Seit Zehntausenden von Jahren sind
Menschen religiöse Wesen und suchen nach dem Göttlichen. Die
archaischen Religionen verehren es in heiligen Bäumen, an heiligen
Bergen, in herausragenden Wetterphänomenen, in den verstorbenen
Ahnen, in Tieren und in vielen anderen Dingen.
Glaubt man den Historikern, so finden
sich auch in den Ursprüngen der jüdischen Religion Hinweise auf die
Entwicklung der Verehrung ihres Gottes als Berg- und Wüstengottheit.
Später findet Israel seinen Gott in
der Erfahrung der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft, erlebt
ihn als Gesetzgeber und sogar als eifersüchtigen Gott, der alle
anderen Religionen vernichtet sehen will.
Davon berichten die Geschichtsbücher
des Alten Testaments. Israels Gottesbild ist im Wandel – aber es
verfestigt sich immer mehr in eine bestimmte Richtung. Gott ist nur
noch unter bestimmten Gegebenheiten zu finden.
Suche nach dem Echten. Goldspray auf Pappe, Neukölln, Berlin, 2017. |
Der Prophet Elija beispielsweise findet
Gott nicht in Naturereignissen, wie dem Sturm, dem Feuer oder dem
Erdbeben (vgl. 1Kön 19); die Kultstätten auf angeblich heiligen
Bergen in Israels Umland werden von den Propheten gegeißelt (vgl. Ez
6); menschengemachte Gottesbilder verspottet:
"Ein
Handwerker hat ihnen eine glatte Zunge angefertigt; sie selbst wurden
mit Gold und Silber überzogen; doch sind sie Trug und können nicht
reden. Wie für ein Mädchen, das Schmuck liebt, nimmt man Gold und
fertigt Kronen für die Häupter ihrer Götter. Man schmückt sie
auch, die Götter aus Silber, Gold und Holz, mit Gewändern wie
Menschen. Diese Götter werden aber nicht vor Rost und Fraß
gerettet. Sie sind in Purpurgewänder gehüllt und doch muss man
ihnen den Staub aus dem Gesicht wischen, der im Tempel aufwirbelt und
sich dick auf sie legt." (Bar 6,7-8.10-11)
Da ist ein Volk, das überzeugt ist,
seinen Gott unter bestimmten Bedingungen finden und anrufen zu können
– und unter anderen eben nicht. Es grenzt sich von den anderen ab.
Das ist einigermaßen nachvollziehbar.
Und nun ist Palmsonntag – da reitet
der von seinen Gefolgsleuten als Gottes Gesandter verehrte Rabbi aus
Nazareth, Jesus, den sie später den Gesalbten, den Christus nennen
werden, auf einem Esel in die Stadt des Tempels, in die Stadt des
König, in die heilige Stadt Jerusalem ein.
Das Evangelium, das wir gehört haben,
kann unseren Fokus auf die richten, die Jesus damals in Jerusalem
zugejubelt haben.
Können die Einwohner Jerusalems in
diesem Mann ihren Gott wiederfinden? Jene, die zum Tempel gehen,
jene, die die Gesetze und die Geschichte Israels gut kennen, jene,
die sich Befreiung von der römischen Besatzung erhoffen, jene, die
den Messias Gottes erwarten...?
Es scheint ja so, als wären da
ziemlich viele Gläubige.
Aber sind all jene, die dem Reiter
zujubeln, überzeugte Anhänger oder doch nur Mitläufer, sind es sich
endlich offenbarende Sympathisanten oder nur Spaziergänger, die es
plötzlich packt? Wünschen sie sich einen solchen König – einen,
der peinlicherweise auf einem Esel in die Stadt einreitet? Überzeugt
sie seine Demut, so dass sie jubeln, oder jubeln sie trotz ihrer
Zweifel, mitgerissen von den Umstehenden? Täuschen sie sich nicht in
dem, den sie da sehen?
Und wir hier, die wir diesen Text heute
lesen – sind wir Suchende, Glaubende, Überzeugungstäter oder nur
Gelangweilte, die eine Abwechslung suchen?
Der evangelische Theologe Christian
Lehnert hat einige kritische Bemerkungen dazu aufgeschrieben. Er
beschreibt "die Menge am Straßenrand: in jubelnd-verzückter Erwartung einerseits, im fatalen Irrtum um die wahren Folgen und um
die eigene Rolle, in dem, was hier geschieht, andererseits. So grölen
biblisch aufgestellte Deppen. Sie haben nichts begriffen ... – und
sie verkennen die Wirklichkeit. Wenige Seiten später im Evangelium
werden sie sich verwandelt haben zu bösen Fratzen. Man ahnt schon,
wie sie im Mob schreien werden: 'Laß ihn kreuzigen!' Der Evangelist
läßt die Masse schillern – wie eine Glut im Wind, im Aufleuchten
und Zerfallen."1
Und natürlich hat auch diese
schillernde Masse mit uns zu tun. So schillernd und zwiespältig wie
diese Menge, so schillernd zwiespältig sind auch wir.
Lehnert sieht die Szene vom Einzug Jesu
"in eine brisante spirituelle Grundsituation münden, die
doch jeder sensible Glaubende kennt: Ich bin, also irre ich. Und das
heißt nun auch: Ich irre mich, also kann ich nicht anders als
glauben, haltlos glauben, woran auch immer, hoffen auf das fremde
Mysterium des Sinns."2
Ganz so haltlos würde ich persönlich
unsere menschliche Situation nicht beschreiben, aber es trifft doch
einen wichtigen Punkt: wir schwanken und brauchen Halt.
