"Seelsorge" ist
kein geschützter Begriff.
Aktuell spüre ich das als
beauftragter Gefängnisseelsorger im Kontakt mit einer
freikirchlichen Gruppe, die in der JVA Plötzensee, in der ich tätig
bin, als externe Anbieter eine Gesprächsgruppe und Einzelgespräche
anbietet. Es führt unter Inhaftierten und Beamten augenscheinlich zu
Verwirrung, wenn nun weitere "Seelsorger" aus diesem Kreis
auftauchen, die allerdings nicht über ein Büro verfügen und auch
bezüglich des beauftragten Seelsorgern zugesicherten
Zeugnisverweigerungsrechts bzw. beim Seelsorgegeheimnis einen
schwierigeren Stand haben.
Nichtsdestotrotz können
sie sicher kompetente Seelsorgsarbeit leisten und Menschen in engeren
Kontakt mit Gott führen, mithin legitim "Seelsorger" im
christlichen Sinne sein.
Ich bin in diesem Fall
allerdings für eine umsichtige Aufklärung, damit keine
tiefergehenden Missverständnisse und Irritationen entstehen, wer nun
welchen Status als Seelsorger hat – mit allen damit jeweils
verbundenen Rechten und Pflichten.
Genauso geht es mir beim
Ehebegriff im Kontext der staatlicherseits ermöglichten "Ehe"
für alle. Auch hier halte ich die Begriffswahl nicht für hilfreich
und mit dem christlichen Ehebegriff selbstverständlich für nicht
vereinbar.
Allerdings gibt es auch
Situationen, in denen es gut ist, gerade keine vereindeutigenden
Festlegungen vorzunehmen. Vielmehr bin ich, besonders inspiriert
durch die Lektüre des (hier auch schon erwähnten) Buches "Die
Vereindeutigung der Welt" von Thomas Bauer, der Meinung,
dass Religion gerade als Ambiguitätspraxis einen besonderen
Wert hat.
Und das trotz meiner
eingangs formulierten Wunsch nach klärenden Definitionen. Auch auf
der Metaebene findet sich also keine einfache Eindeutigkeit, sondern
Ambiguität!
Das halte ich nicht für
einen Widerspruch, sondern um das Offenhalten von Möglichkeiten und
die Freiheit des Eingehens auf konkrete Sachverhalte.
Blick ins Offene. Bahnhof Naumburg, 2017. |
Einige Beispiele:
Im Christentum sorgt schon
der Kanon der Heiligen Schrift dafür, dass es nicht nur eine
"eindeutige" Perspektive auf Jesus als den Christus gibt,
sondern eine Vielfalt der Deutungen in Briefen, Geschichten und
tradierten Selbstzeugnissen unumgänglich ist.
So muss auch der Versuch
von Evangelienharmonien, in denen versucht wurde, nur einen Blick auf
Jesus zuzulassen, als langfristig gescheitert angesehen werden (wenn
man von Kinderbibeln absieht...).
Bei anderen Themen findet
sich in den Schriften des Kanons ebenfalls keine eindeutige
Perspektive:
- Es gibt Schriftstellen, die eher kultaffin (wie die Gesetze zum Thema Opfer in Dtn 12) und Schriftstellen, die eher kultkritisch (wie die Frage nach dem Fasten und dem Sabbat in Lk 5,33-6,11) sind – und solche, die dazwischen schillern (wie der gesamte Hebräerbrief oder die Offenbarung des Johannes mit der kultischen Anbetung Gottes in Off 4 einerseits und der Vision des neuen Jerusalem ohne Tempel in Off 21,22 andererseits);
- es gibt harte Abgrenzungen von anderen Religionen (wie die Zerstörung des Baal-Altars durch Gideon in Ri 6,25ff) und sanfte Annäherungen an sie (wie bei Jesu Begegnung mit dem römischen Hauptmann in Lk 7,1ff);
- es gibt die eindeutige Abkehr von der Gewalt (wie das Wort von der rechten Wange in Lk 5,39 oder das Schwertwort in Mt 26,52) und es gibt die Nähe zur Gewalt (wie das Wort von Feuer und Unfrieden durch Jesus in Lk 12,49ff).
Auch zu Vergeltung und
Vergebung, zu Toleranz und der Einschätzung weltlicher Herrschaft
wird man sehr vielfältige und alles andere als eindeutige Aussagen
in der Bibel finden.
Diese Ambiguität wächst
als ein Urwald der Mehrdeutigkeiten durch die ganze
Kirchengeschichte.
