Donnerstag, 19. Juli 2018

Kanon, Kult und Kirchenrecht. Zum Thema Religion als Ambiguitätspraxis

"Seelsorge" ist kein geschützter Begriff.
Aktuell spüre ich das als beauftragter Gefängnisseelsorger im Kontakt mit einer freikirchlichen Gruppe, die in der JVA Plötzensee, in der ich tätig bin, als externe Anbieter eine Gesprächsgruppe und Einzelgespräche anbietet. Es führt unter Inhaftierten und Beamten augenscheinlich zu Verwirrung, wenn nun weitere "Seelsorger" aus diesem Kreis auftauchen, die allerdings nicht über ein Büro verfügen und auch bezüglich des beauftragten Seelsorgern zugesicherten Zeugnisverweigerungsrechts bzw. beim Seelsorgegeheimnis einen schwierigeren Stand haben.
Nichtsdestotrotz können sie sicher kompetente Seelsorgsarbeit leisten und Menschen in engeren Kontakt mit Gott führen, mithin legitim "Seelsorger" im christlichen Sinne sein.
Ich bin in diesem Fall allerdings für eine umsichtige Aufklärung, damit keine tiefergehenden Missverständnisse und Irritationen entstehen, wer nun welchen Status als Seelsorger hat – mit allen damit jeweils verbundenen Rechten und Pflichten.
Genauso geht es mir beim Ehebegriff im Kontext der staatlicherseits ermöglichten "Ehe" für alle. Auch hier halte ich die Begriffswahl nicht für hilfreich und mit dem christlichen Ehebegriff selbstverständlich für nicht vereinbar.

Allerdings gibt es auch Situationen, in denen es gut ist, gerade keine vereindeutigenden Festlegungen vorzunehmen. Vielmehr bin ich, besonders inspiriert durch die Lektüre des (hier auch schon erwähnten) Buches "Die Vereindeutigung der Welt" von Thomas Bauer, der Meinung, dass Religion gerade als Ambiguitätspraxis einen besonderen Wert hat.

Und das trotz meiner eingangs formulierten Wunsch nach klärenden Definitionen. Auch auf der Metaebene findet sich also keine einfache Eindeutigkeit, sondern Ambiguität!
Das halte ich nicht für einen Widerspruch, sondern um das Offenhalten von Möglichkeiten und die Freiheit des Eingehens auf konkrete Sachverhalte.

Blick ins Offene.
Bahnhof Naumburg, 2017.
Einige Beispiele:
Im Christentum sorgt schon der Kanon der Heiligen Schrift dafür, dass es nicht nur eine "eindeutige" Perspektive auf Jesus als den Christus gibt, sondern eine Vielfalt der Deutungen in Briefen, Geschichten und tradierten Selbstzeugnissen unumgänglich ist.
So muss auch der Versuch von Evangelienharmonien, in denen versucht wurde, nur einen Blick auf Jesus zuzulassen, als langfristig gescheitert angesehen werden (wenn man von Kinderbibeln absieht...).

Bei anderen Themen findet sich in den Schriften des Kanons ebenfalls keine eindeutige Perspektive:
  • Es gibt Schriftstellen, die eher kultaffin (wie die Gesetze zum Thema Opfer in Dtn 12) und Schriftstellen, die eher kultkritisch (wie die Frage nach dem Fasten und dem Sabbat in Lk 5,33-6,11) sind – und solche, die dazwischen schillern (wie der gesamte Hebräerbrief oder die Offenbarung des Johannes mit der kultischen Anbetung Gottes in Off 4 einerseits und der Vision des neuen Jerusalem ohne Tempel in Off 21,22 andererseits);
  • es gibt harte Abgrenzungen von anderen Religionen (wie die Zerstörung des Baal-Altars durch Gideon in Ri 6,25ff) und sanfte Annäherungen an sie (wie bei Jesu Begegnung mit dem römischen Hauptmann in Lk 7,1ff);
  • es gibt die eindeutige Abkehr von der Gewalt (wie das Wort von der rechten Wange in Lk 5,39 oder das Schwertwort in Mt 26,52) und es gibt die Nähe zur Gewalt (wie das Wort von Feuer und Unfrieden durch Jesus in Lk 12,49ff).

