Mittwoch, 27. Juni 2018

Radikale Lebensreife. Aus Rudyard Kiplings „Brief an meinen Sohn“

Aus Konflikten, Enttäuschungen, Zweifeln und vielen Begrenztheiten besteht das Leben zu weiten Teilen. In der großen Politik ebenso wie im Privatleben, im Fußball wie in der Religionsausübung. 
Mit diesen Problemen umzugehen erfordert charakterliche Reife, die oftmals schmerzhaft erworben werden muss. Durch die Drangsal hindurch erst lernen wir mit der Drangsal umzugehen. 
Aber wir können uns natürlich vorbereiten - oder es wenigstens versuchen. 

Eine kritische Hilfestellung bietet der Brief des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Rudyard Kipling an seinen Sohn von 1910. Seine Aufzählung von Haltungen einer reifen Persönlichkeit ist weise und immer noch gültig, wenn wir auch manches anders ausdrücken würden, weniger pathetisch vor allem. 

Und natürlich kulminiert die Reihe für mich nicht in der altertümlichen Männlichkeitsvorstellung „dann bist du ein Mann“, sondern „dann bist du eine reife Person“. 

Nun aber der Autor und Vater selber:
Hinauf und hinunter.
Rutsche, Neukölln, Berlin, 2017.

Wenn du den Kopf bewahrst, wenn alle anderen 
Um dich herum ihn verlieren und dir die Schuld geben; 
Wenn du dir vertrauen kannst, wenn alle an dir zweifeln,
Und ihren Zweifel zugleich ernst nimmst;
Wenn du warten kannst und darüber nicht müde wirst, 
Angelogen wirst, ohne selbst zu lügen, 
Gehasst wirst, ohne selbst zu hassen,
Und doch nicht fehlerlos wirkst, nicht zu klug daherredest;

Wenn du träumen kannst - und die Träume nicht Macht über dich gewinnen lässt; 
Wenn du denken kannst - und die Gedanken nicht zum Ziel werden;
Wenn du mit Triumph und Katastrophe umgehen kannst 
Und diese beiden Betrüger auch als solche behandelst;
Wenn du es ertragen kannst, die Wahrheit, die du ausgesprochen hast, zu vernehmen 
Verdreht von Schurken, die damit Narren in die Falle locken,
Oder mitanzusehen, wie die Dinge, für die du dein Leben gabst, zerbrechen 
Und du bückst dich und baust sie mühsam wieder auf. ...

Wenn du zur Menge sprechen kannst und dabei Haltung bewahrst,
Oder mit Königen verkehrst - und doch den Kontakt zum gemeinen Mann nicht verlierst, 
Wenn weder Feinde noch Freunde dich verletzen können, 
Wenn alle Menschen bei dir Wertschätzung genießen, aber keiner zu viel; 
Wenn du die unerbittliche Minute füllen kannst 
Mit sechzig Sekunden, die es wer sind, gelebt zu werden - 
Dann gehört dir die Erde und alles, was dazugehört,
Und - mehr noch - dann bist du ein Mann, mein Sohn!1

Ich finde das wunderbar!

Selbstbewusstsein und Selbstkritik gehören für ihn ebenso zusammen wie selbstständiges Denken und der Umgang mit Niederlagen und Verlusten. 
Und: Sich selbst entdecken und innerlich groß werden - dazu gehört unabdingbar die Einsicht in die jeweils individuellen Versuchungen und Grenzen. 
Reife umfasst dieses demütig unterscheidende Wissen und seine Anwendung in der Praxis. 

Nur eines kommt mir bei Kipling leider zu kurz: die soziale Kompetenz, also das vertrauensvolle Miteinander, das Eingehen auf differierende Meinungen, Übernehmen von Verantwortung für jemanden und die engagierte Zuwendung zum Nächsten. 

Nichtsdestotrotz halte ich den Text für ein starkes Zeugnis eines reifen Lebens. Und in dieser Reife radikaler als viele unserer angepassten Lebensentwürfe. 

Bittere Pointe dieser anrührenden Worte ist das Schicksal seines Sohnes, der fünf Jahre nach Niederschrift des Briefes im Ersten Weltkrieg umkam. 

Sowohl den Wald sehen als auch die Bäume.
Kiefern, Brandenburg, 2014.

1   Zit. n. U. Eco, Die unendliche Liste. München 2009, 276.