Erst kürzlich hat der
Kirchenhistoriker Hubert Wolf eine sehr wohltuende historische Sicht
auf die Ehetheologie dargelegt. Er zählt darin verschiedene
nichtcodifizierte kirchliche Rechtsquellen (vorrangig aus der Alten
Kirche) zum Thema Ehe auf – inklusive verschiedener Antworten auf
die Frage, ob eine Ehe aus Sicht katholischer Theologie geschieden
werden kann oder nicht.
"So beschäftigt
sich ein Fall mit der Möglichkeit der Wiederheirat eines Mannes, der
seine Ehefrau wegen Ehebruchs oder Unfruchtbarkeit verstoßen hat.
Hier führt Gratian [er fasste im 12. Jahrhundert kirchenrechtliche
Quellen zusammen; R.P.] zunächst eine ganze Reihe von Belegstellen
an, die von einer prinzipiellen Unauflöslichkeit der Ehe ausgehen.
Augustinus, Hieronymus und die Synode von Elvira im Jahr 306
bestanden darauf, dass auch Ehebruch das sakramentale Band nicht zu
trennen vermag. Dem steht der Satz aus der Bergpredigt im
Matthäusevangelium entgegen: 'Wer seine Frau entlässt, obwohl kein
Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus' (Matthäus
5,32). Das bedeutet im Umkehrschluss: Im Fall von Unzucht ist eine
Scheidung möglich – und damit auch eine Wiederverheiratung.
Gratian zitiert aber
auch aus einem Brief Gregors II. an Bonifatius aus dem Jahr 726: Wenn
eine Frau aufgrund einer körperlichen Erkrankung ihrer ehelichen
Pflicht nicht mehr nachkommen kann, darf sich der Mann von ihr
scheiden lassen und kirchlich wieder heiraten. Und die Synode von
Compiègne hatte bestimmt, dass eine kirchliche Scheidung und
Wiederheirat eines Mannes dann möglich sein sollte, wenn die Ehefrau
Ehebruch mit einem Verwandten ihres Mannes begangen hatte. Hier lässt
Gratian die divergierenden Belegstellen kirchlicher Autoritäten
einfach nebeneinander stehen und versucht gar nicht erst, sie in eine
Harmonie zu bringen, was auch kaum möglich gewesen wäre."1
Nun kann man einwenden,
dass inzwischen ja alles definiert, geklärt und festgelegt ist.
Aber wie herrlich
unideologisch ist doch eine solche Sicht (von der patriarchalen
Grundmisere einmal abgesehen)! Und wie sehr erschwert das
Codifizieren und Definieren die Möglichkeit, auf bestimmte
Einzelsituationen barmherzig und angemessen zu reagieren!
Fundamentalismen könnten
unter der Vorgabe einer solchen Weite, wie Wolf sie in den Diskurs
einbringt, eigentlich nicht entstehen. Aber gerade das Anerkennen und
Zulassen dieser Weite ist ja leider die größte Herausforderung.
Wer sich die
konfessionalistische Kirchengeschichte mit ihren Zerrbildern von den
protestantischen "Häretikern" oder den katholischen
"Papisten" anschaut, weiß, dass der Lernbedarf lange Zeit
sehr groß war, bis beide Seiten zu einer differenzierten Sicht mit
positiven und negativen Aspekten von einander kommen konnten.
Geschlossen!? Mellingen, 2014. |
Ein solcher Schritt aber
kann Kirchenkritikern wie dem inzwischen verstorbenen Karlheinz
Deschner nicht gelingen – für ihn war die Mehrdeutigkeit
bestimmter Aussagen in der Kirchengeschichte nur ein Versagen vor der
Logik des Entweder-Oder. Wo Schrift und Tradition schon in sich zu
widersprüchlichen Aussagen kommen, sind sie in dieser Sicht schon
dadurch delegitimiert.
Hier trifft sich der
Fundamentalkritiker mit den fundamentalistisch angehauchten
Traditionalisten: nur eine Sicht darf die richtige sein.
Ein Dorn im Auge
traditionalistischer Kritiker ist dementsprechend auch das Zweite
Vatikanische Konzil in seiner Sicht auf die Kirche. Denn im Versuch,
die erneuerte Theologie von der Kirche mit dem Bewahren der Tradition
dieser Theologie zusammenzudenken, werden viele aussagen
nebeneinander gestellt, die widersprüchlich erscheinen.
Das prominenteste Beispiel
ist die Kirchenkonstitution "Lumen Gentium", die
kollegiale und primatiale Aspekte von Kirche ineinander verschränkt.