Auch zu Vergeltung und Vergebung, zu Toleranz und der Einschätzung weltlicher Herrschaft wird man sehr vielfältige und alles andere als eindeutige Aussagen in der Bibel finden.

Diese Ambiguität wächst als ein Urwald der Mehrdeutigkeiten durch die ganze Kirchengeschichte.
Erst kürzlich hat der Kirchenhistoriker Hubert Wolf eine sehr wohltuende historische Sicht auf die Ehetheologie dargelegt. Er zählt darin verschiedene nichtcodifizierte kirchliche Rechtsquellen (vorrangig aus der Alten Kirche) zum Thema Ehe auf – inklusive verschiedener Antworten auf die Frage, ob eine Ehe aus Sicht katholischer Theologie geschieden werden kann oder nicht.

"So beschäftigt sich ein Fall mit der Möglichkeit der Wiederheirat eines Mannes, der seine Ehefrau wegen Ehebruchs oder Unfruchtbarkeit verstoßen hat. Hier führt Gratian [er fasste im 12. Jahrhundert kirchenrechtliche Quellen zusammen; R.P.] zunächst eine ganze Reihe von Belegstellen an, die von einer prinzipiellen Unauflöslichkeit der Ehe ausgehen. Augustinus, Hieronymus und die Synode von Elvira im Jahr 306 bestanden darauf, dass auch Ehebruch das sakramentale Band nicht zu trennen vermag. Dem steht der Satz aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium entgegen: 'Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus' (Matthäus 5,32). Das bedeutet im Umkehrschluss: Im Fall von Unzucht ist eine Scheidung möglich – und damit auch eine Wiederverheiratung.
Gratian zitiert aber auch aus einem Brief Gregors II. an Bonifatius aus dem Jahr 726: Wenn eine Frau aufgrund einer körperlichen Erkrankung ihrer ehelichen Pflicht nicht mehr nachkommen kann, darf sich der Mann von ihr scheiden lassen und kirchlich wieder heiraten. Und die Synode von Compiègne hatte bestimmt, dass eine kirchliche Scheidung und Wiederheirat eines Mannes dann möglich sein sollte, wenn die Ehefrau Ehebruch mit einem Verwandten ihres Mannes begangen hatte. Hier lässt Gratian die divergierenden Belegstellen kirchlicher Autoritäten einfach nebeneinander stehen und versucht gar nicht erst, sie in eine Harmonie zu bringen, was auch kaum möglich gewesen wäre."1

Nun kann man einwenden, dass inzwischen ja alles definiert, geklärt und festgelegt ist.
Aber wie herrlich unideologisch ist doch eine solche Sicht (von der patriarchalen Grundmisere einmal abgesehen)! Und wie sehr erschwert das Codifizieren und Definieren die Möglichkeit, auf bestimmte Einzelsituationen barmherzig und angemessen zu reagieren!
Fundamentalismen könnten unter der Vorgabe einer solchen Weite, wie Wolf sie in den Diskurs einbringt, eigentlich nicht entstehen. Aber gerade das Anerkennen und Zulassen dieser Weite ist ja leider die größte Herausforderung.

Wer sich die konfessionalistische Kirchengeschichte mit ihren Zerrbildern von den protestantischen "Häretikern" oder den katholischen "Papisten" anschaut, weiß, dass der Lernbedarf lange Zeit sehr groß war, bis beide Seiten zu einer differenzierten Sicht mit positiven und negativen Aspekten von einander kommen konnten.

Geschlossen!?
Mellingen, 2014.
Ein solcher Schritt aber kann Kirchenkritikern wie dem inzwischen verstorbenen Karlheinz Deschner nicht gelingen – für ihn war die Mehrdeutigkeit bestimmter Aussagen in der Kirchengeschichte nur ein Versagen vor der Logik des Entweder-Oder. Wo Schrift und Tradition schon in sich zu widersprüchlichen Aussagen kommen, sind sie in dieser Sicht schon dadurch delegitimiert.
Hier trifft sich der Fundamentalkritiker mit den fundamentalistisch angehauchten Traditionalisten: nur eine Sicht darf die richtige sein.

