Montag, 31. August 2015

Vertrauen lernen - Innenperspektiven eines Fliehenden bei Hilde Domin


Hilde Domin war Flüchtling, als Flüchtlinge noch Emigranten oder Exilanten hießen. Über Italien und Großbritannien führte der Weg dieser außergewöhnlich sprachbegabten Frau aus jüdischem Hause im Jahr 1940 schließlich nach Santo Domingo, wo sie zu ersten eigenen Texten fand. Aufbruch und Abschied, Unterwegssein und Suche nach Heimat gehören zu ihren Themen, auch in den "Liedern zur Ermutigung". Das zweite Lied1 fängt viele Aspekte aus dem Leben eines Flüchtlings ein:

Brandenburg aus dem
Berlin-Warschau-Express. 2015.
II



Lange wurdest du um die türelosen

Mauern der Stadt gejagt.



Du fliehst und streust

die verwirrten Namen der Dinge

hinter dich.



Vertrauen, dieses schwerste

ABC.



Ich mache ein kleines Zeichen

in die Luft,

unsichtbar,

wo die neue Stadt beginnt,

Jerusalem,

die goldene,

aus Nichts.


Nicht ruhen können und keinen Eingang finden, damit die Flucht ein Ende haben könnte, obwohl eine Stadt nahe ist. Doch die umstellt sich mit Mauern und öffnet sie dem Fliehenden nicht freiwillig. So ist der gezwungen, weiter zu hetzen, zu suchen ohne Halt zu finden.

So verlieren alle Begriffe ihren Sinn und manchmal ihren Wert – Ist Gastfreundschaft, ist Asyl, ist Vertreibung, Not, Mitmenschlichkeit ... noch das Gemeinte? Vielmehr verheddern wir uns unentwirrbar im Gestrüpp der bürokratisch missbrauchten und so oft falsch verwendeten Worte, in denen der Fliehende trotz menschlicher Logik doch keinen Halt findet.

Fuß zu fassen nämlich würde Offenheit und einen ersten Schritt fordern. Das allein menschliche Bindung ermöglichende Vertrauen wächst nur dort, wo davon ein Vorschuss gegeben wird und nicht mit Händen und Füßen alle Schutzsuchenden abgewehrt werden. Vertrauen ist zu lernen wie eine Fremdsprache.

Mahnmal mit Davidsstern am Ort der ehemaligen Synagoge.
Bad Freienwalde, 2014.
Das kann beginnen mit einem Hoffnungszeichen, ein Winken, eine Geste, ein Gruß. Sie kann auf den Sehnsuchtsort der im babylonischen Exil ausharrenden Juden hinweisen, auf das fruchtbare Land Israel, auf die Verheißung der königlich leuchtenden Stadt, der Souveränität. Unerwartet und nicht vorhersagbar entsteht sie, aus dem Nichts.

Vielleicht beginnt alles mit einem solchen kleinen Willkommensgruß, der zeigt, dass hier ein Ort der Mitmenschlichkeit beginnt. Ein Ort des Vertrauens, der Heimat werden kann.
Denn eine Gesellschaft braucht Orte und Worte und Gesten, wo gegenseitiges Vertrauen wachsen kann.


1   In: H. Domin, Rückkehr der Schiffe.Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 60.