Sonntag, 1. Juli 2018

"Mein Herz ist bereit, ich will dir singen und spielen." (Ps 57,8) - Ein Radiobeitrag

Mit folgenden Worten war ich heute morgen im Radio Berlin 88,8 zu hören:

Dämmriges Licht, dunkles Holz des Chorgestühls, Weihrauchschwaden ziehen vorüber – und ein Sonnenstrahl fällt durch das bunte Fenster des hohen gotischen Chores.
Dann stimmt die Schola die Psalmen des Abendlobs an und singt sie im Wechsel mit der Gemeinde. Es ist ein Fest für die Sinne.

Unlängst war ich in Erfurt und habe dort im Dom die samstägliche Vesper mitgefeiert. Es war ein wirklich erhebendes Gefühl, in diesen alten Mauern zu beten und zu singen.

Hohe Gotik.
Eingangsportal der Jakobikirche, Stralsund, 2018.
Ein Zitat aus dem biblischen Psalm 57 hat sich für mich in diesem Augenblick mit Leben gefüllt: "Mein Herz ist bereit, o Gott, ich will dir singen und spielen." Seit Jahrtausenden singen und musizieren Menschen überall auf der Welt, um ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen.

Mir fiel während dieses Gebets auf, dass viele Touristen hereinkamen, von der Atmosphäre der Kirche spürbar angesprochen waren und dem Gebet eine Weile beiwohnten.

Wahrscheinlich geht das in der gerade beginnenden Ferienzeit vielen Urlaubern so: Ob in Paris, Görlitz oder auf Mallorca – in fast allen Orten schauen sich die Besucher auch die kirchlichen Bauwerke an.

Und wenn dort gerade ein Gottesdienst stattfindet, dann verweilen manche kurz. Und gehen dann weiter.

Ich glaube, dass ein solch ungewolltes Hereinplatzen in einen Gottesdienst oder eine Gebetszeit eine gute Chance sein kann, sich überraschen zu lassen und vielleicht sogar sich einzulassen auf das religiöse Geschehen.

Jedenfalls will ich dazu ermutigen, solche Gelegenheiten ungeniert auszuprobieren. Auch wer sonst nicht oder nur an Weihnachten in die Kirche geht, ja sogar wer sich sonst gar nicht mit religiösen Fragen befasst, kann zum Zaungast werden.

Vielleicht ist auch noch mehr drin und Sie können sogar zu einem regelrechten Teilnehmer werden: Also: mitmachen, anstatt nur zuzuschauen. Keiner der Kirchgänger dort weiß, wie fromm oder ungläubig ich bin. Ich muss gar nichts können, wenn ich vom Zuschauer zum Akteur werde.

Denn auch wenn es in der Geschichte der Kirchen manchmal so schien und auch wenn es nach außen hin auch heute noch manchmal so wirkt, dass ein kirchliches Gebet vor allem von "denen da vorne" veranstaltet wird, so stimmt das doch nicht. In der Kirche tragen alle das Gebet.

Es ist wie in der Demokratie, das Ganze lebt vom Mitmachen. Wenn es nur noch die Sache einiger weniger Leute ist, geht der Sinn verloren. Und ausprobieren kann nicht schaden!

Selbst wenn ich von mir nicht sofort sagen kann, dass mein Herz zum Singen und Beten bereit ist, kann ich leise und behutsam mit einstimmen. Auf diese Weise stimmt sich das Herz selbst ein. Indem ich es einfach ausprobiere und mich mittragen lasse.

Dann feiern nicht nur die Sinne in einer schönen Kirche mit, sondern auch das Herz. Auch dafür ist die Urlaubszeit ja da.

Höchste Gotik.
Eingang in St. Nikolai, Stralsund, 2018.