Mittwoch, 7. September 2016

Von der Haltung eines Seelsorgers – Gedanken im Anschluss an Emmanuel Carrère

In diesen Tagen beginne ich an einer neuen Stelle zu arbeiten – ich werde als Gefängnisseelsorger in Berlin tätig sein und überlege seit längerem, welche Haltung ich dabei einnehmen will.
Passenderweise lese ich zeitgleich "Das Reich Gottes" von Emmanuel Carrère, ein autobiographisch-romanhaft-essayistisches Hybrid-Buch, das von Glauben und Nichtglauben handelt, von religiösen Erfahrungen und Anfechtungen eines kritischen Intellektuellen und davon, was das mit dem Urchristentum zu tun hat.
Zu diesem faszinierenden und eingängig geschriebenen Buch vielleicht später einmal mehr.

Hier geht es mir nur um den Anfangsteil, in dem der Autor sehr beeindruckend die Begegnungen mit seinen (ich formuliere mal sehr weit) spirituellen Begleitern und Mentoren beschreibt. Es handelt sich um seine Patentante Jacqueline, zu der eine ganze Reihe von Menschen mit ihren Problemen kommen, und um deren zweites Patenkind Hervé, der wiederum zum Freund des Ich-Erzählers wird.

Leuchte. Kleinbrembach, 2015.
Der Erzähler beschreibt sich selbst als ständig reflektierenden, um die eigenen Gedanken kreisenden und in einer gehörigen emotionalen Distanz zur Welt lebenden Autor, der sich noch dazu in einer Schaffenskrise befindet. Nach außen präsentiert er sich als ironisch überlegen, innen verzweifelt er: "Mein Verteidigungssystem, das sowohl auf Ironie, als auch den Stolz, Schriftsteller zu sein, gegründet war, funktionierte ganz gut. Erst als ich in den Dreißigern war, fraß es sich fest. Ich konnte nicht mehr schreiben, ich verstand nicht zu lieben, und mir wurde bewusst, nicht liebenswert zu sein."1
Mit diesen Selbstzweifeln präsentiert er sich der Patentante, die ihn auf dem Weg in die richtige Richtung sieht, und ihn mit Hervé bekannt macht. Beide beschreibt der Autor als wahre Seelsorger.

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Pointiert benennt Carrère vor allem die völlige Ironiefreiheit von Hervé, dem es ernsthaft und nüchtern um die Sache geht: "Er war weder ironisch noch lästerte er gern. Er versuchte auch gar nicht, gewitzt daherzukommen. Er machte sich keinerlei Gedanken über den Eindruck, den er erweckte, und spielte keinerlei soziale Spielchen. Er versuchte einfach nur das, was er dachte, genau und ruhig zu formulieren."2
Das postmoderne Die-Welt-auf-Abstand-Halten durch Ironie und Sarkasmus ist nicht Hervés Herangehensweise. Er weiß wohl, dass dies nur eine Mauer vor der tief empfundenen eigenen Schwachheit ist, durch die eine scheinbar gefahrvoll entlarvende Wahrheit abgewehrt werden soll. Doch Abriegelung und Sicherheitsdenken bringen einem emotional angegriffenen Inneren keine Rettung.
So erklärt sich sehr einfach die Freude Jacquelines, als Carrères oben beschriebene Mauer endlich zu bröckeln scheint.
Hervés Einfachheit und Klarheit entfernen das gesellschaftlich erwartete Posieren und helfen der Konzentration auf den Kern: "Das Einzige, worüber er sich in seinem Leben wirklich Gedanken macht, ist von 'spiritueller" Natur – noch einmal stolpere ich über dieses schreckliche Wort – mit allem, was an frommer Naivität und vergeistigtem Pathos dazugehört."3
Diese eindeutige Ausrichtung des Lebens eines Seelsorger kann ein starker Orientierungspunkt sein, wenn eine innere Schutzwand aus ironischer Distanz zusammenbricht. Um überstarke Idealisierungen abzuwehren, braucht es eine große Integrität des Begleiters, um sich nicht unrealistisch groß und bedeutsam vorzukommen

