Das heutige Evangelium (Mk 6,1-6) ist
ein Evangelium über Vorurteile, über die Bindung an die Familie und
über die Voraussetzung von Wundern.
Wie wir schon vor ein paar Wochen
gehört haben, versucht Jesus alles, um sich von seiner Familie
abzugrenzen. Er emanzipiert sich radikal. Und doch versuchen jetzt
Leute, die ihn von klein auf kennen, Jesus eben auf seine Familie zu
reduzieren.
Sie können nicht glauben, dass dieser
ihnen schon altbekannte Jesus plötzlich wirklich was Neues zu sagen
hat: „Woher hat er das bloß?“ (v2) Wie kommt er denn auf so etwas,
als Kind war er doch immer normal?! Was will er uns da plötzlich
erzählen? Welche Fähigkeiten bildet er sich da ein? Kann er nicht
einfach ein Zimmermann bleiben und nicht versuchen, jemand anderes zu
sein?
Vorurteil 1: Aller guten Dinge sind drei. Hiddensee, 2018. |
1. Vorurteile
Es ist diese Haltung, die meint, schon
immer genau zu wissen, woran man mit dem Anderen ist, die hier zum
Problem wird.
Das sehen wir derzeit an ganz
unterschiedlichen Stellen des öffentlichen Diskurses:
Da werden Menschen, die vor Krieg und
Terror fliehen, von Politkern, die sich "christlich"
nennen, als "Asyltouristen" bezeichnet – denn man meint
schon ganz genau zu wissen, was die Leute antreibt, wenn sie aus
ihren zerstörten Ländern aufbrechen.
Da wird eine Frau, die bei der
Fußball-WM das Spiel Japan gegen Belgien kommentiert, in übelster
Weise beschimpft und beleidigt. Nicht etwa, weil sie schlecht
kommentieren würde, sondern einfach nur, weil manche Männer meinen,
Frauen könnten das eben nicht.
Da werden katholische Priester, nur
weil sie zölibatär leben, pauschal als sexuelle Neurotiker oder
potenzielle Missbrauchstäter hingestellt – auch hier glauben viele
Leute viel zu schnell, sie wüssten, was die wahren Motive dafür
sind, so zu leben.
Von den Vorurteilen gegenüber
ehemaligen Häftlingen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt ganz zu
schweigen.
Jesus erlebt also das, was viele
Menschen erleben: Durch Vorurteile und schnelle Einordnungen stellt
man jemanden in eine bestimmte Ecke und versucht damit, ihn klein zu
machen und zu halten.
Allerdings muss eingeräumt werden: Es
gibt natürlich auch Situationen, in denen eine kritische Rückmeldung
auf mein Selbstbild von anderen ganz gut ist. Denn nicht jedes Mal,
wenn jemand eine andere Sicht auf mich hat als ich selbst, ist das
auch ein Vorurteil. Sie kennen es: Beamte und Sozialarbeiterinnen
bilden sich aus der Aktenlage mit Ihrer Vorgeschichte und der
Straftat (und normalerweise auch aus den persönlichen Gesprächen)
eine Meinung, mit der Sie konfrontiert werden. Dann müssen Sie sich
entscheiden, ob Sie der Sicht auf sich und Ihr Leben zustimmen können
oder nicht – und ob das etwas mit Ihrer eigenen Sicht auf Sie
macht.
So schreibt die ungarische Philosophin
Ágnes Heller: "Wir müssen uns zwar auch mit den Augen der
anderen sehen, uns aber nicht durch sie bestimmen lassen.
Selbstrespekt bedeutet, dass wir uns respektieren, wie wir sind, und
dass wir uns nicht völlig durch die Augen der anderen sehen. Sieht
man sich allerdings gar nicht mit den Augen der anderen, ist das
Eitelkeit: Dann haben wir immer ein völlig anderes Bild von uns
selbst als die anderen von uns."1
Und genau darauf läuft der fein
differenzierende Umgang mit den Meinungen anderer über uns hinaus:
unterscheiden, inwiefern der Blick des Anderen vielleicht ein
bisschen (oder auch ein bisschen mehr) Wahrheit enthält und
inwiefern ich das vielleicht nicht sehen will oder kann.
2. Familienbande
Zunächst ein Hinweis: Familie ist
wichtig! Gerade hier in Haft ist die Familie für die meisten doch
der einzige wirkliche Anker draußen in der Welt. Aber Familie
ist auch zwiespältig – und nur darauf möchte ich heute hinweisen.
Denn auch in dieser Frage hat Jesus
viele Gemeinsamkeiten mit uns: Obwohl viele Erwachsene möglichst
unabhängig sein möchten von den Bindungen an die Herkunftsfamilie –
auch Jesus will das offensichtlich – und (in vielen Fällen
jedenfalls) niemals so werden wollen wie ihre Eltern, kommen immer
genug Leute mit Vorurteilen, die versuchen, alles nur vor diesem
einen, familiären Hintergrund zu verstehen.
Das ist anstrengend – vor allem dann,
wenn man merkt, dass man tatsächlich vieles von den Eltern
mitschleppt...
Ein Beispiel aus meinem eigenen Leben, in dem es zwar nicht umVorurteile, aber um andere Festlegungen auf die Familie geht:
Mit neunzehn Jahren, direkt nach dem
Abitur, bin ich von zu Hause ausgezogen. Ich habe auswärts studiert,
einige Jahre im Ausland verbracht und bin schließlich in einen Orden
eingetreten mit der Aussicht, sehr wenig Kontakt zu Eltern und
Geschwistern zu haben. Und so war es. Ich habe das nie bereut. Auch
nachdem ich den Orden wieder verlassen hatte, habe ich die Verbindung
zur Familie zwar gehalten, aber nicht über die Maßen.
