Mittwoch, 11. Juli 2018

Die Kunst des einladenden Strafens. Impulse aus der Benediktsregel

Heute feiert die Kirche den heiligen Benedikt von Nursia, den Mönchsvater des Abendlandes. Er lebte Mitte des 6. Jahrhunderts in Italien und führte das zuvor schon bestehende Ordensleben in der Westkirche unter einer Regel zusammen, die viele Jahrhunderte lang die Vorstellung vom Mönchtum bei uns prägte.

Nun mag man der Meinung sein, das sei alles lang her und betreffe uns, die wir nicht den Wunsch nach klösterlichem Leben haben, gar nicht mehr. Und bei manchen einzelnen Bestimmungen ist das sicher auch der Fall. Aber es gibt einen Geist der Menschenfreundlichkeit, den diese Regel atmet und der auch uns heute durchaus etwas zu sagen hat.

Ich möchte das zeigen an der Art und Weise, wie in der Benediktsregel mit Strafen umgegangen wird, auch weil dies besonders gut zu dem Kontext passt, in dem ich mich gerade häufig bewege (und heute beim Gottesdienst im Gefängniskrankenhaus ein paar Worte diesbezüglich sagen will).

Strafe oder Schutz?
Hinter der Karl-Marx-Allee, Berlin, 2017.
Zunächst, weshalb wurden von Benedikt Bestrafungen in den klösterlichen Gemeinschaften angeordnet?
Da heißt es: "Ist ein Bruder hartnäckig, ungehorsam oder stolz, murrt er, ist er widerspenstig gegen die Regel oder die Befehle seiner Oberen und bekundet er dabei Mißachtung" (RB 23),1 dann soll er bestraft werden.
Es sind also nicht in erster Linie Delikte, die mit einer konkreten materiellen Schädigung Einzelner zu tun haben, sondern es geht, grob gesprochen, um eine egoistische Haltung. Ein Haltung, die sich in einem Verhalten ausdrückt, das der Gemeinschaft nicht gut tut.
An diesem grundsätzlichen Punkt der Gemeinschaftsschädigung trifft sich die Regel des Heiligen durchaus mit heutigen moralischen Ansprüchen einer Gesellschaft an ihre Glieder.

Das erste, was der Obere in einem solchen Fall tun soll, ist, mit dem Mitbruder zu reden – und zwar im Geheimen (so wie auch in Mt 18,15). Falls das nicht reicht, soll er dasselbe noch einmal tun (RB 23). Nicht jeder Fehler muss also sofort an die große Glocke gehängt werden, vielmehr bekommt der Delinquent zunächst die Möglichkeit, sich ohne großes Aufsehen zu bessern.
Denn dies wäre schon die erste Strafe: Wenn das Vergehen öffentlich gemacht wird (selbst wenn das Murren oder der Ungehorsam vielleicht sowieso schon sichtbar waren) und eine Zurechtweisung vor versammelter Mannschaft erfolgt.
Demzufolge ist dies der von Benedikt empfohlene nächste Schritt. Aber auch Schimpfen reicht manchmal nicht, wie uns allen klar ist.

Ist das so, soll der Abt zu einem harten Mittel greifen – dem zeitweisen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Bei leichteren Vergehen soll der Bestrafte nur von den Mahlzeiten, bei schwereren zusätzlich vom gemeinsamen Gottesdienst ausgeschlossen sein (RB 24.25).
Dieser Ausschluss wird in der Regel breiter erklärt, es dürfte sich also um ein öfter angewendetes Mittel gehandelt haben.

Aber die Regel betont: Ausgeschlossen werden soll einer nur, "sofern er den Sinn dieser Strafe versteht." (RB 23)
So kann also festgehalten werden: Es geht nicht um das Strafen um des Strafens willen, sondern darum, dass der Bestrafte begreift, was mit der Strafe gemeint ist. Mitgemeint ist sicher auch: Wenn es auch eine Strafe für ihn ist. Das Leben in Gemeinschaft mit Anderen war für Benedikt augenscheinlich ein so hoher Wert, dass der Entzug dieses Gemeinsamen zur Qual werden konnte.
Das ist leicht nachvollziehbar: Wer sich in einer Gesellschaft, auch in der unseren, nicht mehr integriert und mitgemeint fühlt, sondern ausgeschlossen, der empfindet das nicht selten als Strafe.

