Aus Konflikten, Enttäuschungen,
Zweifeln und vielen Begrenztheiten besteht das Leben zu weiten
Teilen. In der großen Politik ebenso wie im Privatleben, im Fußball
wie in der Religionsausübung.
Mit diesen Problemen umzugehen
erfordert charakterliche Reife, die oftmals schmerzhaft erworben
werden muss. Durch die Drangsal hindurch erst lernen wir mit der
Drangsal umzugehen.
Aber wir können uns natürlich
vorbereiten - oder es wenigstens versuchen.
Eine kritische Hilfestellung bietet der
Brief des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Rudyard Kipling an
seinen Sohn von 1910. Seine Aufzählung von Haltungen einer reifen
Persönlichkeit ist weise und immer noch gültig, wenn wir auch
manches anders ausdrücken würden, weniger pathetisch vor allem.
Und natürlich kulminiert die Reihe für
mich nicht in der altertümlichen Männlichkeitsvorstellung „dann
bist du ein Mann“, sondern „dann bist du eine reife
Person“.
Nun aber der Autor und Vater selber:
Hinauf und hinunter. Rutsche, Neukölln, Berlin, 2017. |
„Wenn du den Kopf bewahrst, wenn
alle anderen
Um dich herum ihn verlieren und dir
die Schuld geben;
Wenn du dir vertrauen kannst, wenn
alle an dir zweifeln,
Und ihren Zweifel zugleich ernst
nimmst;
Wenn du warten kannst und darüber
nicht müde wirst,
Angelogen wirst, ohne selbst zu
lügen,
Gehasst wirst, ohne selbst zu
hassen,
Und doch nicht fehlerlos wirkst,
nicht zu klug daherredest;
Wenn du träumen kannst - und die
Träume nicht Macht über dich gewinnen lässt;
Wenn du denken kannst - und die
Gedanken nicht zum Ziel werden;
Wenn du mit Triumph und Katastrophe
umgehen kannst
Und diese beiden Betrüger auch als
solche behandelst;
Wenn du es ertragen kannst, die
Wahrheit, die du ausgesprochen hast, zu vernehmen
Verdreht von Schurken, die damit
Narren in die Falle locken,
Oder mitanzusehen, wie die Dinge,
für die du dein Leben gabst, zerbrechen
Und du bückst dich und baust sie
mühsam wieder auf. ...
Wenn du zur Menge sprechen kannst
und dabei Haltung bewahrst,
Oder mit Königen verkehrst - und
doch den Kontakt zum gemeinen Mann nicht verlierst,
Wenn weder Feinde noch Freunde dich
verletzen können,
Wenn alle Menschen bei dir
Wertschätzung genießen, aber keiner zu viel;
Wenn du die unerbittliche Minute
füllen kannst
Mit sechzig Sekunden, die es wer
sind, gelebt zu werden -
Dann gehört dir die Erde und alles,
was dazugehört,
Und - mehr noch - dann bist du ein
Mann, mein Sohn!“1
Ich finde das wunderbar!
Selbstbewusstsein und Selbstkritik
gehören für ihn ebenso zusammen wie selbstständiges
Denken und der Umgang mit Niederlagen und Verlusten.
Und: Sich selbst entdecken und
innerlich groß werden - dazu gehört unabdingbar die Einsicht in die
jeweils individuellen Versuchungen und Grenzen.
Reife umfasst dieses demütig
unterscheidende Wissen und seine Anwendung in der Praxis.
Nur eines kommt mir bei Kipling leider
zu kurz: die soziale Kompetenz, also das vertrauensvolle Miteinander,
das Eingehen auf differierende Meinungen, Übernehmen von
Verantwortung für jemanden und die engagierte Zuwendung zum
Nächsten.
Nichtsdestotrotz halte ich den Text für
ein starkes Zeugnis eines reifen Lebens. Und in dieser Reife
radikaler als viele unserer angepassten Lebensentwürfe.
Bittere Pointe dieser anrührenden
Worte ist das Schicksal seines Sohnes, der fünf Jahre nach
Niederschrift des Briefes im Ersten Weltkrieg umkam.
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Sowohl den Wald sehen als auch die Bäume. Kiefern, Brandenburg, 2014. |
1 Zit.
n. U. Eco, Die unendliche Liste. München 2009, 276.