Montag, 7. November 2016

"Wohl denen, die großherzig sind" - Neue Seligpreisungen nach Avraham Ben Yitzhak

Dieser Tage hat Papst Franziskus in Schweden eine aktualisierte Fortschreibung der Seligpreisungen angeboten, die ich sehr ansprechend finde und die es wert wäre, hier besprochen zu werden. Ich möchte an dieser Stelle aber nur darauf hinweisen (hier) und den Anlass lieber nutzen, um eine ältere Reformulierung der Seligpreisungen vorzustellen, die von dem bereits erwähnten galizischen Autor Avraham Ben Yitzhak stammt.
Die folgenden, 1930 in Wien geschriebenen Zeilen stellen die letzte Gedichtveröffentlichung des Dichters dar.

Wohl denen, die säen und nicht ernten1

Wohl denen, die säen und nicht ernten
denn sie werden weit gehen.

Wohl denen, die großherzig sind, die Herrlichkeit ihrer Jugend
vermehrte das Licht der Tage und ihr Strahlen
und sie legten ihren Schmuck ab an der Wegkreuzung.

Wohl den Hochmütigen, deren Hochmut die Grenzen ihrer Seele überschritt
und wurde zur Bescheidenheit des Weiß
nachdem der Regenbogen sich in die Wolke erhob.

Wohl den Wissenden, deren Herz aus der Wüste ruft
und auf ihren Lippen blüht die Stille.

Wohl ihnen, denn sie werden aufgenommen ins Herz der Welt
gehüllt in den Mantel des Vergessens
und Opfer wird ihr Gesetz sein, ohne Rede.

Wohl denen, die eine Leiter haben. Alt-Buchhorst, 2016.

Mit ihrer pathetischen und zugleich biblisch gesättigten Sprache lädt das Gedicht zur längeren Betrachtung ein, denn nicht immer erschließen sich die Bilder augenblicklich.

Drei kurze Gedanken meinerseits:

1. Die ersten beiden Seligpreisungen erinnern mich an Jesu originale Seligpreisungen in der Bergpredigt (Mt 5,3-12) – wer nicht für sich schafft und rafft und an sich reißt und dabei Gewalt anwendet, der wird hier wie dort selig gepriesen. Das hat zu tun mit der Großherzigkeit, die die Anderen im Blick behält. (Worauf übrigens auch die Formulierungen von Papst Franziskus besonders hinweisen – und was unser hiesiger Autor nur ganz entfernt mitschwingen lässt.)
Wer nun also das Schmückende ablegt und auch keine reiche Ernte (des Lebens? der Arbeit?) mit sich nimmt, scheint durch die innere Armut und Freigiebigkeit so frei zu sein, dass er weit kommt.

Wohl den dennoch Aufragenden.
Lübbenau, 2015.
2. Zum Widerspruch reizt zunächst die Seligpreisung der Hochmütigen – doch wird hier die Veränderung der solchermaßen Beschriebenen gleich mit benannt: wer die eigenen Grenzen zu überwinden fähig ist, erreicht wahre Bescheidenheit. Mit der Ausgangssituation des Hochmuts zusammengelesen sind hier augenscheinlich Menschen gemeint, die große Fähigkeiten haben und um sie wissen und dennoch wieder auf den Boden kommen. Der Bogen als Zeichen des Bundes und die Wolke als Metapher der Gegenwart Gottes gelesen wären dann Hinweis darauf, dass die Hochmütigen durch die Erfahrung von Gottes Nähe zu einer demütigen Haltung gelangt sind. Vielleicht klingt im Hintergrund die Erfahrung von jüdischen Torah-Studierenden mit, die nach langem (charakterlich nicht immer förderlichen) Studium der Schriften den Überschritt in die Mystik finden.

3. Dazu würde auch passen die letzte, zusammenfassende Formulierung von der doppelten Aussicht, im "Mantel des Vergessens" aufgenommen zu werden "ins Herz der Welt". Möglicherweise ein Anklang an die mystischen Formulierungen der Gottesnähe ohne inneren Kontakt zum Davor und Danach. Der zusätzliche Hinweis, dass es "ohne Rede" geschehe, also in der Tat und nicht im Wort, erinnert an die Formulierung des Ignatius aus dem Exerzitienbuch, dass "die Liebe [...] mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden"2 solle.
Daneben stehen das Aufgenommenwerden und Eingehülltsein – Erfahrungen der Passivität.
Beides gehört zusammen, und beides steht zwar in Spannung, aber nicht im Gegensatz.

Auch wenn Gott in den Zeilen nicht explizit benannt wird, so vibriert doch seine Verwandlungskraft in meiner Lesart immer mit.
Denn er selbst ist ja das "Herz der Welt", die von innen blühende Stille, die Überschreitung aller Grenzen und die Herrlichkeit in einem großen Herzen.

Wohl den Beschienenen. Schranktüren, 2014.


1   Avraham Ben Yitzhak, Es entfernten sich die Dinge. Gedichte und Fragmente. München, Wien 1994, 32.


2   Ignatius v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978, No. 230.