Samstag, 10. März 2018

Das Sterben spüren 3 – Mariana Lekys "Was man von hier aus sehen kann"

"Vier Stunden lang, bis der Morgen dämmerte, warf sich Selma in ihrem Bett hin und her, vier Stunden erkannte sie uns nicht und dann doch wieder, und in dem letzten Moment, in dem sie uns erkannte, nahm sie meine Hand, und ich legte meinen Finger auf ihr Handgelenk, auf ihren Puls, wie früher. Selmas Puls ging schnell, die Welt ging schnell, bevor sie gleich stillstehen würde."1

So stellt sich das Sterben von Selma, Großmutter der Ich-Erzählerin und eine der tragenden Figuren in Mariana Lekys Roman, von außen dar.
In ihrem Bett liegt sie, fiebernd, nach ihrem Sohn verlangend und umgeben von vielen Menschen, die sie lieben, dabei pendelnd zwischen anwesend und abwesend sein in der sie umgebenden Welt. So wie Leky es beschreibt, wird das Sterben wohl häufig von außen wahrgenommen.

Im Inneren der Sterbenden aber, erzählt Leky, spielt sich noch etwas ganz anderes ab.

Am Waldrand.
Rahrbach, 2015.
Selma, nach deren Träumen von einem Okapi am Waldrand immer eine Person aus dem Dorf verstorben war, sieht sich nun wieder am Waldrand stehen:
"Und gerade, als Selma sich fragte, warum man sie ohne ein Okapi hier hingestellt hatte, kam jemand zwischen den Bäumen hervor, jemand, der sich durch keinen einzigen Laut angekündigt hatte, der einfach so aus dem Unterholz trat. Er kam näher, und als Selma klar wurde, wer das war, rannte sie auf ihn zu, so schnell sie konnte, und sie wunderte sich kein bisschen, dass das sehr schnell war, dass sie rennen konnte wie ein jung gebliebenes Zeitgefühl."

Im Tod begegnet Selma ihrem Jahrzehnte vor ihr verstorbenen Mann Heinrich, der sie nun, quasi vom Himmel aus, an der Schwelle begrüßt: "Da bist du ja [...] das wurde aber auch Zeit."2

Diese Begegnung ist ihr persönlicher Übergang, ihre ganz eigene Herausforderung. "Sie trat nahe an Heinrich heran. 'Hilfst du mir?', fragte Selma, die nie um Hilfe gebeten hatte. 'Hilfst du mir heraus?' ...
Heinrich breitete die Arme aus, und Selma fiel hinein."3

Da, wo in der christlichen Vorstellungswelt die Begegnung mit dem liebevollen Gott steht, der einen Menschen willkommen heißt, dort steht in diesem Roman der liebende Mensch. Der, der vorausgegangen ist und nun weiß, wie alles funktioniert, der wartet und annimmt. Etwa so, wie Jesus im Evangelium davon sprach, dass er einen Platz für die Seinen bereiten wolle (vgl. Joh 14,3).

(Nebenbei bemerkt: Eine solche Darstellung ist umso erstaunlicher, als dass die christlichen Annahmen von über den Tod hinaus konsistenten Person- und Erfahrungszusammenhängen im völligen Widerspruch stehen zu den einzigen im Buch ausgeführten religiösen Vorstellungen, nämlich denen des Buddhismus.)

"Und dann sagte Heinrich das, was Selma zu mir gesagt hatte, als ich fünf Jahre alt gewesen und zu hoch auf einen Baum auf der Uhlheck geklettert war. [...] Ich hatte nicht gewusst, wie ich wieder herunterkommen sollte. Selma hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, die Arme nach oben gestreckt und mich festgehalten, während ich noch die Äste des Baumes umklammerte.
'Lass los', hatte sie gesagt, 'ich hab dich.'"4

Der Mensch kehrt dorthin zurück, wo er hingehört – nicht auf den Baum, sondern auf die Erde, nicht auf die Erde, sondern in den Himmel. Ob am gewollten Loslassen nun etwas hängt oder nicht, muss hier nicht entschieden werden, aber dass die Haltung des Loslassens eine Offenheit gebiert, die frei macht für das Neue, ist auch bestes christliches Verständnis.
 
Ich meinesteils hoffe, dass mich dereinst Gott rufen – und auffangen wird.
Was den Roman und meinen christlichen Glauben eint, ist die Überzeugung, dass das Sterben und der Übergang aus diesem Leben ein dialogischer Prozess, ein Weg der Liebe und des Freiwerdens ist.

Glanz in der Pfütze - von oben und unten.
Kindl-Brauerei, Berlin, 2017.


1   M. Leky, Was man von hier aus sehen kann. 2. Aufl. Köln 2017, 278.
2   Ebd., 279.
3   Ebd., 280.
4   Ebd., 280f.