Entgegen landläufiger Meinung ist
Heiligkeit keine menschliche Leistung, sondern ein Anteil an der
Heiligkeit dessen, der allein heilig ist. Es ist ein Abglanz von
Gottes Heiligkeit.
Nach katholischem Verständnis gehören
zu den als Heiligen verehrten Menschen insbesondere jene, die Jesus
zu seinen Lebzeiten berufen und in besonderer Weise gesandt hat, also
die Apostel, jene, die ihr Leben für Christus gegeben haben, also
die Märtyrer, jene, "die Christi Jungfräulichkeit und Armut
entschiedener nachgeahmt haben"1
und damit ein heiligmäßig vorbildliches Leben führten. Deshalb
müssen für eine Heiligsprechung Erhebungen "über das
Leben, über die Tugenden oder das Martyrium und den Ruf der
Heiligkeit bzw. des Martyriums, über behauptete Wunder sowie
gegebenenfalls über eine althergebrachte Verehrung"2
angestellt werden.
Im Hintergrund steht die Überzeugung,
dass Gottes Geist sich im Leben dieser Menschen besonders sichtbar
geworden ist, in ihrem Leben, sagt das Konzil, "zeigt
Gott den Menschen in lebendiger Weise seine Gegenwart und sein
Antlitz."3
Strahlen vor verschlossenen Türen. Neukölln, Berlin, 2016. |
Nun kann das aber durchaus auch bei
Menschen der Fall sein, die keine Christen sind. Gottes Geist weht
auch in ihnen, nur werden sie nicht als Heilige verehrt.
Wenn ich das schreibe, habe ich gerade
Simone Weil vor Augen. Sie, geboren 1909 in eine jüdische Familie
und aufgewachsen ohne religiöse Bildung oder Bindung, hat sich im
Laufe ihres 34jährigen Lebens immer stärker der Religion und
speziell dem Christentum angenähert – ohne allerdings um die Taufe
zu bitten.
Und dies mit Absicht, denn sie sah sich
von Gott dazu berufen, "auf der Schwelle der Kirche, ohne
mich zu rühren, unbeweglich"4
zu verharren. Ihre Position in der geistigen Welt sah sie dort, wo
sie schon stand, "an jenem Schnittpunkt des Christentums mit
allem, was es nicht ist."5
Sie bewunderte die Liturgie und genoss die Teilnahme an der Messe,
sie sprach über lange Zeit hinweg vielfach täglich das Vaterunser
und stand in regem Kontakt mit diversen geistlichen Begleitern,
Ordensleuten, katholischen Eheleuten. Und doch schreibt sie von sich,
trotz all dieser Nähe und "im Licht des inneren Glanzes, der
nach der Messe in der Seele zurückbleibt, so habe ich doch niemals
auch nur ein einziges Mal, und sei es nur eine Sekunde lang, das
Gefühl gehabt, daß Gott mich in der Kirche will."6
Der Ausgangspunkt des bemerkenswerten
Weges dieser bemerkenswerten Frau ist die Sehnsucht nach
Gerechtigkeit und Solidarität mit den Arbeitern. Als Lehrerin und
Philosophin arbeitet sie in der Fabrik und in den Weinbergen, um das
Leben der Arbeiter und Bauern zu kennen und zu teilen. Ihr Herz
schlägt für den Frieden und sie ist eifrige Pazifistin, was sie
aber im Ernstfall nicht hinderte, im Spanischen Bürgerkrieg und im
Zweiten Weltkrieg aktiv Partei zu ergreifen für die von ihr als
gerecht erkannte Sache. Sie sucht immerfort die Armut, die Reinheit,
die Wahrheit. Dafür überschreitet sie die Grenzen zwischen Männern
und Frauen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen dem ihr
durch Familienbande zugewiesenen Judentum und den Christen. Spät
erst liest sie mystische Schriften der Weltreligionen und fand ihre
eigenen Erfahrungen darin wieder.
