Hilde Domin war Flüchtling, als
Flüchtlinge noch Emigranten oder Exilanten hießen. Über Italien
und Großbritannien führte der Weg dieser außergewöhnlich
sprachbegabten Frau aus jüdischem Hause im Jahr 1940 schließlich
nach Santo Domingo, wo sie zu ersten eigenen Texten fand. Aufbruch
und Abschied, Unterwegssein und Suche nach Heimat gehören zu ihren
Themen, auch in den "Liedern zur Ermutigung". Das zweite
Lied1
fängt viele Aspekte aus dem Leben eines Flüchtlings ein:
Brandenburg aus dem Berlin-Warschau-Express. 2015. |
II
Lange wurdest du um die türelosen
Mauern der Stadt gejagt.
Du fliehst und streust
die verwirrten Namen der Dinge
hinter dich.
Vertrauen, dieses schwerste
ABC.
Ich mache ein kleines Zeichen
in die Luft,
unsichtbar,
wo die neue Stadt beginnt,
Jerusalem,
die goldene,
aus Nichts.
Nicht ruhen können und keinen Eingang
finden, damit die Flucht ein Ende haben könnte, obwohl eine Stadt
nahe ist. Doch die umstellt sich mit Mauern und öffnet sie dem
Fliehenden nicht freiwillig. So ist der gezwungen, weiter zu hetzen,
zu suchen ohne Halt zu finden.
So verlieren alle Begriffe ihren Sinn
und manchmal ihren Wert – Ist Gastfreundschaft, ist Asyl, ist
Vertreibung, Not, Mitmenschlichkeit ... noch das Gemeinte? Vielmehr
verheddern wir uns unentwirrbar im Gestrüpp der bürokratisch
missbrauchten und so oft falsch verwendeten Worte, in denen der
Fliehende trotz menschlicher Logik doch keinen Halt findet.
Fuß zu fassen nämlich würde
Offenheit und einen ersten Schritt fordern. Das allein menschliche
Bindung ermöglichende Vertrauen wächst nur dort, wo davon
ein Vorschuss gegeben wird und nicht mit Händen und Füßen alle
Schutzsuchenden abgewehrt werden. Vertrauen ist zu lernen wie eine
Fremdsprache.
Mahnmal mit Davidsstern am Ort der ehemaligen Synagoge. Bad Freienwalde, 2014. |
Das kann beginnen mit einem
Hoffnungszeichen, ein Winken, eine Geste, ein Gruß. Sie kann auf den
Sehnsuchtsort der im babylonischen Exil ausharrenden Juden hinweisen,
auf das fruchtbare Land Israel, auf die Verheißung der königlich
leuchtenden Stadt, der Souveränität. Unerwartet und nicht
vorhersagbar entsteht sie, aus dem Nichts.
Vielleicht beginnt alles mit einem
solchen kleinen Willkommensgruß, der zeigt, dass hier ein Ort der
Mitmenschlichkeit beginnt. Ein Ort des Vertrauens, der Heimat werden
kann.
Denn eine Gesellschaft braucht Orte und
Worte und Gesten, wo gegenseitiges Vertrauen wachsen kann.
1 In:
H. Domin, Rückkehr der Schiffe.Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 60.