Das in diesem Jahr neu aufgelegte Buch
„Hunger und Seide“ (Erstauflage 1995) versammelt diese
Texte, in denen sich auch verblüffend aktuelle Beobachtungen zur
Flüchtlingsfrage in Deutschland finden lassen. Zu diesem letzten
Themenkomplex einige Ausschnitte, die ebenso zu heutigen Flüchtlingen
aus Syrien, dem Irak, Zentralafrika oder dem Balkan passen und den
Finger in manche Wunde legen.
1
Zunächst ein grundlegendes Plädoyer
für Individualität und sprachliche Aufmerksamkeit:
Brückenpfeiler. Warschau, 2015. |
„Ausländer,
dieses Wort ist unverblümt. Es ist so neutral und gleichzeitig so
tendenziös wie der Tonfall jeder Stimmer, die es ausspricht. Von
einem Mund zum anderen kann es von einer in die andere Bedeutung
springen. Von einer Absicht
in die andere. Doch selbst in seiner Neutralität steht es über all
jenen, die so genannt werden. Ein Sammelwort
für einzelne, die von anderswoher in dieses Land gekommen sind.
Jeder von ihnen hat in der tausendfachen gleichen Bedrohung oder
Armut seines Staates eine eigene
Geschichte. Seine Biographie ist, wenn er sein Land verlässt, sein
sicherstes und zerbrechlichstes Eigentum. Als Fremder sucht er Ersatz
für das, was sein Staat ihm nie gegeben oder längst genommen hat.“1
Mit Bezug auf die Sportler, die als
„Ausländer“ in fremde Länder reisen, um dort zu spielen, hält
sie fest: „Da wo sie Ausländer sind, herrscht das Privileg. Als
Nummer auf einem Siegerpodium zu stehen ist nicht das Gleiche, wie
als Nummer zu stehen in einem Flüchtlingsregister.“2
Gleiches ließe sich für die vielen
Touristen sagen, die in diesen Tagen beim Badeurlaub auf griechischen
Inseln oder in der Türkei damit konfrontiert werden, dass sich dort,
wo die einen Urlaub machen, für die anderen die Frage nach Leben
oder Tod stellt.
2
Die Registrierung der Flüchtlinge ist
ein behördlicher Akt, der Rechtssicherheit herstellen soll, damit
aber zugleich ein Verdachtsmoment gegen die aus großer Not und unter
schwierigsten Bedingungen eingereiste Person darstellt. Herta Müller
drückt es so aus: „Bei den Behörden muss ein Ausländer als
erstes seine Biographie offenlegen. Statt ihr noch einmal zu
vertrauen und sie zu erzählen, muss er sie offenlegen.
Dies ist das Gegenteil von Erzählen.
Und angesichts der Chance, die ihm damit gegeben oder genommen wird,
ist Offenlegen schon Infragestellen.“3
Die persönlich einschneidendste Frage
nach den Fluchtgründen wird heute wie damals gar nicht wirklich
gestellt – und kann, wie Herta Müller darstellt, auch kein Inhalt
von amtlichen Prozeduren sein, da es eine Frage der Moral ist, die
Menschen bewegt, sich aus ihrer Heimat loszureißen, um in einem
neuen Land heimisch zu werden.
Die schwierige Frage, ob die jeweilige
Leidensgeschichte nach mitmenschlicher Regung und somit nach
Barmherzigkeit verklangt – oder ob es um ein begehrtes Rechtsgut
geht, dürfte für die meisten Flüchtenden müßig sein, solange sie
nicht abgewiesen werden. Aus der Erfahrung von Unrecht oder Armut
oder Krieg aber erwächst intuitiv der Wunsch nach Verständnis für
diese erbärmliche Lage, die doch ein Beamtenherz erweichen muss. Und
doch ist es aus Sicht des Zufluchtslandes ein Recht, das gesucht wird
– und muss es sein, um nicht nach freiem Belieben, sondern
(biblisch gesprochen) ohne Ansehen der Person aufzunehmen oder
abzuweisen.
An unzumutbare Zustände anzupassen ist
die jeweilige Rechtslage, wenn sonst durch sie die Menschenwürde für
die Flüchtlinge nicht gewährleistet werden können.
Beicht-Stuhl. Sanktuarium der Göttlichen Barmherzigkeit, Wilanów, Warschau, 2015. |
Klarsichtig äußert Herta Müller:
„Wer der Bevölkerung heute noch
Zeiten mit weniger Armutsflüchtlingen verspricht, der täuscht
bewusst, weil der Grund für die Flucht, die Armut, nicht
verschwindet. Arme Menschen lassen sich von reichen Ländern nicht
fernhalten. Auch in ihren Herkunftsländern sind Menschen, die nur
klägliches Gerümpel und ihre vor Aussichtslosigkeit und Überdruss
klopfenden Schläfen besitzen, nicht zu Hause. Das Gerümpel hält
sie nicht fest. Und die Aussichtslosigkeit und die klopfenden
Schläfen treiben sie weg.“4
Diese Wahrheit dämmert langsam den
politisch Verantwortlichen auch in der europäischen Union. Nicht
Frontex auf dem Mittelmeer oder Mauern und Zäune in Calais und
Ungarn werden Menschen davon abhalten, nach Europa kommen zu wollen.
3
Auch das scheinbar aktuelle Problem des
erwachenden Hasses auf Flüchtlinge im gesellschaftlichen Mainstream
ist schon ein altes, wenn man diese Zeilen (ursprünglich von 1992)
liest:
„Die Steinewerfer und
Brandstifter, die Menschenjäger aus Hoyerswerda und Rostock sind
nicht Randgruppen. Sie bewegen sich in der Mitte. Sie können sich
nicht nur auf den Applaus am Straßenrand, sondern auch auf die
Zustimmung derer verlassen, die äußerlich nicht als Skinheads zu
erkennen sind. Brave Bürger, die sich die Köpfe nicht kahlscheren,
sondern unauffällig und still, an der persönlichen und öffentlichen
Meinung stricken, die Menschenjagd gesellschaftsfähig macht. Die
Neonazis mit den harten Fäusten sind seit mindestens zwei Jahren die
Vollstrecker einer öffentlichen Meinung. Deshalb flüchten sie
nicht. Sie agieren vor den Kameras der Reporter und toben eine Nacht
nach der anderen am gleichen Ort. Sie haben keinen Grund sich zu
vermummen oder in den Untergrund zu gehen. Sie führen uns
organisierte Kriminalität als Legalität vor. Denn sie fühlen sich
beauftragt von der Gemeinschaft.“5
Gleiches gilt für die dieser Tage
immer wieder auffallende Hetze im Internet, inzwischen auch vermehrt
unter Klarnamen, die für Ausfälligkeit und Enthemmung kein
Hinderungsgrund mehr sind. Eine erschreckende Entwicklung zur
Selbstverständlichkeit des Hasses.
Es scheinen sich mit Blick auf die
zitierten Aussagen die Zeiten nicht so sehr geändert zu haben.
Leider. Um so mehr sollte unser Herz erschrecken, wie Herta Müller
es einem Gedicht von Sarah Kirsch entnimmt, und uns ermutigen zum
couragierten Einstehen für die heutigen Flüchtlinge.
Allein gelassen. Lazienki-Park, Warschau, 2015. |
1 H.
Müller, Hunger und Seide. Essays. München 2015, 19.
2 Ebd.,
20.
3 Ebd.,
24.
4 Ebd.,
51.