Ich fühle mich diesbezüglich
einigermaßen unabhängig und frei, ich mache die üblichen Besuche
und freue mich, wenn sie da sind, aber auch, wenn sie wieder weg
sind. Da bin ich ehrlich. Und mit Jesus als Vorbild hält sich auch
mein schlechtes Gewissen in Grenzen.
2. Vorurteil: Mutationen sehen nicht gut aus. Evangelist, Lukas-Kirche, Kreuzberg, Berlin, 2018. |
Aber jetzt kommts: In meiner Familie
gibt es eine genetische Mutation, die von Generation zu Generation
übertragen wird und bestimmte ernste Krankheiten auslöst. Das
heißt: sie kann übertragen werden. Die Chancen stehen 1:1. Durch
eine Blutanalyse kann man herausfinden, ob man Träger des mutierten
Gens ist.
Da stehe ich nun plötzlich, fühle mich zwar unabhängig
und frei, aber ich merke, dass es so einfach nicht ist.
Die Familie werde ich nicht los. Vielleicht schleppe ich etwas mit
mir herum, das mich bald umbringt, das ich an meine Kinder weitergebe
und auch sie schädigen kann.
"Ist das nicht der Zimmermann,
der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und
Simon?" (v3), wurde über Jesus gesagt. Ich habe mich schon
auch gefragt: Bin ich nicht doch meiner Eltern Kind, auch wenn ich
gern mein eigenes Leben lebe? Schleppe ich nicht viel mit mir rum,
das ich nicht abschütteln kann?
Ich habe mich untersuchen lassen und
vorige Woche die Testergebnisse in einem Beratungsgespräch
mitgeteilt bekommen. Ich bin kein Träger der Mutation, welch ein
Glück! Aber diese Phase der Unsicherheit während des Wartens auf
das Ergebnis hat mir noch einmal klar gemacht, dass die Loslösung
von der Herkunftsfamilie nicht einfach so möglich ist.
Das ist die eine Seite (die sich
gewissermaßen auch in den Vorurteilen spiegelt). Aber das Evangelium
zeigt auch die andere Seite: Es besagt, dass wir immer auch die
Chance haben, ganz anders zu sein als unsere familiären Vorgaben
sind und man es von uns erwartet.
Jesus lebt da etwas, was er auch seinen
Jüngern und allen, denen er begegnet, zeigen will: Du kannst auch
ganz anders. Er macht es vor: Ich kann auch ganz anders.
Das ist vielleicht die
herausforderndste Botschaft dieser Lesung: egal, wie stark jemand an
die Familie gebunden ist, so hat er doch immer die Möglichkeit, auch
ganz anders zu sein. Manche Anwesende haben das schon sehr intensiv
ausprobiert und sind deswegen vielleicht hier gelandet (dann kann man
sich ja zurückhalten), andere können noch üben, mal ganz anders zu
sein.
3. Keine Wunder
Zu guter Letzt: Jesus konnte keine
Wunder tun, weil diejenigen, die ihn schon zu kennen meinten, ihn
ablehnten und nicht an ihn glaubten.
Das ist erstaunlich!
Ist Jesus nicht Gottes allmächtiger
Sohn auf Erden?
Nein, auch das ist ein Vorurteil.
Denn hier zeigt sich: Jesu Kraft ist
eine Beziehungskraft und seine Wunder sind nicht irgendwelche
Zaubereien, sondern basieren auf der Beziehung zu ihm.
Wenn Jesus zu Menschen sagt, dass sie
auch ganz anders können, und sie dazu befähigt, indem er sie heilt
oder aufrichtet oder neu losschickt – dann ist das ein Wunder.
Ganz allgemein kann man darum sagen:
Vorurteile und Unglaube schwächen das Leben, nehmen die Kraft der Beziehung
nicht ernst und wirken damit als Wunderblocker.
Wir können es selbst erleben:
Vorurteile blockieren offenes Aufeinanderzugehen, blockieren
Austausch und Gastfreundschaft.
Das Gegenstück dazu ist Vertrauen.
Dazu lädt uns das heutige Evangelium auch ein. Nicht mit einer
fertigen Meinung loszugehen, sondern uns überraschen zu lassen. Von
Gott, von seiner Kirche, von einem Gottesdienst, aber auch von
unserer Familie und unseren Nachbarn und nicht zuletzt von uns
selbst.
Dann können wir Wunder erleben.
Zusammenfassend also diese drei
Denkanstöße aus dem Evangelium:
- Welcher Blick von außen auf mich ist ein Vorurteil, das ich ablehne und gegen das ich anleben möchte – und welcher Blick hat vielleicht Recht, so dass ich etwas daraus mitnehmen kann?
- Wo bin ich besonders gebunden durch meine Herkunftsfamilie (sei es sozial, psychisch, finanziell, genetisch...) – und wo sehe ich Chancen, ganz anders, ganz neu zu sein?
- Wo kann ich der Kraft von Beziehungen noch mehr zum Duchbruch verhelfen und Wunder zulassen?
Beziehungskraft. Baumpilz bei Köpenick, Berlin, 2016. |
1 Á.
Heller, Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für
Menschliches und Unmenschliches. Wien / Hamburg 2014, 155.