Da steht also die bischöfliche Synodalität in deutlicher Spannung
zum dogmatisch festgeschriebenen (und ausdrücklich bewahrten) Satz
vom Universalprimat des Papstes – und trotzdem nebeneinander. Aber
wie die konkrete Leitung der Kirche nach dieser Stärkung der
Stellung der Bischöfe bei gleichzeitiger Beibehaltung aller Aussagen
zum Papstamt aussieht, bleibt mehrdeutig und hängt vom jeweiligen
Papst ab.
Es ist eine Frage der
Interpretation!
In deutlichem Unterschied
zu seinen Vorgängern macht Papst Franziskus die Synodalität immer
wieder zum Maßstab der Kirche: "Die Welt, in der wir leben
und die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu lieben und ihr zu dienen
wir berufen sind, verlangt von der Kirche eine Steigerung ihres
Zusammenwirkens in allen Bereichen ihrer Sendung.
Genau dieser Weg der
Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten
Jahrtausends erwartet. Was der Herr von uns verlangt, ist in gewisser
Weise schon im Wort „Synode“ enthalten. Gemeinsam voranzugehen –
Laien, Hirten und der Bischof von Rom –, ist ein Konzept, das sich
leicht in Worte fassen lässt, aber nicht so leicht umzusetzen ist."2
Mit solchen Aussagen
entsteht eine paradoxe Situation: Aus eigener Machtvollkommenheit
beschränkt dieser Papst seine Macht zugunsten der Synodalität –
uneindeutig bleibt danach, was er selbst (und seine Nachfolger)
anschließend noch an Macht in Anspruch nehmen können.
Daneben nimmt Franziskus
auch die "Widersprüchlichkeit" der Welt und damit
sogar diese extreme Art von Uneindeutigkeit so positiv auf, wie es
wahrscheinlich noch nie in päpstlichen Verlautbarungen geschah.
Zuletzt noch ein Gedanke
zur vermeintlich klaren Frage der religiösen Zugehörigkeit:
Natürlich begründet die Taufe das Christsein im eigentlichen Sinne.
Es gibt aber eine Reihe von Sympathisanten Jesu und der christlichen Lehre,
von Mohammed über Gandhi bis zu Simone Weil, die keine Christen
geworden sind – und doch von Christen (in gewissen Grenzen) für ihr Zeugnis gelebter
Christlichkeit ohne christliches Bekenntnis gewürdigt werden können.
Wenn nicht der Zwang zur
Eindeutigkeit gerade in dieser Frage so groß wäre – aber
vielleicht braucht man die klärende Definierung hier auch mehr
(siehe eingangs erwähnte Beispiele). Das wäre zu unterscheiden.
Innerchristlich aber wird
es noch etwas komplizierter: Die Voraussetzungen für den Empfang der
Sakramente aus katholischer Sicht wurden für gemischtkonfessionelle Paare gerade breit diskutiert – eine schwere Notlage oder
Lebensgefahr gehören laut can 844 des gültigen Kirchenrechts dazu.
Trotzdem hat Frére Roger, der Gründer von Taizé, bei den Beisetzungsfeierlichkeiten
für Papst Johannes Paul II. 2005 aus der Hand des damaligen Kardinal
Ratzinger die Kommunion empfangen – und betont zugleich, dass er
seinen Weg als calvinistisch aufgewachsener Christ darin sah, sich
"mit dem Geheimnis
des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu
brechen." (Zitat hier)
Keine Konversion also und kein
Stehenbleiben nur in der eigenen Konfession – so deutet er es.
Auch hier: Es herrscht Uneindeutigkeit
in Verbindung mit einer weit ausladenden Großzügigkeit.
Daran können wir uns schulen, im
Anleben gegen Extremismus und Verflachung zugleich, als Vorbilder
gelebter Ambiguitätspraxis auch für Menschen außerhalb der
Kirchenmauern.
Denn all diese Offenheit auf
Mehrdeutigkeit hin findet sich schon in Geschichte und Gegenwart des
Christlichen.
Parklandschaft. Schöneberg, Berlin, 2017. |
1 H.
Wolf, Seid doch nicht so streng! In: Christ & Welt, Nr. 28, 05.
Juli 2018, 5.
2 Papst Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode. In: Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute. Texte zur Bischofssynode 2015 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz. Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz 276. Bonn 2015, 25.
2 Papst Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode. In: Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute. Texte zur Bischofssynode 2015 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz. Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz 276. Bonn 2015, 25.