Freitag, 4. September 2015

Apokalyptische Anwandlungen

Die heutige 20-Uhr-Tagesschau sendete vierzehneinhalb Minuten zum Thema Flüchtlinge aus allen möglichen Perspektiven. Darüber hinaus nennenswert war in diesen Nachrichten eigentlich nur der Festakt zum 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß.
Beides zusammen könnte, wenn es nicht so tragisch wäre, Anlass genug für ironische Heiterkeit sein.

Aber ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich dieser Tage die Nachrichten verfolge. Denn die Nachrichten verfolgen mich und ich kann erst recht nicht ruhig bleiben. 

Besser ohne Rauch.
Galerie im Körnerpark, Neukölln, Berlin, 2014.
Wer bewusst wahrnimmt,

wie syrische Flüchtlinge nach ihrer bisherigen Odyssee nun über ungarische Autobahnen gen Westen Richtung Deutschland ziehen,

wie Straßenschlachten zwischen Polizei und Rechtsradikalen in sächsischen Kleinstädten eskalieren,

wie Haß und Angst schreiende Gesichter entstellen und regelmäßig Unterkünfte für Flüchtlinge in Flammen aufgehen,

wie PolitikerInnen immer wieder mit betroffener Miene die Toten oder die Fliehenden beklagen und ihre Politik doch nicht ändern,

wie in einigen deutschen Städten Bürgerinitiativen, Hilfsorganisationen und spontane Freiwillige wegen Überforderung oder Unwilligkeit der zuständigen Stellen staatliche Aufgaben übernehmen,

wie Osteuropas Regierungschefs sich ihrer permanenten Verantwortungslosigkeit bezüglich höherer Aufnahmezahlen nicht schämen,

dem wird vielleicht schwarz vor Augen.

Was mich persönlich in der Pein dieser Bilder aufrecht hält, ist das Wissen darum, dass eine solche Krise beide Extreme, nämlich das äußerst Schlechte und das äußerst Gute aus Menschen hervorlocken kann.
Es gibt neben und in all dem oben Genannten doch so unglaublich viel zivilgesellschaftliche Offenheit und herzliche Mitmenschlichkeit, so viel spontane Gastlichkeit, dass die politisch-strukturellen Defizite fast (!) in den Hintergrund treten könnten.

Die Frage der neuen Heimatlosen berührt viele Menschen tief in ihrem Innersten, in Ängsten und Wut, bei Mitgefühl und der Bereitschaft zur Hingabe.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Ende des Jahres im emotionalen Gehäuse mindestens Deutschlands, wenn nicht vieler Gesellschaften Europas eine Menge Fundamente verschoben sein werden.
Vielleicht wäre es sogar gut, wenn Fragen wie Freiheit, Solidarität und Menschenrechte für alle in Europa und Deutschland neu verhandelt werden. Wenn nicht zu viele Steine aufeinander bleiben, sondern diese scheinbaren Selbstverständlichkeiten mal wieder in Frage stehen.

Natürlich nur, wenn wir den Mut haben, dann freiheitlich, solidarisch, menschenfreundlich und rechtsstaatlich aufzubauen.

Ein fliehendes Pferd? Hohenschönhausen, Berlin, 2015.