Pforte der Barmherzigkeit heute geschlossen. St. Paulus, Moabit, Berlin, 2016. |
Ihre Suche nach Wahrheit war stärker
als der Wunsch nach persönlichem Wohlergehen – und in all dem
schließlich wurde aus ihr eine Mystikerin, die in der Aufmerksamkeit
für die einzelnen, die unterdrückten und marginalisierten Ränder
der Welt Gott selbst fand.
Und sie fand die Wahrheit dieses Gottes
in der Botschaft Jesu.
Doch, und damit komme ich zu einem
entscheidenden Punkt, sie konnte sich nicht entscheiden, dieser
Kirche beizutreten, zum Teil aus den oben beschriebenen
grundsätzlichen Erwägungen, zum Teil aber auch, weil sie in der
Kirche ihrer Zeit eine totalitäre Institution sah, die außerhalb
ihrer Grenzen die Wahrheit Gottes nur sehr schwer erkennen konnte.
Sie schreibt von der Verhinderung des
vollständigen "Inkarnation des Christentums": "Dies
ist der Gebrauch der beiden kleinen Wörter anathema sit. ... Ich
bleibe auf seiten aller Dinge die nicht in die Kirche eintreten
können, die in die Kirche, dieses universale Haus der Aufnahme,
keine Aufnahme finden können, auf Grund dieser beiden kleinen
Wörter."7
Eine Person, die an Christus glaubt,
die Christus nachfolgt in der Kenosis, in der Solidarität mit den
Ausgegrenzten, in der Liebe zur Wahrheit, in der Armut, im Einsatz
für den Frieden. Eine Person, die das Vaterunser so lange spricht,
"bis ich ein Mal eine völlig reine Aufmerksamkeit erreicht
habe".8
Eine solche Person, die viele ihrer
Zeitgenossen für eine Heilige hielten, eine verrückte Heilige
vielleicht, eine mit Ecken und Kanten, mit Maßlosigkeiten und
Einseitigkeiten, aber welcher Heilige hatte die nicht...?
Und eine solche Person steht außerhalb
der Gemeinschaft der Kirche.
Sie ist keine von all den Heiligen, die
verehrt werden.
Ich finde es traurig, dass in unserer
Welt, in unserer Kirche, diese Art von Gemeinschaft auf Erden nicht
bestehen, nicht wachsen kann. Dass durch unsere Schuld Menschen am Leben mit der Kirche und oft genug am Leben mit Gott gehindert werden. Dass wir als Kirche manche Heiligen
lieber draußen stehen lassen, auch wenn in ihrem Leben das Leben
Gottes sichtbar wird.
Oder wird Gottes Leben gerade darum
sichtbar, weil solche Heiligen vor den Toren stehen, wie Christus,
der vor den Toren der Stadt starb...?
Vor den Mauern der Kirche. St. Peter und Paul, Marburg, 2015. |
1 Lumen
Gentium 50. In: K. Rahner, H. Vorgrimler (Hgg.), Kleines
Konzilskompendium. 28. Aufl. Freiburg i.Br., Basel, Wien 2000.
2 Johannes
Paul II., Apostolische Konstitution "Divinus Perfectionis
Magister" über die Durchführung von Kanonisationsverfahren.
Vatikan 1983. Quelle:
https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_constitutions/documents/hf_jp-ii_apc_25011983_divinus-perfectionis-magister.html.
Aktualisiert in "Sanctorum Mater" von 2007, das sich in
diesen Fragen durchgehend auf das obige Dokument bezieht:
http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/csaints/documents/rc_con_csaints_doc_20070517_sanctorum-mater_en.html.
3 Lumen
Gentium 50. In: a.a.O.
4 Brief
an Pater Perrin, im Mai 1942. In: Simone Weil, Zeugnis für das
Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. (Hg. v. F. Kemp) München
1990, 99.
5 Ebd.
6 Ebd.,
98.
7 Ebd.,
100.
8 Ebd.,
95.