Mittwoch, 30. Dezember 2015

Zum Jahresschluss: Religiöse und geschlechtliche Liebe

Wie Gottes- und Nächstenliebe zusammenhängen können, mag nicht für viele Menschen eine ernsthafte Fragestellung sein. In einer besonderen Weise ist mir die Beziehung von Gottes- und Nächstenliebe jetzt am Jahresende im Buch "Große Liebe" von Navid Kermani begegnet. Er beschreibt mit dem religiösen Vokabular der islamischen Mystik die Geschichte einer einwöchigen Liebesbeziehung, in der er sich selbst als Pubertierenden beschreibt.

Im kleinen Ozean. Kleinbrembach, 2015.
Dabei wechselt er abschnittsweise sehr souverän zwischen Prosa, nachträglicher Reflexion und theologischem Kommentar und zieht immer wieder die "profane" Liebe ins Religiöse. 
So entsteht eine stilistische und inhaltliche Gratwanderung, eine Herausforderung für den religiösen Menschen wie für den Liebenden, die mich unheimlich fasziniert hat und eine Menge spannender Einzelmomente enthält.

So wie die Bibel im Hohenlied menschliche Geschlechtlichkeit als Bild für die göttlich-menschliche Liebesbeziehung verwendet, so will Kermani "hingegen umgekehrt auf die religiöse Erfahrung mich beziehe(n), um eine ganz weltliche Liebe zu verstehen." (66)

Sehr bildreich und konkret bemühen sich die zitierten muslimischen Mystiker um die vergleichende Beschreibung von Gebets- und Liebesakt, wie beispielsweise Baha-e Walad: "Man könnte sagen, daß du im Fußfall des Gebets auf einer Schönäugigen liegst und mit den Gebetsversen deine Lippen auf ihre presst." (52)

Solche Formulierungen sind für unser Verständnis von religiöser Praxis nicht leicht zu verdauen. Weitere Ausführungen zu mehrdimensionalen Gefühlsbeschreibungen wie dem Eingehen in einen Ozean, der Einswerdung oder den kleinen Tod finden sich in Fülle im Buch.
Heute finden sich sicher wenige Muslime oder Christen, die so von ihrem religiösen Leben sprechen könnten geschweige denn wollten (auch wenn Dichtermystiker wie Johannes vom Kreuz nicht weit entfernt waren von dieser Sprache). Solche Worte "anstößig finden" wäre in vielen Fällen noch eine harmlose Reaktion für Kermanis spannungsreiches Inbeziehungsetzen.

Tatsächlich lassen sich aber ebenso wie für das künstlerische oder religiöse eben auch für das sexuelle Leben gewisse Parallelen nicht übersehen:
"Wie für das religiöse ist auch für das sexuelle Erleben Übung, Körperkontrolle, wiederholte Praxis hilfreich - die Mystiker würden betonen: notwendig, und beständiges Gottgedenken, Rituale, das Studium von Büchern unterschiedlichster Wissensgebete, überhaupt die Erfahrung der Welt und persönliche Reife hinzufügen -, damit sich der Liebende im Geschehen verliert wie der chinesische Maler im Bild." (66)

Die leidenschaftliche Hingabe letztendlich als ein Wunsch religiöser oder liebender Menschen kann nicht aus rationalen Erwägungen allein erfolgen, sie braucht das Hingerissensein.
So ergibt sich auch die Einsicht, dass Glaube (entgegen mancher Vorstellungen früherer Generationen im Christentum und einiger Fanatiker im heutigen Islam) ebensowenig wie die Liebe anbefohlen werden kann, braucht es dazu doch die "Augen des Glaubens" (Pierre Rousselot).

Kermani illustriert dies mit dem Beispiel des liebstollen Narren Madschnun:
"Harun ar-Raschid hatte von der Liebe Madschnuns gehört und wünschte die Sagenhafte einmal zu sehen. Als Leila in den Palast geführt wurde, fand der Kalif sie hübsch, jedoch nicht außergewöhnlich. Er rief Madschnun und sagte: 'Die Leila, die dich um den Verstand gebracht hat, ist ja gar nicht so schön! Ich will dir Hunderte bringen, die schöner sind als sie.' Da erwiderte Madschnun: 'Die Schönheit Leilas hat keinen Fehler, aber deine Augen sind fehlerhaft. Um ihre Schönheit zu erkennen, bedarf es zweier liebender Augen, wie ich welche habe.'" (64)

Ich finde, diese Geschichte eignet sich wunderbar für den Übergang in ein neues Jahr:
Als Vorsatz, anderen ihre "Augen" zuzugestehen - und als Wunsch, selbst die Welt neu und mit liebenden Augen zu sehen.
Denn: "Liebe, wen du willst, du wirst Gott geliebt haben." (Fachroddin Eraqui) (68)

Mit den rechten Augen das Ende schon im Anfang sehen. Kleinbrembach, 2015.