Das Ziel dieser Strafe ist für Benedikt aber, dass jemand wieder in die Gemeinschaft zurückkehrt.
Und dafür gibt es ein weiteres Kapitel, in dem sehr ausführliche Hinweise gegeben werden, wie dies geschehen kann:

Heilung möglich.
Jakobikirche, Stralsund, 2018.
"Größte Sorge trage der Abt für fehlende Brüder; denn 'nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken'. Deshalb muß er wie ein kluger Arzt verfahren und alle Heilmittel anwenden. Er soll "Sympäkten" schicken, das heißt ältere, erfahrene Brüder, die den wankenden Bruder ganz unvermerkt trösten, ihn zu demütiger Genugtuung bewegen und ihn aufrichten, damit der nicht durch übermäßige Traurigkeit zur Verzweiflung getrieben werde. Vielmehr soll sich, wie der Apostel ebenfalls sagt, 'die Liebe an ihm bewähren', und alle mögen für ihn beten." (RB 27, zit. werden Mt 9,12; 2Kor 2,8)

Das ist Bestrafung, wie man sie sich wünscht: Alle werden eingespannt zum Ziel der Heilung des Bestraften – durch eine Strafe, die nicht Türen zuschlägt, sondern zur Umkehr einlädt!

Dieser einladende Charakter der Strafe äußert sich in der Aufgabe, offizielle Tröster zu bestellen für den Fall, dass es jemandem während seiner Strafe schlecht geht.
Eine tröstliche Paradoxie: Obwohl der Ausschluss ja gerade das Alleinsein als Sinn hat, soll dieses Alleinsein durch die Tröster durchbrochen werden.

Fern davon, den Übeltäter zu stigmatisieren und über den regelkonformen Ausschluss noch weiter auszugrenzen, sollen alle an der Strafe wachsen und empathischer werden.
Auch wenn dies nicht vermerkt wird, so impliziert die Regel damit, dass das Vergehen und die Art der Bestrafung doch nicht nur mit einem Einzelnen, sondern mit allen zu tun haben.

Anselm Grün hat schon in den 1980ern einen Artikel über die Modellhaftigkeit der benediktinischen Gemeinschaft für christliches Zusammenleben geschrieben und darin festgehalten:

"Ein Zeichen, wie weit eine Gemeinschaft menschlich zusammenlebt, ist ihr Umgang mit den schwachen Mitgliedern, mit den Außenseitern, mit den schwarzen Schafen. Wenn sie ausgestoßen werden, wenn man von ihnen nichts wissen will, zeigt das, daß die Gemeinschaft ihre eigenen Wunden nicht wahrhaben will. Denn die schwachen Glieder haben gerade die Funktion, eine Gemeinschaft auf ihre eigenen Schwächen und Wunden hinzuweisen, ihr ihre Wunden wie einen Spiegel vor Augen zu halten. Und eine Gemeinschaft tut gut daran, in diesen Spiegel zu schauen und ihn nicht als lästig wegzuschieben. Kranke Glieder zeigen immer auch, daß in der Gemeinschaft etwas krank ist."2

Wenn also auch der bestrafte Bruder ein Spiegel der Gemeinschaft ist, muss diese um so mehr ein Interesse daran haben, ihn wieder hereinzuholen.
Denn sie holt einen der ihren heim.
So vergleicht die Regel den Abt schließlich explizit mit dem guten Hirten, der alle Schafe beisammen halten soll, auch jene, die ausreißen oder krank werden oder sonstwie nicht so richtig zum Rest der Herde passen (vgl. Lk 15,1-7). Denn auch und gerade für sie trägt er ja Verantwortung.

Bei aller Verschiedenheit: Wenn ich auf den Gefängnisalltag und die Aufgabe der Resozialisierung schaue, so vermisse ich gerade diese Haltung und diesen Wunsch, die Inhaftierten heimzuholen.
Auch die Haftsituation ist auf einer bestimmten Ebene ja ein Ausschluss vom Rest der Gesellschaft. Und die Gesellschaft will diese ihre "schwachen Glieder" nicht sehen und sich in ihnen spiegeln. Dabei könnte ein Strafen, das wirklich Türen öffnet und Perspektiven auftut, anstatt auszugrenzen, eine hilfreiche Inspiration aus der Benediktsregel sein.

Hirte gesucht.
Körnerpark, Neukölln, Berlin, 2016.


1   Die Regel des heiligen Benedictus. In: H.U.v.. Balthasar (Hg.), Die großen Ordensregeln. Leipzig 1976, 238-333. Hier zitiert als RB (Regula Benedicti) mit der jeweiligen Kapitelnummer.
2   A. Grün, Benediktinische Gemeinschaft - Modell für christliches Zusammenleben. In: GuL 56 (1983), 243-252, 248.