Ein Dorn im Auge traditionalistischer Kritiker ist dementsprechend auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Sicht auf die Kirche. Denn im Versuch, die erneuerte Theologie von der Kirche mit dem Bewahren der Tradition dieser Theologie zusammenzudenken, werden viele aussagen nebeneinander gestellt, die widersprüchlich erscheinen.
Das prominenteste Beispiel ist die Kirchenkonstitution "Lumen Gentium", die kollegiale und primatiale Aspekte von Kirche ineinander verschränkt. Da steht also die bischöfliche Synodalität in deutlicher Spannung zum dogmatisch festgeschriebenen (und ausdrücklich bewahrten) Satz vom Universalprimat des Papstes – und trotzdem nebeneinander. Aber wie die konkrete Leitung der Kirche nach dieser Stärkung der Stellung der Bischöfe bei gleichzeitiger Beibehaltung aller Aussagen zum Papstamt aussieht, bleibt mehrdeutig und hängt vom jeweiligen Papst ab.
Es ist eine Frage der Interpretation!

In deutlichem Unterschied zu seinen Vorgängern macht Papst Franziskus die Synodalität immer wieder zum Maßstab der Kirche: "Die Welt, in der wir leben und die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu lieben und ihr zu dienen wir berufen sind, verlangt von der Kirche eine Steigerung ihres Zusammenwirkens in allen Bereichen ihrer Sendung.
Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet. Was der Herr von uns verlangt, ist in gewisser Weise schon im Wort „Synode“ enthalten. Gemeinsam voranzugehen – Laien, Hirten und der Bischof von Rom –, ist ein Konzept, das sich leicht in Worte fassen lässt, aber nicht so leicht umzusetzen ist."2
Mit solchen Aussagen entsteht eine paradoxe Situation: Aus eigener Machtvollkommenheit beschränkt dieser Papst seine Macht zugunsten der Synodalität – uneindeutig bleibt danach, was er selbst (und seine Nachfolger) anschließend noch an Macht in Anspruch nehmen können.
Daneben nimmt Franziskus auch die "Widersprüchlichkeit" der Welt und damit sogar diese extreme Art von Uneindeutigkeit so positiv auf, wie es wahrscheinlich noch nie in päpstlichen Verlautbarungen geschah.

Zuletzt noch ein Gedanke zur vermeintlich klaren Frage der religiösen Zugehörigkeit: Natürlich begründet die Taufe das Christsein im eigentlichen Sinne. Es gibt aber eine Reihe von Sympathisanten Jesu und der christlichen Lehre, von Mohammed über Gandhi bis zu Simone Weil, die keine Christen geworden sind – und doch von Christen (in gewissen Grenzen) für ihr Zeugnis gelebter Christlichkeit ohne christliches Bekenntnis gewürdigt werden können.
Wenn nicht der Zwang zur Eindeutigkeit gerade in dieser Frage so groß wäre – aber vielleicht braucht man die klärende Definierung hier auch mehr (siehe eingangs erwähnte Beispiele). Das wäre zu unterscheiden.
Innerchristlich aber wird es noch etwas komplizierter: Die Voraussetzungen für den Empfang der Sakramente aus katholischer Sicht wurden für gemischtkonfessionelle Paare gerade breit diskutiert – eine schwere Notlage oder Lebensgefahr gehören laut can 844 des gültigen Kirchenrechts dazu.
Trotzdem hat Frére Roger, der Gründer von Taizé, bei den Beisetzungsfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II. 2005 aus der Hand des damaligen Kardinal Ratzinger die Kommunion empfangen – und betont zugleich, dass er seinen Weg als calvinistisch aufgewachsener Christ darin sah, sich "mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu brechen." (Zitat hier)
Keine Konversion also und kein Stehenbleiben nur in der eigenen Konfession – so deutet er es.
Auch hier: Es herrscht Uneindeutigkeit in Verbindung mit einer weit ausladenden Großzügigkeit.

Daran können wir uns schulen, im Anleben gegen Extremismus und Verflachung zugleich, als Vorbilder gelebter Ambiguitätspraxis auch für Menschen außerhalb der Kirchenmauern.
Denn all diese Offenheit auf Mehrdeutigkeit hin findet sich schon in Geschichte und Gegenwart des Christlichen.

Parklandschaft.
Schöneberg, Berlin, 2017.


1   H. Wolf, Seid doch nicht so streng! In: Christ & Welt, Nr. 28, 05. Juli 2018, 5.
2
   Papst Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode. In: Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute. Texte zur Bischofssynode 2015 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz. Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz 276. Bonn 2015, 25.