In diesen Tagen beginne ich an einer
neuen Stelle zu arbeiten – ich werde als Gefängnisseelsorger in
Berlin tätig sein und überlege seit längerem, welche Haltung ich
dabei einnehmen will.
Passenderweise lese ich zeitgleich "Das
Reich Gottes" von Emmanuel Carrère, ein
autobiographisch-romanhaft-essayistisches Hybrid-Buch, das von
Glauben und Nichtglauben handelt, von religiösen Erfahrungen und
Anfechtungen eines kritischen Intellektuellen und davon, was das mit
dem Urchristentum zu tun hat.
Zu diesem faszinierenden und eingängig
geschriebenen Buch vielleicht später einmal mehr.
Hier geht es mir nur um den
Anfangsteil, in dem der Autor sehr beeindruckend die Begegnungen mit
seinen (ich formuliere mal sehr weit) spirituellen Begleitern und
Mentoren beschreibt. Es handelt sich um seine Patentante Jacqueline,
zu der eine ganze Reihe von Menschen mit ihren Problemen kommen, und
um deren zweites Patenkind Hervé, der wiederum zum Freund des
Ich-Erzählers wird.
Leuchte. Kleinbrembach, 2015. |
Der Erzähler beschreibt sich selbst
als ständig reflektierenden, um die eigenen Gedanken kreisenden und
in einer gehörigen emotionalen Distanz zur Welt lebenden Autor, der sich noch dazu in
einer Schaffenskrise befindet. Nach außen präsentiert er sich als ironisch
überlegen, innen verzweifelt er: "Mein Verteidigungssystem,
das sowohl auf Ironie, als auch den Stolz, Schriftsteller zu sein,
gegründet war, funktionierte ganz gut. Erst als ich in den
Dreißigern war, fraß es sich fest. Ich konnte nicht mehr schreiben,
ich verstand nicht zu lieben, und mir wurde bewusst, nicht
liebenswert zu sein."1
Mit diesen Selbstzweifeln präsentiert
er sich der Patentante, die ihn auf dem Weg in die richtige Richtung
sieht, und ihn mit Hervé bekannt macht. Beide beschreibt
der Autor als wahre Seelsorger.
1
Pointiert benennt Carrère vor allem
die völlige Ironiefreiheit von Hervé, dem es ernsthaft und nüchtern
um die Sache geht: "Er war weder ironisch noch lästerte er
gern. Er versuchte auch gar nicht, gewitzt daherzukommen. Er machte
sich keinerlei Gedanken über den Eindruck, den er erweckte, und
spielte keinerlei soziale Spielchen. Er versuchte einfach nur das,
was er dachte, genau und ruhig zu formulieren."2
Das postmoderne Die-Welt-auf-Abstand-Halten durch Ironie und Sarkasmus ist nicht Hervés Herangehensweise. Er weiß wohl, dass dies nur eine Mauer vor der tief empfundenen eigenen Schwachheit ist, durch die eine scheinbar gefahrvoll entlarvende Wahrheit abgewehrt werden soll. Doch Abriegelung und Sicherheitsdenken bringen einem emotional angegriffenen Inneren keine Rettung.
So erklärt sich sehr einfach die Freude Jacquelines, als Carrères oben beschriebene Mauer endlich zu bröckeln scheint.
Das postmoderne Die-Welt-auf-Abstand-Halten durch Ironie und Sarkasmus ist nicht Hervés Herangehensweise. Er weiß wohl, dass dies nur eine Mauer vor der tief empfundenen eigenen Schwachheit ist, durch die eine scheinbar gefahrvoll entlarvende Wahrheit abgewehrt werden soll. Doch Abriegelung und Sicherheitsdenken bringen einem emotional angegriffenen Inneren keine Rettung.
So erklärt sich sehr einfach die Freude Jacquelines, als Carrères oben beschriebene Mauer endlich zu bröckeln scheint.
Hervés Einfachheit und
Klarheit entfernen das gesellschaftlich erwartete Posieren und helfen der Konzentration auf den Kern: "Das Einzige, worüber er
sich in seinem Leben wirklich Gedanken macht, ist von 'spiritueller"
Natur – noch einmal stolpere ich über dieses schreckliche Wort –
mit allem, was an frommer Naivität und vergeistigtem Pathos
dazugehört."3
Diese eindeutige Ausrichtung des Lebens
eines Seelsorger kann ein starker Orientierungspunkt sein, wenn eine
innere Schutzwand aus ironischer Distanz zusammenbricht. Um überstarke Idealisierungen abzuwehren, braucht es eine große
Integrität des Begleiters, um sich nicht unrealistisch groß und
bedeutsam vorzukommen
2
Ein weiteres Wort zu Hervé: Er ist
selbst ein Fragender und Suchender. Das verleiht seiner einfachen
Eindeutigkeit und spirituellen Gradlinigeit eine beruhigende
Normalität – da ist kein Übermensch, der alles schon gefunden
hätte. Auf diese Weise zeigt sich der Begleiter als wirklicher
Bruder. Zugleich aber öffnet er eine neue Tür: Carrère sieht in
ihm einen von jenen Menschen, denen nichts selbstverständlich ist,
denen sich die philosophische Grundhaltung des Staunens eingeprägt
hat: "Ob sie klüger sind als die anderen oder nicht, darüber
kann man endlos diskutieren, Tatsache ist, dass sie sich nie von
einer gewissen Bestürzung erholt haben, die es ihnen verbietet zu
leben, ohne sich zu fragen, warum und was der Sinn von alldem ist,
falls es einen gibt. Das Leben ist für sie ein Fragezeichen, und
selbst wenn sie nicht ausschließen, dass es auf diese Frage keine
Antwort gibt, suchen sie nach ihr, denn sie können nicht anders."4
Diese Passion der Fraglichkeit kann
tatsächlich faszinieren. Und wahrscheinlich ist es oft eine Quelle
der Kreativität und Antrieb zum Weitergehen. Wenn sich jemand davon
anstecken lässt, geht diese "Ansteckung" wahrscheinlich
tiefer als ein bloßes Rumreden und Überzeugen-Wollen.
