Von Berlin aus war es eine weite Reise
bis an den Rand des Taunus, um zur Tagung "Kirche im
Justizvollzug" zu gelangen. Für mein Befinden ist auch die
innere Reise weit: aus dem pastoralen Alltag im Gefängnis zur
Begegnung und zum Austausch mit anderen SeelsorgerInnen, die im
deutschen (und österreichischen) Justizvollzug arbeiten.
Denn das alltägliche Geschäft der
Gefängnisseelsorge mit seinen Gipfeln, Hängen und Klippen mache ich
doch größtenteils mit mir selbst aus, während es in diesen Tagen
zu neuen Anregungen kommt und gemeinsame Reflexion meinen Horizont
erweitert.
Ein theoretischer und zwei eher
praktisch orientierte Gedanken, die ich mitnehme und mir der
Einfachheit halber hier aufschreibe.
JVA Plötzensee, außen. Berlin, 2017. |
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Am Dienstag hielt der emeritierte
Pastoraltheologe Heribert Wahl einen Vortrag über Seelsorge als
"Heilsame Begegnung". Um die Beziehung zwischen einem
Selbst und seinem Gegenüber, beispielsweise Kind und Mutter, aber
auch Seelsorger und Klient zu beschreiben, nutzt er ein Modell mit
zwei Polen. Dem "Selbst-Pol" gegenüber braucht es nach H.
Wahl einen empathisch-verlässlichen "Lebensmehrenden Pol",
an dem der Selbst-Pol wachsen kann, denn eine solch tragende
Beziehung ist die Basis der Selbstwerdung. Darum bezeichnet Wahl den
zweiten Pol auch als "lifegiver".
Damit diese Funktion innerhalb des
Beziehungsgefüges aber gut ausgefüllt werden kann, ist für
professionelle Gegenüber ein methodisch geschultes empathisches
Eingehen notwendig, das sich weder im Hilfesuchenden und seinen
Problemen verliert, noch ihn mit eigenen Vorstellungen und Gedanken
besetzt. Auf diese Weise kann die Beziehung – und besonders der
Selbst-Pol – wachsen und sich dynamisch weiterentwickeln.
Zugleich ist die Beziehung eine
gegenseitige, die auch den Lebensmehrenden Pol prägt und je nach
konkreter Ausgestaltung der Beziehung mit ihren jeweiligen Ansprüchen
mitbestimmt.
Das in dieser Beziehung wachsende
Selbst soll letztendlich befähigt werden, selbst ein lifegiver für
andere zu werden. Zugleich bleibt jedes Subjekt lebenslang auf
Beziehung angewiesen, das Streben nach völliger Autonomie ist nach
diesem Modell eine Illusion (und entspricht davon abgesehen nicht dem
christlichen Menschenbild).
Soweit kurzgefasst Heribert Wahls
Ausführungen.
Für den Alltag im Gefängnis muss
konstatiert werden, dass die Seelsorgerin oder der Seelsorger für
manche Inhaftierte zum ersten verlässlichen Gegenüber werden kann,
der wirklich und gewollt lebensmehrend in das jeweilige Leben tritt.
Die daraus entstehende "heilsame Begegnung" ist dann so
ungewohnt, dass häufig Irritationen auftreten. Auch kann nicht jeder
Entwicklungsschritt nachgeholt werden.
Aber lebensmehrendes Handeln im Kontext
eines tendenziell lebensfeindlichen Umfeldes ist eine eindeutige
christliche Aufgabe, der wir uns stellen sollten.
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Konkreter wurde es im heutigen Workshop
zu Problemen in seelsorglichen Gesprächen.
Ein Thema waren als sinnlos empfundenen
Gespräche mit Gefangenen, etwa wenn jemand regelmäßig
Belanglosigkeiten seines Haftalltags vorträgt, wenn sich bestimmte
Erzählungen beständig wiederholen oder der Fernsehkonsum zum
bestimmenden Inhalt eines Gesprächs wird.
Unser aller Erfahrung mit solchen
Gesprächen, die vom Gefangenen ja gesucht und maßgeblich gestaltet
wurden (auch gegen unsere Interventionen), führten zunächst zu
Irritation und Enttäuschung. Sind wir nicht angetreten, um mehr zu
tun, tiefer zu gehen, echte Probleme zu lösen und Trost durch den
Glauben zu vermitteln?
