Dienstag, 27. März 2018

Das Sterben spüren 5 – Sibylle Knauss' "Der Gott der letzten Tage"

Das ist das beste Buch, das ich in den letzten Monaten gelesen habe! Einfach herrlich!

Die Autorin und Theologin Sibylle Knauss lässt einen evangelischen Pfarrer sein eigenes Sterben erleben.
Zuerst ist das Erwachen. Der Pfarrer bezieht die Bausteine des biblischen Glaubens auf seine Erfahrung des langsamen Aufwachens nach der Reanimation. Ist er aus dem Tod erstanden? Ja und Nein, aber auferstanden zurück in sein Leben. Und zugleich doch nicht, denn er ist vollkommen hilf- und bewegungslos. Er liegt in irgendeinem Krankenhauszimmer, ohne Erinnerung an seinen Tod und die Rettung der Medizin. Doch noch mehr irritierende Erfahrungen werden folgen.

Zwischen Himmel und Erde gehängt.
Tempelgarten, Neuruppin, 2017.
Denn von dieser Situation ausgehend horcht das Buch tief in den weitgehend von menschlicher Kommunikation ausgeschlossenen Kranken hinein: In den Körper und den Geist. Und was dabei herauskommt, ist eine einfache und faszinierend schlanke Prosa, die sich spannend und eindringlich dem Erleben des Sterbens nähert.
Da ist das Gefühl, durch Schläuche beatmet und ernährt zu werden, das damit verbundene Ausbleiben des Geschmackssinnes, das ungewollte Abschweifen der Gedanken und das Aufkommen schöner und unschöner Erinnerungen.

Und natürlich die Frage nach Gott und dem Trost des Glaubens: "Er sagte zu sich: Du bist in Gottes Hand. Den Satz, den er tausendmal an Krankenbetten gesprochen hat, wenn darin andere lagen.
Er wartet auf die Wirkung. Sie tritt nicht ein. Du bist in Gottes Hand. Er sollte sich jetzt geborgen, sicher getröstet fühlen. Erspürt nichts dergleichen. Er spürt nur, wie es ihn quält, dass er sich nicht auf den Bauch drehen und sein Kopfkissen umarmen kann
".1
Ist das schon der Sieg des Körpers über den Geist, die Bestätigung des Materialismus? Noch dazu der Pastor auf keine erhebenden Nahtoderlebnisse zurückschauen kann, die mehr metaphysische Sicherheit versprächen.
Dafür entdeckt er in sich einfach den Wunsch, nicht zu sterben – nicht den Wunsch nach ewigem Leben, nicht nach Erlösung, sondern ganz profan den Wunsch nach dem Weiterleben. Er erschrickt angesichts des medizinischen Luxus seines Sterbens. Außerdem verstört ihn die eigene Komplexität. "Er hatte sich das mit sich einfacher vorgestellt. Bachchoralartiger."2
Die Todesnähe birgt also zunächst einmal eine gigantische Ernüchterung.

Allerdings bleibt es natürlich nicht dabei – der Roman wirft am praktischen Beispiel die wesentlichen Fragen auf, wie sich die lebensrettenden Adrenalinspritzen und der Wille Gottes zueinander verhalten, ohne dabei anstrengend thesenlastig zu werden. Die Sicht des Protagonisten ist entscheidend und prägt das Leseerlebnis.

Im Zwiegespräch mit Gott entfalten sich äußerst tiefsinnige und amüsante Dialoge. Gott antwortet einigermaßen verlässlich auf die Fragen des Sterbenden und betont seine unauslöschliche Nähe zu jedem Einzelnen: "Mit an mich Glauben ist es da nicht getan. Sich mit mir abfinden ist schon besser. Denn ihr entgeht mir nicht. Ich bin der Gott der Verlassenen und derer, die verlassen, der Verratenen wie der Verräter, der Belogenen wie der Lügner ..."3
Tiefer als jede Gewissensschicht ist dieser Gott – ein äußerst wohlmeinender, aber auch resolut fordernder Gott.
Zugleich bringt er alles in neue Balancen, die Eifersucht auf die Weiterlebenden relativiert er durch die Erinnerung, dass auch sie demnächst sterben müssen, die Angst vor dem Einschlafen nimmt er, die Unruhen glättet er:
"Gott?
Ich bin da. Ich bin immer da. Ich werde bleiben, bis du eingeschlafen bist.
Das ist gut.
Woran denkst du?
Jesaja 66 Vers 13. Bist du der Gott, der mich tröstet, wie einen seine Mutter tröstet?
Der bin ich. Du kannst jetzt schlafen."4

Das dahinter stehende Gottesbild lässt selbstverständlich Fragen offen – aber, der Ehrlichkeit halber muss man es sagen, welches Gottesbild tut das nicht?!

Wird es rund, dieses Leben?
Stella Maris, Binz, Rügen, 2016.
Durch diese theologischen Dialoge entsteht eine Art zweiter Ebene im Buch, die Lebenserinnerungen, theologische Grundsätzlichkeiten und die Gegenwart im Krankenhaus immer wieder miteinander verbindet.
Realität der Welt und Gottes Realität werden im besten Sinne aufeinander bezogen. Die letzten Tage, in denen der Kontakt mit Gott stetig zunimmt, werden zu einer Art Exerzitien für den Pastor.
Und dieser Gott stellt vor allem Klarheit her.
Auf die Frage, ob er ihn (gegen Ende des Buches) nun zu sich nehme, antwortet er dem Sterbenden:
"Ich nehme dir alles. Deine Gestalt. Dein Antlitz. Deine Ebenbildlichkeit. Deinen Charme, von dem wir sprachen. Deinen Charakter. Dieses Ego, von dem ihr glaubt unzertrennlich zu sein. Dein Wesen. Deine Erinnerungen."5

Die Endgültigkeit und Umfassendheit des Todes ist eindeutig.
Doch was bleibt dann noch vom Menschen?
Gott gibt auch hier eine Antwort.

In allem bleibt die innere Ausrichtung auf Gott das Entscheidende dieses vielleicht nicht idealen, aber dennoch eindrücklichen Sterbens.

Das Buch sei allen theologisch interessierten Menschen innigst ans Herz gelegt.


1   S. Knauss, Der Gott der letzten Tage. Tübingen 2017, 25.
2   Ebd., 122.
3   Ebd., 63.
4   Ebd., 126.

5   Ebd., 136.