2
Ein weiteres Wort zu Hervé: Er ist selbst ein Fragender und Suchender. Das verleiht seiner einfachen Eindeutigkeit und spirituellen Gradlinigeit eine beruhigende Normalität – da ist kein Übermensch, der alles schon gefunden hätte. Auf diese Weise zeigt sich der Begleiter als wirklicher Bruder. Zugleich aber öffnet er eine neue Tür: Carrère sieht in ihm einen von jenen Menschen, denen nichts selbstverständlich ist, denen sich die philosophische Grundhaltung des Staunens eingeprägt hat: "Ob sie klüger sind als die anderen oder nicht, darüber kann man endlos diskutieren, Tatsache ist, dass sie sich nie von einer gewissen Bestürzung erholt haben, die es ihnen verbietet zu leben, ohne sich zu fragen, warum und was der Sinn von alldem ist, falls es einen gibt. Das Leben ist für sie ein Fragezeichen, und selbst wenn sie nicht ausschließen, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt, suchen sie nach ihr, denn sie können nicht anders."4
Diese Passion der Fraglichkeit kann tatsächlich faszinieren. Und wahrscheinlich ist es oft eine Quelle der Kreativität und Antrieb zum Weitergehen. Wenn sich jemand davon anstecken lässt, geht diese "Ansteckung" wahrscheinlich tiefer als ein bloßes Rumreden und Überzeugen-Wollen.

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Während es dem Erzähler-Ich immer nur um sich selbst geht, wird insbesondere Hervé als zugewandt und aufmerksam bei seinem Gegenüber seiend gezeichnet. Er ist geduldig und bestärkend, auch wenn er nicht alle inhaltlichen Prämissen des Neubekehrten, beispielsweise seine wachsende und fast schon fundamentalistische Dogmengläubigkeit nicht mitvollzieht. Doch das hindert ihn nicht an der Bejahung der grundsätzlichen Einstellung des Anderen.
In seinem Buch über das "Glaubensgespräch" spricht der Jesuit Franz Jalics in ganz ähnlicher Weise "von einer respektvollen und teilnehmenden Gesinnung, von einer Mentalität, die brüderlich Anteil nehmen möchte, ohne die eigene Meinung aufzudrängen oder belehren zu wollen."5

Wahrscheinlich ist es gerade diese freilassende Haltung, mit ihrer Achtung vor der Individualität und dem persönlichen Lebensentwurf des Gegenübers, die eine vertrauensvolle Atmosphäre erst möglich macht.
Ganz ähnlich verlässt sich der heilige Ignatius in seinen Geistlichen Übungen darauf, dass der authentische Wunsch, sein Leben neu auszurichten, den Weg vorgibt. Streng einzuhaltende Einzelvorschriften können dann eher hinderlich sein und sollen individuell angepasst werden.
Positiv bestärkend dagegen muss der Begleiter auf Durststrecken "für künftig Mut und Kräfte geben".6
Darin bestätigt zu werden, dass man sich nicht vergeblich müht oder in die falsche Richtung geht, stellt eine ausgezeichnete Motivation für alle Suchenden dar. Wenn auch noch die grundlegende Bejahung der eigenen Person dazu tritt, ist die solide Basis für eine stärkende Atmosphäre der Begegnung grundgelegt.

Der Gummihammersatz "Gott liebt dich so, wie du bist" hat in diesem Kontext einen kurzen Kommentar verdient: Er ist ein Hammer, weil er Menschen als grundsätzlich von Gott bejaht ansieht und noch dazu in allem bestätigt, was sie schon wissen und gut finden und kann deshalb sehr aufbauend sein. Zugleich ist er aber Gummi, weil die bloße Bestätigung ja nicht von sich aus weiterführt und keine Motivation zur Veränderung bietet. Ebenso wie der Satz "Wir schaffen das", braucht auch dieser Satz einen Zusatz: Gott liebt dich so, wie du bist – aber er hat auch etwas mit dir vor und will dich weiterführen.

Vielleicht passt ja gerade das auch im Gefängnis. Ich bin gespannt.

Nach oben. Granitzer Jagdschloss, Turm. Rügen, 2016.

1   E. Carrère, Das Reich Gottes. 3. Aufl. Berlin 2016, 36.
2   Ebd., 38.
3   Ebd., 38f.
4   Ebd., 39.
5   F. Jalics, Miteinander im Glauben wachsen. Anleitung zum Glaubensgespräch. München 1982, 7.

6   Ignatius v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978, No. 7.