Samstag, 24. März 2018

Palmsonntag – Memento des Zweifels und der Zwiespältigkeit

Seit Zehntausenden von Jahren sind Menschen religiöse Wesen und suchen nach dem Göttlichen. Die archaischen Religionen verehren es in heiligen Bäumen, an heiligen Bergen, in herausragenden Wetterphänomenen, in den verstorbenen Ahnen, in Tieren und in vielen anderen Dingen.
Glaubt man den Historikern, so finden sich auch in den Ursprüngen der jüdischen Religion Hinweise auf die Entwicklung der Verehrung ihres Gottes als Berg- und Wüstengottheit.
Später findet Israel seinen Gott in der Erfahrung der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft, erlebt ihn als Gesetzgeber und sogar als eifersüchtigen Gott, der alle anderen Religionen vernichtet sehen will.
Davon berichten die Geschichtsbücher des Alten Testaments. Israels Gottesbild ist im Wandel – aber es verfestigt sich immer mehr in eine bestimmte Richtung. Gott ist nur noch unter bestimmten Gegebenheiten zu finden.

Suche nach dem Echten.
Goldspray auf Pappe, Neukölln, Berlin, 2017.
Der Prophet Elija beispielsweise findet Gott nicht in Naturereignissen, wie dem Sturm, dem Feuer oder dem Erdbeben (vgl. 1Kön 19); die Kultstätten auf angeblich heiligen Bergen in Israels Umland werden von den Propheten gegeißelt (vgl. Ez 6); menschengemachte Gottesbilder verspottet:
"Ein Handwerker hat ihnen eine glatte Zunge angefertigt; sie selbst wurden mit Gold und Silber überzogen; doch sind sie Trug und können nicht reden. Wie für ein Mädchen, das Schmuck liebt, nimmt man Gold und fertigt Kronen für die Häupter ihrer Götter. Man schmückt sie auch, die Götter aus Silber, Gold und Holz, mit Gewändern wie Menschen. Diese Götter werden aber nicht vor Rost und Fraß gerettet. Sie sind in Purpurgewänder gehüllt und doch muss man ihnen den Staub aus dem Gesicht wischen, der im Tempel aufwirbelt und sich dick auf sie legt." (Bar 6,7-8.10-11)
Da ist ein Volk, das überzeugt ist, seinen Gott unter bestimmten Bedingungen finden und anrufen zu können – und unter anderen eben nicht. Es grenzt sich von den anderen ab. Das ist einigermaßen nachvollziehbar.

Und nun ist Palmsonntag – da reitet der von seinen Gefolgsleuten als Gottes Gesandter verehrte Rabbi aus Nazareth, Jesus, den sie später den Gesalbten, den Christus nennen werden, auf einem Esel in die Stadt des Tempels, in die Stadt des König, in die heilige Stadt Jerusalem ein.

Das Evangelium, das wir gehört haben, kann unseren Fokus auf die richten, die Jesus damals in Jerusalem zugejubelt haben.
Können die Einwohner Jerusalems in diesem Mann ihren Gott wiederfinden? Jene, die zum Tempel gehen, jene, die die Gesetze und die Geschichte Israels gut kennen, jene, die sich Befreiung von der römischen Besatzung erhoffen, jene, die den Messias Gottes erwarten...?
Es scheint ja so, als wären da ziemlich viele Gläubige.
Aber sind all jene, die dem Reiter zujubeln, überzeugte Anhänger oder doch nur Mitläufer, sind es sich endlich offenbarende Sympathisanten oder nur Spaziergänger, die es plötzlich packt? Wünschen sie sich einen solchen König – einen, der peinlicherweise auf einem Esel in die Stadt einreitet? Überzeugt sie seine Demut, so dass sie jubeln, oder jubeln sie trotz ihrer Zweifel, mitgerissen von den Umstehenden? Täuschen sie sich nicht in dem, den sie da sehen?

Und wir hier, die wir diesen Text heute lesen – sind wir Suchende, Glaubende, Überzeugungstäter oder nur Gelangweilte, die eine Abwechslung suchen?

Der evangelische Theologe Christian Lehnert hat einige kritische Bemerkungen dazu aufgeschrieben. Er beschreibt "die Menge am Straßenrand: in jubelnd-verzückter Erwartung einerseits, im fatalen Irrtum um die wahren Folgen und um die eigene Rolle, in dem, was hier geschieht, andererseits. So grölen biblisch aufgestellte Deppen. Sie haben nichts begriffen ... – und sie verkennen die Wirklichkeit. Wenige Seiten später im Evangelium werden sie sich verwandelt haben zu bösen Fratzen. Man ahnt schon, wie sie im Mob schreien werden: 'Laß ihn kreuzigen!' Der Evangelist läßt die Masse schillern – wie eine Glut im Wind, im Aufleuchten und Zerfallen."1

