Samstag, 19. Dezember 2015

"Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor" - Dietrich Bonhoeffer schreibt im Advent

Am 19.12.1944 schrieb der seit gut eineinhalb Jahren inhaftierte Dietrich Bonhoeffer aus den Kellern der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin (heute Gelände der "Topographie des Terrors") an seine Verlobte Maria von Wedemeyer.
Der Brief vermittelt einen kleinen Eindruck von der Lage und dem Denken des Theologen und Widerständlers im Advent des letzten Kriegsjahres, der auch sein letzter Advent auf Erden sein würde:

Gitterfenster. Dornburger Schlösser, 2015.
"Meine liebste Maria!
Ich bin so froh, daß ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick einsam und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wnn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: 'zweie die mich decken, zweie, die mich wecken', so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, daß ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich froh. -
Das Äußere ist kaum anders als in Tegel, der Tagesablauf derselbe, das Mittagessen wesentlich besser, Früchstück und Abendbrot etwas knapper. Ich danke Euch für alles, was Ihr mir gebracht habt. Die Behandlung ist gut und korrekt. Es ist gut geheizt. Nur die Bewegung fehlt mir, so schaffe ich sie mir bei offenem Fenster in der Zelle mit Turnen und Gehen. Einige Bitten: ich würde gern von Wilhelm Raabe: 'Abu Telfan' oder 'Schlüdderump' lesen. Könnt Ihr meine Unterhosen so konstruieren, daß sie nicht rutschen? Man hat hier keine Hosenträger. Ich bin froh, daß ich rauchen darf! Daß Ihr alles für mich denkt und tut, was Ihr könnt, dafür danke ich Euch; das zu wissen, ist für mich das Wichtigste. -
Es sind nun fast 2 Jahre, daß wir aufeinander warten, liebste Maria. Werde nicht mutlos! Ich bin froh, daß Du bei den Eltern bist. Grüße Deine Mutter und das ganze Haus sehr von mir. Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.

Mauer. Rüdersdorf, 2015.
1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar, -
so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr;

2. noch will das alte unsre Herzen quälen
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
Ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

das Heil, für das du uns geschaffen hast.

3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern

Aus Deiner guten und geliebten Hand.

4. Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll'n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.

5. Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.

6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet
so laß uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.

7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Sei mit Eltern und Geschwistern in großer Liebe und Dankbarkeit gegrüßt.
Es umarmt Dich
Dein Dietrich"1

Mitten in der Grausamkeit des Krieges und in der Isolation der Haft tröstet Bonhoeffer.
Denn er findet während dieser Zeit selbst Halt darin, was im Alltag oft genug ferne rückt – im Wahrnehmen der Stille, im Hören, das sich ganz nach innen richtet und Kraft aus der Erinnerung schöpft.
Eine Situation, die sicher auch viele Menschen kennen, die heute auf der Flucht vor Krieg und Elend sind – wo alles Äußere bröckelt, kann die Stille, kann der Gedanke an gute Stunden und liebe Menschen aufrichten.
Mit den Worten des uns nun so bekannt gewordenen Liedes hat er Trost und Hoffnung über seine Zeit hinaus gestiftet.

Schatten und Licht in der Pinakothek der Moderne. München, 2015.

1   Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer. 1943-1945. München 3. Aufl. dieser Ausgabe 2001, 208-210.