Das Evangelium des Sonntags (Lk
16,19-31) bietet eine Fülle von Themen: wo der arme Lazarus und der
reiche Mann einander im Leben und im Tod gegenübergestellt werden,
da wird Gottes Leidenschaft für die Armen und seine ausgleichende
himmlische Gerechtigkeit angesprochen, bildhaft werden Vorstellungen
von postmortalem Leben und Leiden illustriert, und die spannende
Frage von einer eventuellen Verantwortung der Toten für die Lebenden
taucht auf.
Von diesem letzten Punkt ausgehend
möchte ich einem Gedanken nachgehen.
Der in Schmerzen leidende ehemalige
Reiche bittet Abraham darum, seine Brüder zu warnen, dass es diesen
nicht wie ihm ergehe. Doch Abraham erwidert ihm im letzten Satz des
vorzulesenden Textes: "Wenn sie auf Mose und die Propheten
nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn
einer von den Toten aufersteht." (v31)
Wie kalt hätten Sies denn gern? Schornstein, Neukölln, 2016. |
Von was würden Menschen sich denn aus
ihrem Lebensstil heraus und herumreißen lassen – oder konkret: von
was würde ich, von was würdest du dich aus dem schlechten Leben in
ein besseres bekehren lassen?
Ich nehme mich also wahr aus der
Perspektive eines dieser reichen Brüder: Was erreicht mich so, dass
ich mich wirklich von meinem jetzigen Leben abwende und ganz auf Gott
ausrichte?
Die Armut der Straße halte ich mir mit
didaktisch-sozialstaatlichen Argumenten vom Leib – wenn ich etwas
gebe, führt das nur dazu, dass diese Person sich nicht ändert, weil
sie mit ihrer Masche Erfolg hat. Und überhaupt: Wer sich
zusammenreißt und einigermaßen ins System einfügt, muss in unserem
Land nicht auf der Straße leben.
Aber: als informierter Christ und als
Theologe weiß ich doch, dass mir Jesus besonders in den Armen und
Benachteiligten begegnen will (vgl. Mt 25,40). Als Seelsorger im
Gefängnis kenne ich doch typische Lebensläufe und biographische
Zwänge, aus denen sich Häftlingspersönlichkeiten oft genug
konstituieren. Sogar als humanistisch aufgeklärter Bürger könnte
ich die gleiche Würde des Armen als moralischen Aufruf an mich
begreifen und mich für seine Sache einsetzen.
Also: Warum reißt es mich nicht herum
wie eine Mutter Teresa oder einen Saulus von Tarsus?
Brauche ich etwa mehr von der
göttlichen Kraft, um mich aus meinem Lebensgeleise in die Spuren
Gottes werfen zu lassen?
Muss erst mein letzter Tag kommen, dass
ich etwas ändere?
Muss erst ein naher Angehöriger
sterben, damit mir neu klar wird, was jeder Mensch wert ist?
Muss ich erst selbst völlig auf Gottes
Barmherzigkeit geworfen sein, bevor ich sie anderen zugestehe?
Vielleicht ist es das, was wir
theologisch traditionell als Erbsünde bezeichnen – unsere immer
wiederkehrende Blindheit, selbst wenn wir tiefe Gotteserfahrungen
hatten oder mit ganzem Willen uns ändern wollten. Der Blick senkt
sich immer wieder zurück auf uns selbst und lässt uns sowohl die
anderen als auch Gottes Anspruch an uns vergessen – eine innere Verkrümmung in sich selbst statt der Ausrichtung auf Gott und die
Welt.
Wir haben die ständige Erinnerung
nötig, dass jeder Mensch immer unter Gottes liebendem und werbendem
Blick steht. Es ist ein Blick, durch den Gott uns aufrichten will –
und den er in Jesus schon der ganzen Welt voller Liebe gezeigt hat.
Braucht es denn noch mehr? Fast kitschiger Morgeneindruck, Waren / Müritz, 2016. |