Und natürlich hat auch diese schillernde Masse mit uns zu tun. So schillernd und zwiespältig wie diese Menge, so schillernd zwiespältig sind auch wir.
Lehnert sieht die Szene vom Einzug Jesu "in eine brisante spirituelle Grundsituation münden, die doch jeder sensible Glaubende kennt: Ich bin, also irre ich. Und das heißt nun auch: Ich irre mich, also kann ich nicht anders als glauben, haltlos glauben, woran auch immer, hoffen auf das fremde Mysterium des Sinns."2

Ganz so haltlos würde ich persönlich unsere menschliche Situation nicht beschreiben, aber es trifft doch einen wichtigen Punkt: wir schwanken und brauchen Halt.
Zweifelhaftes Vergnügen.
Linum, 2018.
Aber nicht immer finden wir guten Halt, ja wir suchen noch nicht einmal immer den festen Halt. Oft genug regiert unsere Unentschiedenheit, Treulosigkeit, Wankelmütigkeit den Alltag.

Wir sind nicht nur die überzeugten Katholiken. Aber auch nicht nur die ablehnenden Atheisten. Nicht nur die, die immer mit den Richtigen mitjubeln. Aber auch nicht immer nur auf Abwegen.
Auch Sie, die Sie hier im Gefängnis und verurteilt sind, sind ja nicht nur Straftäter. Nicht nur auf Böses aus. Auch Sie sind Söhne, Brüder, Väter, gelernte Schlosser oder entschiedene Vegetarier.
Und auch ich selber predige natürlich oft genug Wasser – und trinke heimlich Wein. (Welchen, verrate ich hier nicht!)
Wir sind nicht nur das eine ohne das Andere. Nie nur schwarz ohne weiß. Und nie nur weiß ohne etwas schwarz.

Das ist zunächst einmal entlastend. Ich darf mich irren, muss nicht immer richtig liegen.
Allerdings sollte ich mich auch nicht damit zufrieden geben.

Ich kann mich selbstkritisch fragen:
Mache auch ich mir Götzenbilder, wie sie der Prophet Baruch beschrieben hat – hübsch anzusehende Illusionen, zum Beispiel, was meine Zukunft betrifft oder meine Schuld...?
Suche ich meine Orientierung an Orten, wo Gott sicher nicht zu finden ist? Bei falschen Freunden, im Gefühl eigener Überlegenheit, dort, wo andere niedergemacht werden...?
Hänge ich mein Fähnchen in den Wind und halte mich an den jeweils Stärkeren... ?

Manche Irrtümer kann ich leichter loslassen, andere weniger leicht. Die Irrtümer gehören irgendwie dazu, aber – genau wie Lehnert geschrieben hat – gehört es auch zum Leben dazu, einen festen Halt, einen Sinn suchen.

Als Christen finden wir Sinn in Jesus, den wir als die menschgewordene Liebe Gottes verehren. In ihm – nicht in einem Berg, einem Sturm oder einer Statue – hat Gott sich gezeigt wie er ist: zugewandt, friedlich, nicht auftrumpfend, zugleich aber bestimmt und klar.

Manche Menschen freuen sich über ein solches Gottesbild. Wie leicht ist es zu sagen, dass das ein falscher Gott sei, ein Eselreiter, der vorgibt, mehr zu sein, als er ist.
Manche macht ein solches Gottesbild aggressiv. Vielleicht nicht sofort, sondern erst dann, wenn sie darüber nachdenken. Manche erwarten und suchen vielleicht einen starken, strafenden, Regelbefolgung einfordernden Gott, einen, der zeigt, was er kann. (Und tatsächlich hat Gott auch viele Seiten, viele Gesichter, von denen sich manche im Christentum mehr und manche weniger stark ausprägen.)

Wahrscheinlich waren nicht wenige von denen, die Jesus mit Palmen zujubelten, eigentlich irritiert und buhten ihn ein paar Tage später nieder, forderten seine Kreuzigung und lachten ihn aus, als er sein Kreuz trug.

Wahrscheinlich würde es uns genau so gehen.

Zwiespältig ist die jubelnde Menge, zwiespältig sind wir.
Zwiespältig ist auch der Palmsonntag: Einerseits ist es ein großer Erfolg für Jesus, dass ihm so viele Leute zujubeln. Andererseits ist der Palmsonntag der Auftakt seines Leidens.
Zwiespältig nicht zuletzt auch Jesus, der einerseits wie ein König, andererseits aber auch ganz und gar nicht wie ein Herrscher, in die Stadt einzieht, in der er schließlich sterben wird.


Drei Gedanken also zum Mitnehmen in die Heilige Woche:

1. Was prägt mein Gottesbild? Wo suche ich Gott zuerst?
2. Ich bin niemals nur schwarz oder nur weiß. Ich schwanke und irre und bin sehr grau. Kann ich mir das eingestehen? Und in meinem Zwiespalt Orientierung und Halt suchen?
3. Wie geht es mir mit der Präsentation Jesu als leidendem und demütigem Gottessohn?

Zwiespältig - Altstadt aus dem 20. Jahrhundert.
Warschau, 2015.


1   C. Lehnert, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet. 2. Aufl. Berlin 2017, 184f.


2   Ebd., 186.