Samstag, 21. Juli 2018

Einfach wegfahren. Bodo Kirchhoffs Kreuzfahrt und die Flüchtlingsboote

Das ist der Wunsch, der sich mit Urlaub verbindet: einfach nur mal wegfahren und allein sein, seine Ruhe haben und aus den Zwängen der Arbeit herauszukommen.
Jesus und seine Jünger versuchen dasselbe im Evangelium des heutigen Sonntags (Mk 6,30-34), als sie ein Boot besteigen und an einen anderen Ort fahren.
Aber sie entkommen der Mühle nicht.
Denn irgendjemand kriegt raus, wo sie sind, und schon kommen die Leute ihnen hinterher.

Auch das ist eine Erfahrung des Urlaubs – wir werden den Alltag nicht so leicht los.
Und uns selbst noch viel weniger.

Zwei Assoziationen zum Text.
Überfahrt mit Blick auf das Herkommen.
Fähre nach Hiddensee, 2018
1
Mir fällt in diesem Zusammenhang das nette Büchlein über die "Einladung zu einer Kreuzfahrt" von Bodo Kirchhoff ein, das im letzten Jahr erschien.1 Darin reflektiert das Autoren-Ich in Form einer Mail an die Kulturbeauftragte einer Reederei über die positiven und negativen Gründe, als lesender Schriftsteller und "Sprachlieferant" an einer Kreuzfahrt teilzunehmen.
Neben den hohntriefenden Anmerkungen über die absurden Bedingungen, die dem Autor gestellt werden – von der nahegelegten zuvorkommenden Kontaktpflege mit den zahlenden Gästen (wobei der Kontakt nicht intim werden darf!) bis zum Verbot, entschieden moralische oder gar unmoralische Äußerungen zu machen –, lässt sich der Angefragte auch über die mutmaßlichen Reisenden aus.
Ihnen unterstellt er großspurige Kleingeisterei, die sie durch die Fahrt über das Meer glauben, verdecken zu können. Er sieht darin eine Verwechslung ihrer eigenen Begrenztheit mit den Freiheitsgefühlen eines Urlaubs, weil sie, wie er spöttisch orakelt, "die Weite des Himmels beim Sonnenuntergang für die eigene halten."2
Sich selbst sieht er stattdessen als freien Geist, der eine Art hilfreiche Unruhe an Bord herstellen könnte. Denn, so seine Warnung, des Schriftstellers "Geist ist gestört von innerem Chaos, vermag sich aber störungsfrei auszudrücken; er ist ein Sprachmonster".3

Bei aller sprachfertigen Betonung der Unterschiede: Zahlende Passagiere und eingeladener Schriftsteller gleichen sich allerdings darin, dass sie sich selbst durch diese Reise nicht entfliehen können.

2
Der Themenkomplex Flucht, Boot und der Wunsch, anderswo mal ganz anders zu sein, bestimmen auch meinen zweiten Gedanken zum Text des Sonntags – und dieser Gedanke ist ganz kurz.

Es ist beschämend und empörend, wie sich die EU seit dem 24. Juni in der Flüchtlingsfrage verhält. Nachdem in Malta nun Lebensrettern der Prozess gemacht wird und die Kriminalisierung freiwilliger ziviler Rettungsmissionen in vollem Gang ist, hat sich die EU nun entschlossen, auf Druck Italiens (und angesichts des unsolidarischen Verhaltens anderer EU-Staaten) die eigene Rettungsmission "Sophia" auf den Prüfstand zu stellen.
Die oftmals havarierten und dehydrierten Flüchtlinge werden nun augenscheinlich weder auf offene Aufnahmehäfen noch auf private oder staatliche Rettungsschiffe hoffen dürfen. Man mag das als widersprüchlich empfinden, aber ich habe den Eindruck, dass es nur konsequenter Ausdruck der politischen Großwetterlage ist.
Keine Perspektiven auf einen Ausweg mehr: Unmenschlicher geht es wohl kaum!

3
Beide Assoziationen verdienen wohl kaum den Namen frohe Botschaft.
Auch in der Evangelienlesung versteckt diese sich erst im letzten Abschnitt, aber wenigstens dort. Da heißt es: "er hatte Mitleid mit ihnen" (v34).
Mitleid bedeutet dann wohl: Wir können uns von uns selbst loslösen und mit Ihm neue Fahrt ausnehmen. Und wir finden bei ihm einen offenen Hafen, eine Rettung nach langer Irrfahrt.

Blick ins Offene.
Dornbusch, Hiddensee, 2018.

1   B. Kirchhoff, Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt. Frankfurt a.M. 2017.
2   Ebd., 30.
3   Ebd., 46f.