"Vier Stunden lang, bis der
Morgen dämmerte, warf sich Selma in ihrem Bett hin und her, vier
Stunden erkannte sie uns nicht und dann doch wieder, und in dem
letzten Moment, in dem sie uns erkannte, nahm sie meine Hand, und ich
legte meinen Finger auf ihr Handgelenk, auf ihren Puls, wie früher.
Selmas Puls ging schnell, die Welt ging schnell, bevor sie gleich
stillstehen würde."1
So stellt sich das Sterben von Selma,
Großmutter der Ich-Erzählerin und eine der tragenden Figuren in
Mariana Lekys Roman, von außen dar.
In ihrem Bett liegt sie, fiebernd, nach
ihrem Sohn verlangend und umgeben von vielen Menschen, die sie
lieben, dabei pendelnd zwischen anwesend und abwesend sein in der sie
umgebenden Welt. So wie Leky es beschreibt, wird das Sterben wohl
häufig von außen wahrgenommen.
Im Inneren der Sterbenden aber, erzählt
Leky, spielt sich noch etwas ganz anderes ab.
Am Waldrand. Rahrbach, 2015. |
Selma, nach deren Träumen von einem
Okapi am Waldrand immer eine Person aus dem Dorf verstorben war,
sieht sich nun wieder am Waldrand stehen:
"Und gerade, als Selma sich
fragte, warum man sie ohne ein Okapi hier hingestellt hatte, kam
jemand zwischen den Bäumen hervor, jemand, der sich durch keinen
einzigen Laut angekündigt hatte, der einfach so aus dem Unterholz
trat. Er kam näher, und als Selma klar wurde, wer das war, rannte
sie auf ihn zu, so schnell sie konnte, und sie wunderte sich kein
bisschen, dass das sehr schnell war, dass sie rennen konnte wie ein
jung gebliebenes Zeitgefühl."
Im Tod begegnet Selma ihrem Jahrzehnte
vor ihr verstorbenen Mann Heinrich, der sie nun, quasi vom Himmel
aus, an der Schwelle begrüßt: "Da bist du ja [...] das
wurde aber auch Zeit."2
Diese Begegnung ist ihr persönlicher
Übergang, ihre ganz eigene Herausforderung. "Sie trat nahe
an Heinrich heran. 'Hilfst du mir?', fragte Selma, die nie um Hilfe
gebeten hatte. 'Hilfst du mir heraus?' ...
Heinrich breitete die Arme aus, und
Selma fiel hinein."3
Da, wo in der christlichen
Vorstellungswelt die Begegnung mit dem liebevollen Gott steht, der
einen Menschen willkommen heißt, dort steht in diesem Roman der
liebende Mensch. Der, der vorausgegangen ist und nun weiß, wie alles
funktioniert, der wartet und annimmt. Etwa so, wie Jesus im
Evangelium davon sprach, dass er einen Platz für die Seinen bereiten
wolle (vgl. Joh 14,3).
(Nebenbei bemerkt: Eine solche
Darstellung ist umso erstaunlicher, als dass die christlichen
Annahmen von über den Tod hinaus konsistenten Person- und
Erfahrungszusammenhängen im völligen Widerspruch stehen zu den
einzigen im Buch ausgeführten religiösen Vorstellungen, nämlich
denen des Buddhismus.)
"Und dann sagte Heinrich das,
was Selma zu mir gesagt hatte, als ich fünf Jahre alt gewesen und zu
hoch auf einen Baum auf der Uhlheck geklettert war. [...] Ich hatte
nicht gewusst, wie ich wieder herunterkommen sollte. Selma hatte sich
auf die Zehenspitzen gestellt, die Arme nach oben gestreckt und mich
festgehalten, während ich noch die Äste des Baumes umklammerte.
'Lass los', hatte sie gesagt, 'ich
hab dich.'"4
Der Mensch kehrt dorthin zurück, wo er
hingehört – nicht auf den Baum, sondern auf die Erde, nicht auf
die Erde, sondern in den Himmel. Ob am gewollten Loslassen nun etwas
hängt oder nicht, muss hier nicht entschieden werden, aber dass die
Haltung des Loslassens eine Offenheit gebiert, die frei macht für
das Neue, ist auch bestes christliches Verständnis.
Ich meinesteils hoffe, dass mich
dereinst Gott rufen – und auffangen wird.
Was den Roman und meinen christlichen Glauben eint, ist die Überzeugung, dass das Sterben und der Übergang aus diesem Leben ein dialogischer Prozess, ein Weg der Liebe und des Freiwerdens ist.
Glanz in der Pfütze - von oben und unten. Kindl-Brauerei, Berlin, 2017. |
1 M.
Leky, Was man von hier aus sehen kann. 2. Aufl. Köln 2017, 278.
2 Ebd.,
279.
3 Ebd.,
280.
4 Ebd.,
280f.