Mittwoch, 16. Dezember 2015

"Das hier ist Wasser". Gedanken von David Foster Wallace

Was trägt mein Leben und was kann ich über äußere Erfolgsmerkmale hinaus tun, damit es auch im wirklichen, inneren Sinne gelingt?

Das ist die Frage, um der es David Foster Wallace vor nunmehr zehn Jahren bei seiner Abschlussrede vor Absolventen des Kenyon College ging. Seine Ausführungen wurden unter dem Titel "This is water" bzw. "Das hier ist Wasser"1 veröffentlicht und verdienen es, auch als Adventsgedanken aufgegriffen zu werden.

Das hier ist ein Wasserhahn.
Weihnachtsmarkt, Potsdamer Platz, 2015.
Denn das amerikanische Selbstverwirklichungspathos mit seinem permanenten ökonomischen und existenziellen Leistungs- und Erfolgsdruck wird hier konterkariert. Es geht Wallace nicht um das Lob des gesellschaftlichen Fortkommens, sondern um eher traditionell anmutende Werte.
Er beschreibt den Absolventen die kommenden Routinen eines oft genug lähmend-frustrierend-ätzenden Alltags in einem Mittelklasseleben, das in der Mühle täglicher Wiederholungen beim überlebensnotwendigen Geldverdienen und -ausgeben steckenbleibt und sich daran aufreibt.

Wirkliches Leben zu lernen beginnt für Wallace damit, "dass ich ein bisschen Arroganz ablege, ein bisschen 'kritisches Bewusstsein' für mich und meine Gewissheiten entwickle".2
Die wichtigste Gewissheit, die er ablegen helfen möchte, ist die tief verurzelte Überzeugung, selbst der Mittelpunkt der Welt zu sein: "Wir denken selten über diese natürliche, grundlegende Selbstzentriertheit nach, weil sie sozial so abstoßend ist, aber im Grunde ist sie bei uns allen gleich. Sie ist unsere Standardeinstellung, die mit der Geburt in unseren psychischen Festplatten verdrahtet ist."3

Über diese Verwicklung in sich selbst hinaus zu gelangen zum "Leben in der Wahrheit" (wie es Václav Havel nannte), ist für Wallace eine Entscheidung.
Ich kann mir bewusst werden, dass ich in mich verstrickt bin und in Distanz gehen, meine Perspektive weiten; gläubige Menschen würden sagen, ich kann die barmherzige Perspektive Gottes einüben und meine Umwelt als seine Schöpfung wertschätzen.
Ich muss dies nicht tun, Wallace will es auch nicht moralisch anempfehlen oder vorschreiben, er bezieht sich nicht auf einen religiösen Rahmen. Denn es ist die Erfahrung, die zeigt, dass es mir hilft, meinen Alltag friedvoller zu erleben.

(Ob dieses Sich-selbst-Aufbrechen, dies als kleine theologische Anfrage, wirklich unsere eigene Entscheidensmöglichkeit ist, sei hier der religiösen Überzeugung anheimgestellt.)

Alltagsschmutz. Berlin, 2014.
Wallace selbst wird religiöse expliziter, wenn es um die Götter im eigenen Leben geht: "In den alltäglichen Grabenkämpfen des Erwachsenendaseins gibt es keinen Atheismus. Es gibt keinen Nichtglauben. Jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten."4

Die materiellen und ideellen Götzen, der eigene Körper, der Erfolg, all das, was viele Menschen de facto anbeten, meint er, "frisst Sie bei lebendigem Leib auf."5 Denn hier findet kein Mensch Freiheit, sondern nur noch mehr Unfreiheit. 
Und das ist das Thema, auf das er zusteuert: Nicht die Versklavung ans eigene Ich, nicht die Kniebeuge vor den vielen Götzen unseres Lebens befreit uns Menschen. Formal ist dies keine religiöse oder gar christliche Botschaft, material aber an vielen Punkten übereinstimmend.

Nach dem Bisherigen wird schon fast vorhersagbar, worauf Wallace stattdessen hinaus will:
"Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.
Das ist wahre Freiheit.
Das heißt es Denken zu lernen."6

Und, so wäre aus christlicher Perspektive hinzufügen:
Das ist der Advent des Menschen, die Ankunft des wahren Menschseins, wie es sich für Gläubige in Jesus Christus gezeigt hat. Wie es uns aufgegeben ist als christlicher Alltag in Barmherzigkeit und Liebe.

Hervortreten des wahren Hauses. Warschau, 2015.

1   D.F. Wallace, Das hier ist Wasser. Köln 2012.

2   Ebd., 15.

3   Ebd., 16.

4   Ebd., 30.

5   Ebd.


6   Ebd., 33.