hungernde speisen. Hier geht es jedoch um etwas anderes. Wir müssen Suchende bleiben, so wie wir auch den Geist der Armut haben müssen – man muss offen bleiben, denn nur zu Menschen, die offen sind, kann das Reich Gottes kommen."1
 
Ehem. Flakturm, Humboldthain, Berlin

 "Die Befreiungstheologie kam mit einem sehr wichtigen Appell: das Evangelium sei mit den Augen der Armen zu lesen. Ihre Vertreter verlangten, die Schrift sowie das Zeugnis der Überlieferung müsse aus der Perspektive der Armen gelesen werden, was nur jener imstande sei zu verstehen, der selbst arm ist oder sich mit den Armen tatkräftig solidarisiert. Sie schlugen vor, in diesem Geiste alle Theologie neu zu überdenken und zu reinterpretieren.
Heute könnten wir jedoch noch eine andere hermeneutische Regel anbieten, noch einen Schlüssel zu einem neuen Verstehen der Schrift und der christlichen Botschaft [...]: Die Schrift soll gelesen und der Glaube soll gelebt werden auch aus der Perspektive unserer tiefen Solidarität mit den im Bereich der Religion suchenden Menschen oder auch mit jenen, die die Verborgenheit Gottes und die Transzendenz "von der anderen Seite her" erfahren. Wir sollen mit den Ohren des Zachäus hören, wozu Jesus uns aufruft. Wir sollen mit den Augen des Zachäus auf Jesus blicken, aus dem Versteck im Baum, das zugleich ein Ort des Ausschauhaltens und der Erwartung ist."2

 
1  T. Halík, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute. Freiburg i.Br. 5. Aufl. 2012, 36-38.
Ebd., 39.