3
Während es dem Erzähler-Ich immer nur
um sich selbst geht, wird insbesondere Hervé als zugewandt und
aufmerksam bei seinem Gegenüber seiend gezeichnet. Er ist geduldig
und bestärkend, auch wenn er nicht alle inhaltlichen Prämissen des
Neubekehrten, beispielsweise seine wachsende und fast schon
fundamentalistische Dogmengläubigkeit nicht mitvollzieht. Doch das
hindert ihn nicht an der Bejahung der grundsätzlichen Einstellung
des Anderen.
In seinem Buch über das "Glaubensgespräch" spricht der Jesuit Franz Jalics in ganz ähnlicher Weise "von einer respektvollen und teilnehmenden Gesinnung, von einer Mentalität, die brüderlich Anteil nehmen möchte, ohne die eigene Meinung aufzudrängen oder belehren zu wollen."5
In seinem Buch über das "Glaubensgespräch" spricht der Jesuit Franz Jalics in ganz ähnlicher Weise "von einer respektvollen und teilnehmenden Gesinnung, von einer Mentalität, die brüderlich Anteil nehmen möchte, ohne die eigene Meinung aufzudrängen oder belehren zu wollen."5
Wahrscheinlich ist es gerade diese
freilassende Haltung, mit ihrer Achtung vor der Individualität und
dem persönlichen Lebensentwurf des Gegenübers, die eine
vertrauensvolle Atmosphäre erst möglich macht.
Ganz ähnlich verlässt sich der heilige Ignatius in seinen Geistlichen Übungen darauf, dass der authentische Wunsch, sein Leben neu auszurichten, den Weg vorgibt. Streng einzuhaltende Einzelvorschriften können dann eher hinderlich sein und sollen individuell angepasst werden.
Positiv bestärkend dagegen muss der Begleiter auf Durststrecken "für künftig Mut und Kräfte geben".6
Ganz ähnlich verlässt sich der heilige Ignatius in seinen Geistlichen Übungen darauf, dass der authentische Wunsch, sein Leben neu auszurichten, den Weg vorgibt. Streng einzuhaltende Einzelvorschriften können dann eher hinderlich sein und sollen individuell angepasst werden.
Positiv bestärkend dagegen muss der Begleiter auf Durststrecken "für künftig Mut und Kräfte geben".6
Darin bestätigt zu werden, dass man
sich nicht vergeblich müht oder in die falsche Richtung geht, stellt
eine ausgezeichnete Motivation für alle Suchenden dar. Wenn auch
noch die grundlegende Bejahung der eigenen Person dazu tritt, ist die
solide Basis für eine stärkende Atmosphäre der Begegnung
grundgelegt.
Der Gummihammersatz "Gott liebt
dich so, wie du bist" hat in diesem Kontext einen kurzen
Kommentar verdient: Er ist ein Hammer, weil er Menschen als
grundsätzlich von Gott bejaht ansieht und noch dazu in allem
bestätigt, was sie schon wissen und gut finden und kann deshalb sehr
aufbauend sein. Zugleich ist er aber Gummi, weil die bloße
Bestätigung ja nicht von sich aus weiterführt und keine Motivation
zur Veränderung bietet. Ebenso wie der Satz "Wir schaffen
das", braucht auch dieser Satz einen Zusatz: Gott liebt dich
so, wie du bist – aber er hat auch etwas mit dir vor und will dich
weiterführen.
Vielleicht passt ja gerade das auch im
Gefängnis. Ich bin gespannt.
Nach oben. Granitzer Jagdschloss, Turm. Rügen, 2016. |
1 E.
Carrère, Das Reich Gottes. 3. Aufl. Berlin 2016, 36.
2 Ebd.,
38.
3 Ebd.,
38f.
4 Ebd.,
39.
5 F.
Jalics, Miteinander im Glauben wachsen. Anleitung zum
Glaubensgespräch. München 1982, 7.