Zweifelhaftes Vergnügen. Linum, 2018. |
Aber nicht immer finden wir guten Halt,
ja wir suchen noch nicht einmal immer den festen Halt. Oft genug
regiert unsere Unentschiedenheit, Treulosigkeit, Wankelmütigkeit den
Alltag.
Wir sind nicht nur die überzeugten
Katholiken. Aber auch nicht nur die ablehnenden Atheisten. Nicht nur
die, die immer mit den Richtigen mitjubeln. Aber auch nicht immer nur
auf Abwegen.
Auch Sie, die Sie hier im Gefängnis
und verurteilt sind, sind ja nicht nur Straftäter. Nicht nur auf
Böses aus. Auch Sie sind Söhne, Brüder, Väter, gelernte Schlosser
oder entschiedene Vegetarier.
Und auch ich selber predige natürlich
oft genug Wasser – und trinke heimlich Wein. (Welchen, verrate ich
hier nicht!)
Wir sind nicht nur das eine ohne das
Andere. Nie nur schwarz ohne weiß. Und nie nur weiß ohne etwas
schwarz.
Das ist zunächst einmal entlastend.
Ich darf mich irren, muss nicht immer richtig liegen.
Allerdings sollte ich mich auch nicht
damit zufrieden geben.
Ich kann mich selbstkritisch fragen:
Mache auch ich mir Götzenbilder, wie
sie der Prophet Baruch beschrieben hat – hübsch anzusehende
Illusionen, zum Beispiel, was meine Zukunft betrifft oder meine
Schuld...?
Suche ich meine Orientierung an Orten,
wo Gott sicher nicht zu finden ist? Bei falschen Freunden, im Gefühl
eigener Überlegenheit, dort, wo andere niedergemacht werden...?
Hänge ich mein Fähnchen in den Wind
und halte mich an den jeweils Stärkeren... ?
Manche Irrtümer kann ich leichter
loslassen, andere weniger leicht. Die Irrtümer gehören irgendwie
dazu, aber – genau wie Lehnert geschrieben hat – gehört es auch
zum Leben dazu, einen festen Halt, einen Sinn suchen.
Als Christen finden wir Sinn in Jesus,
den wir als die menschgewordene Liebe Gottes verehren. In ihm –
nicht in einem Berg, einem Sturm oder einer Statue – hat Gott sich
gezeigt wie er ist: zugewandt, friedlich, nicht auftrumpfend,
zugleich aber bestimmt und klar.
Manche Menschen freuen sich über ein
solches Gottesbild. Wie leicht ist es zu sagen, dass das ein falscher Gott sei, ein Eselreiter, der vorgibt, mehr zu sein, als er ist.
Manche macht ein solches Gottesbild aggressiv. Vielleicht nicht sofort, sondern erst dann, wenn sie darüber nachdenken. Manche erwarten und suchen vielleicht einen starken, strafenden, Regelbefolgung einfordernden Gott, einen, der zeigt, was er kann. (Und tatsächlich hat Gott auch viele Seiten, viele Gesichter, von denen sich manche im Christentum mehr und manche weniger stark ausprägen.)
Manche macht ein solches Gottesbild aggressiv. Vielleicht nicht sofort, sondern erst dann, wenn sie darüber nachdenken. Manche erwarten und suchen vielleicht einen starken, strafenden, Regelbefolgung einfordernden Gott, einen, der zeigt, was er kann. (Und tatsächlich hat Gott auch viele Seiten, viele Gesichter, von denen sich manche im Christentum mehr und manche weniger stark ausprägen.)
Wahrscheinlich waren nicht wenige von
denen, die Jesus mit Palmen zujubelten, eigentlich irritiert und
buhten ihn ein paar Tage später nieder, forderten seine Kreuzigung
und lachten ihn aus, als er sein Kreuz trug.
Wahrscheinlich würde es uns genau so
gehen.
Zwiespältig ist die jubelnde Menge,
zwiespältig sind wir.
Zwiespältig ist auch der Palmsonntag:
Einerseits ist es ein großer Erfolg für Jesus, dass ihm so viele
Leute zujubeln. Andererseits ist der Palmsonntag der Auftakt seines
Leidens.
Zwiespältig nicht zuletzt auch Jesus,
der einerseits wie ein König, andererseits aber auch ganz und gar
nicht wie ein Herrscher, in die Stadt einzieht, in der er schließlich
sterben wird.
Drei Gedanken also zum Mitnehmen in die
Heilige Woche:
1. Was prägt mein Gottesbild? Wo suche
ich Gott zuerst?
2. Ich bin niemals nur schwarz oder nur
weiß. Ich schwanke und irre und bin sehr grau. Kann ich mir das
eingestehen? Und in meinem Zwiespalt
Orientierung und Halt suchen?
3. Wie geht es mir mit der Präsentation
Jesu als leidendem und demütigem Gottessohn?
Zwiespältig - Altstadt aus dem 20. Jahrhundert. Warschau, 2015. |
1 C.
Lehnert, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und
Gebet. 2. Aufl. Berlin 2017, 184f.