Samstag, 24. September 2016

Was braucht es denn noch alles, damit sich etwas ändert?

Das Evangelium des Sonntags (Lk 16,19-31) bietet eine Fülle von Themen: wo der arme Lazarus und der reiche Mann einander im Leben und im Tod gegenübergestellt werden, da wird Gottes Leidenschaft für die Armen und seine ausgleichende himmlische Gerechtigkeit angesprochen, bildhaft werden Vorstellungen von postmortalem Leben und Leiden illustriert, und die spannende Frage von einer eventuellen Verantwortung der Toten für die Lebenden taucht auf.

Von diesem letzten Punkt ausgehend möchte ich einem Gedanken nachgehen.
Der in Schmerzen leidende ehemalige Reiche bittet Abraham darum, seine Brüder zu warnen, dass es diesen nicht wie ihm ergehe. Doch Abraham erwidert ihm im letzten Satz des vorzulesenden Textes: "Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht." (v31)

Wie kalt hätten Sies denn gern?
Schornstein, Neukölln, 2016.
Von was würden Menschen sich denn aus ihrem Lebensstil heraus und herumreißen lassen – oder konkret: von was würde ich, von was würdest du dich aus dem schlechten Leben in ein besseres bekehren lassen?

Ich nehme mich also wahr aus der Perspektive eines dieser reichen Brüder: Was erreicht mich so, dass ich mich wirklich von meinem jetzigen Leben abwende und ganz auf Gott ausrichte?

Die Armut der Straße halte ich mir mit didaktisch-sozialstaatlichen Argumenten vom Leib – wenn ich etwas gebe, führt das nur dazu, dass diese Person sich nicht ändert, weil sie mit ihrer Masche Erfolg hat. Und überhaupt: Wer sich zusammenreißt und einigermaßen ins System einfügt, muss in unserem Land nicht auf der Straße leben.

Aber: als informierter Christ und als Theologe weiß ich doch, dass mir Jesus besonders in den Armen und Benachteiligten begegnen will (vgl. Mt 25,40). Als Seelsorger im Gefängnis kenne ich doch typische Lebensläufe und biographische Zwänge, aus denen sich Häftlingspersönlichkeiten oft genug konstituieren. Sogar als humanistisch aufgeklärter Bürger könnte ich die gleiche Würde des Armen als moralischen Aufruf an mich begreifen und mich für seine Sache einsetzen.

Also: Warum reißt es mich nicht herum wie eine Mutter Teresa oder einen Saulus von Tarsus?
Brauche ich etwa mehr von der göttlichen Kraft, um mich aus meinem Lebensgeleise in die Spuren Gottes werfen zu lassen?
Muss erst mein letzter Tag kommen, dass ich etwas ändere?
Muss erst ein naher Angehöriger sterben, damit mir neu klar wird, was jeder Mensch wert ist?
Muss ich erst selbst völlig auf Gottes Barmherzigkeit geworfen sein, bevor ich sie anderen zugestehe?

Vielleicht ist es das, was wir theologisch traditionell als Erbsünde bezeichnen – unsere immer wiederkehrende Blindheit, selbst wenn wir tiefe Gotteserfahrungen hatten oder mit ganzem Willen uns ändern wollten. Der Blick senkt sich immer wieder zurück auf uns selbst und lässt uns sowohl die anderen als auch Gottes Anspruch an uns vergessen – eine innere Verkrümmung in sich selbst statt der Ausrichtung auf Gott und die Welt.

Wir haben die ständige Erinnerung nötig, dass jeder Mensch immer unter Gottes liebendem und werbendem Blick steht. Es ist ein Blick, durch den Gott uns aufrichten will – und den er in Jesus schon der ganzen Welt voller Liebe gezeigt hat. 
 
Braucht es denn noch mehr?
Fast kitschiger Morgeneindruck, Waren / Müritz, 2016.