Ein Bild zum Thema Verlässlichkeit. Richardplatz, Neukölln, Berlin, 2017. |
Vor dem Hintergrund des Vortrags aber
wurde uns im Gespräch klarer, dass es vielleicht gerade jene
verlässliche Beziehung ist, die der Inhaftierte zunächst einmal
braucht. Vielleicht sucht er einfach den Kontakt mit einem Menschen,
der ihn nicht bewerten oder manipulieren will. Vielleicht ist das
stundenlange Wälzen von kleinen Alltäglichkeiten ein langsames
Herantasten an das Vertrauen in uns, sein Gegenüber.
Darum wäre es wichtig, den
Inhaftierten ernst zu nehmen und ihm zu zeigen, was den wenigsten
Gefangenen entgegengebracht wird: unverzwecktes Interesse und
Wertschätzung seiner Person.
Schon das ist eine Verkündigung des
liebevoll zugewandten Gottes, als dessen lifegiver wir ja bestellt
sind.
Im Kontakt mit Menschen, die nicht nur
Täter von Straftaten, sondern auch Opfer ihrer Sozialisation sind,
ist ein grundlegender Schritt in die Beziehung die Kontinuität und
Stabilität. Dies sind Erfahrungen, die im bisherigen Sozialgefüge
vieler Inhaftierter oftmals keine Rolle gespielt haben.
Das heißt praktisch, dass ich als
Seelsorger die Inhaftierten idealerweise nicht wie viele andere
wieder und wieder vertröste oder gar nicht mehr auftauche oder eben
ihren Gesprächsbedarf nicht ernst nehme, sondern dableibe und zuhöre
– auch wenn es bisweilen schwerfällt.
Soll die seelsorgliche Beziehung zur
Lebensvermehrung führen, dann braucht es von der Seite des
Seelsorgers in erster Linie Verlässlichkeit.
Dadurch drückt sich aus, dass ich mein
Gegenüber in seiner Würde als Person ernst nehme. Selbst dann, wenn
es "nur" um die geht.
3
In manchen Gespräche macht sich eine
ansteckende Hoffnungslosigkeit breit – angesichts völlig
weggebrochener Außenkontakte, fehlender Unterstützung, mangelnder
Ausbildung, Drogensucht oder lebenslänglicher Haft.
Billigen Trost und fromme Sprüche will
kein Seelsorger anbieten. Praktische Hilfen sind oftmals nicht
möglich. Was bleibt dann noch außer Resignation?
Ich selbst habe erlebt, dass mich ein
intensives Gespräch, in dem mir der Inhaftierter vom jahrelangen
Missbrauch an ihm, schwersten Straftaten von ihm und seiner schweren
Krankheit in Verbindung mit regelmäßigen Alpträumen und
Angstzuständen berichtete, zunächst einigermaßen ratlos
zurückließ.
Immer nur abwärts? Dresden, 2018. |
Meine Antwortversuche blieben mager,
wir waren uns einig, dass die Rede von einem guten Gott hier ein Hohn
wäre, Sinn in diesem Leid nicht einfachhin zu finden sei – und
trotzdem betete ich am Ende für den Inhaftierten und er bedankte
sich ehrlich für das aufbauende Gespräch.
Angesichts der bleibend schrecklichen
Sachlage verwunderlich.
Denn es bleibt unbefriedigend. Wir
können das Leiden unserer Gesprächspartner oft nicht wegnehmen.
Aber schon das solidarische Mit-Aushalten, das Hören und die
Ehrlichkeit können tröstend und lebensvermehrend sein. Die
entstandene Beziehung machts!
Ich werde mich in solchen
deprimierenden Situationen zukünftig eher einmal fragen: Was kann
Hoffnung für diesen Menschen heißen? In seiner misslichen
Situation? In seiner Perspektivlosigkeit?
Vielleicht ist es die Aussicht auf ein
verlässlich wieder zu Besuch kommendes Gegenüber.
Viele andere Themen wurden
angesprochen, aber diese wollte ich gern hier festhalten.